Ausländer (eBook)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
352 Seiten
Baumhaus (Verlag)
978-3-8387-1632-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ausländer -  Paul Dowswell
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Berlin 1941. Mit dem Zug trifft der 14-jährige Peter in der Hauptstadt des deutschen Reiches ein. Der Waisenjunge ist in Polen aufgewachsen, doch er ist 'Volksdeutscher'. Mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen ist er der Inbegriff des propagierten arischen Ideals und kann daher problemlos an eine deutsche Nazifamilie vermittelt werden. Zunächst lebt er sich gut bei den Kaltenbachs ein und fühlt sich auch bei der Hitlerjugend sehr wohl. Doch als er sich in das mutige Mädchen Anna verliebt, hat er längst entschieden, dass er kein Nazi sein will. Gemeinsam helfen die beiden Juden, die sich in Berlin versteckt halten - und riskieren damit ihr Leben ...

Kapitel eins


Warschau
2. August 1941


Piotr Bruck zitterte vor Kälte, während er mit etwa zwanzig anderen nackten Jungen in dem langen, zugigen Korridor wartete. Er hatte seine Kleider zu einem Bündel zusammengeknüllt, das er gegen seine Brust presste, um sich ein wenig Wärme zu verschaffen. Es war ein bewölkter Spätsommertag, und seit dem Morgengrauen regnete es. Piotr sah, dass der Junge vor ihm Gänsehaut auf seinen knochigen Schultern hatte. Der Junge zitterte ebenfalls, vielleicht vor Kälte, vielleicht auch vor Angst. Zwei Männer in gestärkten weißen Kitteln saßen vor der Warteschlange an einem Tisch. Sie untersuchten die Jungen der Reihe nach flüchtig mit seltsam aussehenden Instrumenten. Manche Jungen wurden in ein Zimmer links vom Tisch geschickt, andere wurden barsch in den Raum zur Rechten verwiesen.

Piotr und die anderen Jungen hatten strikte Anweisung erhalten, nicht zu sprechen und sich nicht umzusehen. Daher konzentrierte er sich zwanghaft darauf, starr geradeaus zu blicken. Piotr war so von Angst erfüllt, dass ihm sein eigener Körper fast fremd vorkam. Jede seiner Bewegungen erschien ihm unnatürlich und gezwungen. Ganz und gar real war nur der Druck in seiner Blase, den er kaum mehr aushielt. Piotr wusste, dass es keinen Sinn hatte, um Erlaubnis zum Austreten zu bitten. Als die Soldaten ins Waisenhaus gestürmt waren, um die Jungen aus den Betten auf einen bereits wartenden Lastwagen zu scheuchen, hatte er gefragt, ob er auf die Toilette gehen dürfe. Zur Antwort bekam er eine Ohrfeige, weil er unaufgefordert gesprochen hatte.

Zwei Wochen zuvor waren die Soldaten zum ersten Mal ins Waisenhaus gekommen. Und danach noch mehrmals. Manchmal nahmen sie Jungen mit, manchmal Mädchen. Einige der Jungen in Piotrs überfülltem Schlafsaal waren froh gewesen, dass andere abgeholt wurden. »Mehr Essen für uns und auch mehr Platz – also, worüber beschwert ihr euch?«, meinte einer. Nur wenige der Kinder kamen zurück. Diejenigen, die überhaupt darüber sprechen wollten, was geschehen war, murmelten etwas davon, dass sie fotografiert und gemessen worden seien.

Jetzt, da Piotr vorne im Korridor stand, sah er sich mehreren Soldaten in schwarzer Uniform gegenüber. Uniformen mit Abzeichen auf den Kragen, die an Blitze erinnerten. Einige Soldaten hatten Hunde – grimmige Schäferhunde, die unablässig an ihren Leinen zerrten. Piotr war schon früher solchen Männern begegnet. Sie hatten während der Kämpfe sein Dorf heimgesucht. Er hatte aus nächster Nähe erlebt, wozu sie fähig waren.

Und da war noch ein weiterer Mann, der sie beobachtete. Er trug dasselbe, einem doppelten Blitz ähnelnde Abzeichen wie die Soldaten, aber bei ihm prangte es auffällig groß auf der Brusttasche seines weißen Kittels. Er stand nicht weit von Piotr entfernt, hochgewachsen und gebieterisch, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und beaufsichtigte dieses rätselhafte Treiben. Als er sich umdrehte, sah Piotr, dass er eine kurze lederne Reitgerte in der Hand hielt. Sein dunkles Haar war strähnig, doch wie bei den Deutschen üblich seitlich gute sieben oder acht Zentimeter über den Ohren abrasiert.

