Die Reise ans Ende der Welt (eBook)
240 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-41523-1 (ISBN)
Henning Mankell, geboren 1948 in Härjedalen, war einer der großen schwedischen Gegenwartsautoren, von Lesern rund um die Welt geschätzt. Sein Werk wurde in über vierzig Sprachen übersetzt, es umfasst etwa vierzig Romane und zahlreiche Theaterstücke. Nicht nur sein Werk, sondern auch sein persönliches Engagement stand im Zeichen der Solidarität. Henning Mankell lebte abwechselnd in Schweden und Mosambik, wo er künstlerischer Leiter des Teatro Avenida in Maputo war. Er starb am 5. Oktober 2015 in Göteborg. Seine Taschenbücher erscheinen bei dtv.
Henning Mankell, geboren 1948 in Härjedalen, war einer der großen schwedischen Gegenwartsautoren, von Lesern rund um die Welt geschätzt. Sein Werk wurde in über vierzig Sprachen übersetzt, es umfasst etwa vierzig Romane und zahlreiche Theaterstücke. Nicht nur sein Werk, sondern auch sein persönliches Engagement stand im Zeichen der Solidarität. Henning Mankell lebte abwechselnd in Schweden und Mosambik, wo er künstlerischer Leiter des Teatro Avenida in Maputo war. Er starb am 5. Oktober 2015 in Göteborg. Seine Taschenbücher erscheinen bei dtv.
1
Joel war mit seinem Fahrrad an der Steigung vorm Pfarrhof, als die Kette absprang. Er war so überrascht, dass er aus dem Gleichgewicht kam. Er kriegte das Rad nicht mehr unter Kontrolle und fuhr geradewegs in die Hecke vom Pferdehändler. Mit dem Kopf voran landete er in den Johannisbeerbüschen. Er holte sich einen Ratscher auf der Wange und bekam einen blauen Flecken auf dem linken Knie. Aber stehen und gehen und sein Fahrrad aufrichten konnte er noch. In der Hecke war ein großes Loch. Da der Pferdehändler ziemlich wütend werden konnte, machte sich Joel schnell davon.
Es war ein Nachmittag Mitte Mai. Immer noch gab es Schneereste entlang der Hauswände und in den Gräben. Frühlingswärme war noch nicht da. Aber jeden Tag, wenn die Schule aus war, fuhr Joel auf seinem Fahrrad im Ort herum. Er war unruhig und rastlos. Was würde passieren, dann, wenn er nicht mehr zur Schule musste?
Einige Tage später, nachdem er vom Fluss mit dem kochenden Wasser geträumt hatte, fragte er Samuel. Er hatte sich gut vorbereitet. Normalerweise aßen sie nur sonntags Kotelett und Bratkartoffeln. Aber da es kein Gericht gab, das Samuel lieber aß, hatte Joel Bratkartoffeln und Kotelett gemacht, obwohl es Dienstag war. Er wusste, der beste Moment, eine wichtige Frage mit Samuel zu besprechen, war der Augenblick, wenn Samuel mit Essen fertig war und den Teller wegschob.
Es war so weit. Samuel legte die Gabel weg, wischte sich den Mund ab und schob den Teller zur Seite.
»Wir müssen uns entscheiden«, sagte Joel.
Obgleich er den Stimmbruch schon hinter sich hatte, konnte es passieren, dass seine Stimme ins Kieksen geriet. Jetzt sprach er absichtlich langsam, damit sie so tief wie möglich klang.
Samuel war meistens müde nach dem Essen. Aus kleinen Augen sah er Joel an.
»Was müssen wir entscheiden?«, fragte er.
Er scheint guter Laune zu sein, dachte Joel. Das war er nicht immer. Manchmal war Samuel grantig und dann wusste Joel, dass es sinnlos war, etwas Wichtiges mit ihm besprechen zu wollen.
»Was machen wir, wenn ich aus der Schule komme?«
Samuel lächelte. »Wie fallen deine Zensuren aus?«
Joel mochte es nicht, wenn Samuel ihm antwortete, indem er eine Gegenfrage stellte. Den Fehler machten viele Erwachsene. Aber er hatte sich vorbereitet. Für Samuel waren die Zensuren immer wichtig.
»Sie werden besser als im Herbst«, antwortete Joel. »In Geografie gehöre ich zu den drei Besten.«
Samuel nickte.
»Wann ziehen wir um?«, fragte Joel. Die Frage hatte er Samuel mindestens schon tausend Mal gestellt. Während all der Jahre, Wochen, fast jeden Tag. Immer dieselbe Frage.
»Wann ziehen wir um?«
Samuel schaute auf die blaue Wachstuchtischdecke. Joel hielt es für das Beste weiterzureden.
»Du bist kein Waldarbeiter«, sagte er. »Du bist Seemann. Wenn ich nicht mehr zur Schule muss, brauchen wir nicht mehr hier zu bleiben. Dann können wir weggehen. Wir können auf demselben Schiff anmustern. Ich bin jetzt fünfzehn. Dann kann ich auch Seemann werden.«
Er wartete auf die Antwort.
Aber Samuel starrte weiter auf die Tischdecke. Schließlich erhob er sich wortlos und stellte Kaffeewasser auf. Eine Antwort würde er nicht bekommen, das war Joel jetzt klar. Er wurde plötzlich wütend.
Da hatte er sich angestrengt und ein Sonntagsessen zubereitet, obwohl es Dienstag war, und Samuel konnte ihm immer noch keine vernünftige Antwort geben.
Eigentlich müsste er jetzt fluchen und Samuel seine Meinung sagen. Dass er endlich antworten musste. Noch tausend Mal wollte Joel dieselbe Frage wirklich nicht stellen.
Aber er fluchte nicht. Er nahm die Teller, kratzte die Essensreste ab und stellte die Teller in die Spüle.
»Ich geh raus«, sagte er.
»Hast du keine Hausaufgaben?«, fragte Samuel ohne den Kaffeekessel aus dem Auge zu lassen, in dem das Wasser gerade zu kochen begann.
»Die hab ich schon gemacht«, antwortete Joel. »Außerdem hab ich bald keine Hausaufgaben mehr.«
Er wartete. Aber vergeblich. Samuel sagte nichts mehr. Joel nahm seine Jacke und lief die Treppe hinunter.
Auch dieses Mal hatte er keine Antwort bekommen.
Darüber dachte er am nächsten Tag nach, während er die Kette an seinem Fahrrad spannte. Er hatte Samuel nicht noch einmal gefragt. Aber er hatte ein Gefühl, als ob Samuel darüber nachdächte. Woher das Gefühl kam, wusste Joel nicht. Aber es war da. Und es war stark.
Es beunruhigte ihn. Wenn Samuel wortkarg und nachdenklich war, konnte er manchmal seine Anwandlungen kriegen. Dann verschwand er plötzlich und kam nachts betrunken nach Hause. Das letzte Mal war schon ziemlich lange her. Joel wusste, dass es wieder passieren würde. Früher oder später. Und davor fürchtete er sich immer. Wenn er losgehen und nach Samuel suchen und ihn dann nach Hause schleppen musste, wenn er so betrunken war, dass er nicht mehr gehen konnte.
Joel versuchte das Öl von der Fahrradkette mit Zeitungspapierfetzen abzuwischen, die der Wind vorbeigeweht hatte.
Hoffentlich passiert es nicht zum Schulabschluss, dachte er, Samuel darf nicht betrunken in der Kirche erscheinen.
An dem Tag auf keinen Fall.
Er drehte sich um und schaute zum Kirchturm hinauf. Die Uhr zeigte ihm, dass es höchste Zeit war, nach Hause zu fahren und Kartoffeln zu kochen. Er setzte sich aufs Fahrrad und strampelte los. Auf dem Schotterplatz hinter der Tankstelle teilten sich die Jungen gerade in zwei Mannschaften auf. Mehrere aus Joels Klasse waren dabei. Joel trat fester in die Pedale. Immer musste er das Essen kochen, immer hatte er seine eigene Mutter sein müssen. Und manchmal auch für Samuel.
Wenn er aus der Schule kam, würde er kein Essen mehr kochen. Das konnte Samuel dann selber machen.
Joel trat die Gartenpforte mit einem Fuß auf und ließ das Fahrrad bis zur Hauswand ausrollen. Dann lief er die Treppen hinauf und riss die Küchentür auf.
Und fuhr erschrocken zusammen.
Samuel saß auf einem Stuhl am Küchentisch. So früh kam er selten nach Hause. Wenn er hin und wieder so früh kam, war er entweder krank oder er hatte wieder angefangen zu trinken. Aber er sah nicht betrunken aus. Seine Augen waren nicht rot und die Haare standen ihm nicht zu Berge. Er sah auch nicht besonders krank aus.
Er saß da, sah Joel an und schien verwundert zu sein.
»Was ist?«, fragte Joel. »Wieso bist du schon zu Hause?« Samuel zeigte auf einen Brief, der auf dem Tisch lag.
»Von wem ist der?«
»Zieh die Jacke aus und setz dich hin, dann werde ich’s dir erzählen.«
Joel zog sich die Gummistiefel aus und hängte seine Jacke über die Stuhllehne. Dann setzte er sich. Er war sehr gespannt. Was konnte so wichtig sein an dem Brief, dass Samuel früher als gewöhnlich von seiner Arbeit im Wald nach Hause kam?
Als er sich gesetzt hatte, merkte er, dass Samuel sehr erregt war. Seine Unterlippe zitterte.
»Ich hab einen Brief von Elinor bekommen«, sagte er. »Von ihr hab ich seit zehn Jahren nichts mehr gehört.«
Joel wartete auf die Fortsetzung, die aber nicht kam.
»Wer ist Elinor?«, fragte er, als es lange genug still gewesen war.
»Elinor hatte ein Café in Göteborg«, sagte Samuel, »zu der Zeit, als ich zur See fuhr.«
Joel seufzte lautlos. Vor einigen Jahren hatte Samuel Sara kennen gelernt, die in der Bierstube im Ort arbeitete. Manchmal hatte Samuel bei ihr übernachtet. Aber dann war es zu Ende gewesen. Sara hatte Schluss gemacht. Und Samuel hatte wieder angefangen zu trinken. Jetzt war offenbar ein Brief von einer anderen gekommen, die auch in so einem Café arbeitete. Vielleicht hatte Samuel früher auch bei ihr übernachtet? Aber warum war das wichtig?
Mitunter ist Samuel komisch, dachte Joel. Komisch wie alle Erwachsenen. Sie denken immer rückwärts, wenn sie vorwärts denken müssten. Da kommt ein Brief von jemandem, von dem er zehn Jahre lang nichts gehört hat. Und schon fängt seine Unterlippe an zu zittern. Aber wenn ich ihn frage, wann gehen wir weg aus diesem Nest, wann gehen wir zur See, dann krieg ich keine Antwort.
Joel sah Samuel an und dachte, dass er vielleicht etwas fragen sollte. So tun, als sei er interessiert.
»Was will sie denn?«, fragte er.
»Sie schreibt, dass sie weiß, wo Jenny wohnt.«
Es dauerte eine Weile, ehe Joel begriff, was Samuel gesagt hatte. Dann war es, als ob es ein Erdbeben gegeben hätte. Er fühlte sich durchgeschüttelt, als ob die Erde und das Haus zusammenstürzten.
Eine Frau, die Elinor hieß, hatte einen Brief über Mama Jenny geschrieben. Sie, die verschwunden war und nie mehr von sich hatte hören lassen.
Samuel hatte sich die Brille aufgesetzt.
»Hier steht es«, sagte er. »Jenny wohnt in Stockholm in einer Straße, die heißt Östgötastraße. Im Stadtteil Söder. Und dass sie als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen irgendwo beim Medborgarplatz arbeitet.«
Joel starrte Samuel an. »Weiter steht da nichts?«
Samuel nahm sich die Brille ab. »Da steht, dass sie geheiratet hat.«
»Aber sie ist doch mit dir verheiratet?«
»Wir haben nie geheiratet. Deshalb brauchten wir uns auch nicht scheiden zu lassen.«
Joel war verwirrt. Samuel und Jenny waren nie verheiratet gewesen? Jetzt war er interessiert. Jetzt wollte er alles wissen, was in dem Brief stand. Er streckte die Hand aus. Aber Samuel legte seine schwere Hand auf das weiße Briefpapier.
»Der Brief ist an mich gerichtet«, sagte er.
»Jenny ist meine Mama«, antwortete Joel.
»Aber Elinor hat mir geschrieben. Elinor ist eine Freundin von Jenny. Deshalb hat sie geschrieben.«
Joel versuchte nachzudenken.
»Aber was steht...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2012 |
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Übersetzer | Angelika Kutsch |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre | |
Schlagworte | Abenteuer • Band 4 • Coming of Age • eBook • Erwachsenwerden • Familie • Identitätsfindung • Identitätssuche • Joel-Tetralogie • Junior • Muttersuche • Nordschweden • Selbstbestimmtes Leben • Stockholm • Tod • Tod des Vaters • Vater-Sohn-Beziehung • Vater-Sohn-Verhältnis • Zugreise |
ISBN-10 | 3-423-41523-1 / 3423415231 |
ISBN-13 | 978-3-423-41523-1 / 9783423415231 |
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