Der Mann betrachtete die Jungen durch seine schwarz geränderte Brille. Während sein Blick die Reihe entlangwanderte, nickte er oder schüttelte den Kopf. Die meisten Jungen, fiel Piotr auf, waren blond wie er selbst, nur ein paar hatten dunkleres Haar.

Der Mann hatte die selbstsichere Ausstrahlung eines Arztes, erinnerte Piotr aber trotzdem viel eher an einen Bauern, der seine Schweine begutachtet und überlegt, welches auf dem Dorfmarkt den besten Preis erzielen könnte. Als der Mann bemerkte, dass Piotr ihn ansah, stieß er zwischen den schmalen Lippen einen Laut der Verärgerung hervor und gab ihm mit einer energischen Bewegung des Zeigefingers zu verstehen, dass er nach vorne blicken sollte.

Jetzt war Piotr nur noch drei Stationen vom Tisch entfernt und konnte Bruchstücke der Unterhaltung zwischen den beiden Männern dort aufschnappen. »Warum hat man den hierhergebracht?« Und dann, lauter, zu dem Jungen vor ihm: »Nach rechts, aber dalli, bevor du meinen Stiefel in den Arsch kriegst.«

Piotr bewegte sich langsam vorwärts. Nun sah er, dass der Raum rechts in einen weiteren Korridor und zu einer offen stehenden Tür führte, durch die man ins Freie kam. Kein Wunder, dass es so zog. Draußen stand ein mit einer Plane abgedeckter Wagen, unter der Piotr finster dreinblickende junge Gesichter und Wachen mit Bajonetten an ihren Gewehren erspähte. Da erhielt er einen harten Schlag auf seinen Hinterkopf. »Augen nach vorn!«, brüllte ein Soldat. Piotr hatte solche Angst, dass er glaubte, sich gleich in die Hose zu pinkeln.

Auf dem Tisch stand ein großer kastenförmiger Aktenordner. Darauf stand mit einer Schablone in dicken schwarzen Buchstaben geschrieben:

RASSE- UND SIEDLUNGSHAUPTAMT

Piotr hatte jetzt die Spitze der Warteschlange erreicht und betete inständig, nicht in das Zimmer rechts geschickt zu werden. Einer der Männer in den gestärkten weißen Kitteln sah ihn gleichgültig an. Dann lächelte er und wandte sich an seinen Kollegen, der zu einem merkwürdig aussehenden Instrument griff. Es erinnerte Piotr an eine ganz dünne Zange. Auf dem Tisch lagen mehrere solcher Geräte. Es waren bedrohlich aussehende medizinische Instrumente, aber ihr Zweck war nicht, Körperöffnungen oder chirurgische Schnitte zu dehnen oder offen zu halten. Bei diesem Modell handelte es sich um eine Zange, in deren Schenkel aus poliertem Stahl Zentimeterskalen eingestanzt waren.

»Da müssen wir wohl nicht lange überlegen«, sagte der Mann zu seinem Kollegen. »Er ist ja dem Jungen auf dem Plakat der Hitlerjugend wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Sie setzten die Zange beidseits an seine Ohren und vermaßen rasch seinen Kopf. Der Mann signalisierte Piotr lächelnd, er solle in das Zimmer links gehen, was dieser ohne Zögern tat. Dort warteten, angezogen, bereits andere Jungen. Als sich seine Angst löste, kam er sich dumm vor, wie er so dastand, nackt und seine Kleider an sich gepresst. Es gab hier keine Soldaten, nur zwei Krankenschwestern, die eine beleibt und mütterlich, die andere jung und zierlich. Piotr lief vor Scham rot an. Er entdeckte eine Tür mit der Aufschrift Herren und stürzte hinein.

Nachdem der schmerzhafte Druck in seiner Blase aufgehört hatte, war Piotr vor Erleichterung ganz schwindelig. Sie hatten ihn nicht in das Zimmer rechts und zu dem Wagen mit der Plane geschickt. Er war hier bei den Krankenschwestern. Es gab einen Tisch mit Keksen, Bechern und einem Wasserkrug darauf. Piotr fand eine Stelle am Fenster, wo er sich anziehen konnte. Als er ins Waisenhaus gekommen war, hatte er nur die Kleider besessen, die er am Leib trug; diese zweite Garnitur hatte man ihm mitgegeben. Manchmal fragte er sich, wem der schmuddelige Pullover wohl gehört hatte, und hoffte, dass sein früherer Träger nur aus ihm herausgewachsen, nicht aber gestorben war.

Piotr musterte die anderen Jungen in der Runde. Ein paar kannte er, doch es war keiner dabei, den er als Freund bezeichnet hätte.

Draußen auf dem Gang hörte er Holz über den gewienerten Boden schaben. Der Tisch wurde weggeräumt, die Selektion war zu Ende. Die zuletzt hereingekommenen Jungen zogen sich rasch an, als die ältere Krankenschwester in die Hände klatschte, damit alle ihr Beachtung schenkten.

»Kinder«, sagte sie in stockendem Polnisch und mit schnarrendem deutschen Akzent. »Hier sehr wichtige Herren mit euch reden wollen. Wer von euch sprechen Deutsch?«

Niemand meldete sich.

»Kommt schon«, sprach sie lächelnd weiter. »Nicht schüchtern sein.«

Piotr hatte das Gefühl, dass ihm diese Frau nichts Böses wollte. Er trat vor und antwortete ihr in fließendem Deutsch.

»Na, du bist ein kluger Junge«, erwiderte sie auf Deutsch und legte ihm ihren molligen Arm um die Schulter. »Wo hast du denn so gut Deutsch gelernt?«

»Durch meine Eltern, Schwester«, sagte Piotr. »Sie sprechen beide …« An der Stelle brach er ab, und als er schließlich fortfuhr, zitterte seine Stimme. »Sie haben beide Deutsch gesprochen.«

Die Krankenschwester umarmte ihn noch fester, während er mit den Tränen kämpfte. Im Waisenhaus hatte ihn niemals jemand so freundlich behandelt.

»Nun, wie heißt du denn, mein Junge?«, fragte sie. Unter Schluchzern stammelte er seinen Namen.

»Nimm dich zusammen, kleiner Piotr«, flüsterte sie auf Deutsch. »Der Doktor ist kein sehr geduldiger Zeitgenosse.«

Der große dunkelhaarige Mann, den Piotr bereits zuvor gesehen hatte, betrat den Raum. Er ging auf die Krankenschwester zu und wollte wissen, welcher der Jungen Deutsch spreche. »Lassen Sie mir noch einen Moment Zeit«, entgegnete sie. Dann wandte sie sich wieder an Piotr und sagte sanft: »Jetzt trockne dir die Augen. Ich möchte, dass du den anderen Kindern übersetzt, was der Doktor sagt.«

Sie kniff ihm in die Wange, worauf Piotr nervös nach vorn trat und wartete, dass der Mann zu sprechen anfing.

Er sprach laut, in kurzen, deutlichen Sätzen, zwischen denen er Pausen einlegte, damit Piotr übersetzen konnte.

»Mein Name ist Doktor Fischer … Ich muss euch etwas sehr Wichtiges sagen … Ihr seid als Kandidaten ausgewählt worden … für die Ehre, in die deutsche Volksgemeinschaft zurückgeholt zu werden … Ihr werdet weiteren Untersuchungen unterzogen werden … um euren Rassewert festzustellen … und ob ihr einer solchen Ehre würdig seid … Einige von euch werden...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2012
Übersetzer Katharina Förs, Bernhard Jendricke
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 12 • Abenteuer • Adoleszenzroman • All Age Literatur • Bücher ab 11 Jahre • Bücher ab 12 Jahre • Bücher für Kinder ab 12 • Bücher für Mädchen • Bücher für Teenager • Cassandra Clare • Cornelia Funke • Freundin • Freundschaft • für Jugendliche • Geschenke für Jugendliche • Geschenke für Kinder • Gregs Tagebuch • Jugendbuch • Jugendbuch ab 11 • Jugendbuch ab 12 • Jugendbücher • Jugenromane • Junge Belletristik • Romane für Jugendliche • Starke Mädchen • Teenager • Teenie • Teenies • Teens • Teeny • Tintenwelt • tribute von panem • Twilight • Young Adult
ISBN-10 3-8387-1632-9 / 3838716329
ISBN-13 978-3-8387-1632-9 / 9783838716329
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Ohne DRM)

Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopier­schutz. Eine Weiter­gabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persön­lichen Nutzung erwerben.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich