Tage im Dämmer, Nächte im Rausch (eBook)
228 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-0205-5 (ISBN)
'Sein Leben selbst war ein Kunstwerk.' Isabelle Huppert.
Werner Schroeter war weit mehr als einer der wichtigsten Regisseure Deutschlands. Als Enfant terrible und genialischem Autodidakt gelang ihm die Verschmelzung von Pathos und Punk - in seinem Werk ebenso wie in seinem Leben. Seine Autobiographie schildert Begegnungen mit Maria Callas, Rosa von Praunheim, Isabelle Huppert, Rainer Werner Fassbinder und vielen anderen.
Mit zahlreichen Fotos sowie erstmals einer Filmo- und Szenographie.
'Ein Gott langweilt sich nie, denn auch sein Nichtstun ist Arbeit. Diese Schöpferkraft spürt man bei Werner Schroeter sofort.' Elfriede Jelinek.
Werner Schroeter (1945-2010), war einer der ungewöhnlichsten und radikalsten deutschen Film-, Opern- und Theaterregisseure. Filme u. a.: 'Der Tod der Maria Malibran' (1971), 'Palermo oder Wolfsburg' (1980, Goldener Bär), 'Malina' (1990), 'Diese Nacht - Nuit de chien' (2008).
Inhalt 6
Elfriede Jelinek: Werner Schroeter als Person 10
»Vous êtes pardonné, Werner« 16
Geistige Mutter, leibliche Mutter 21
Meine vorbildliche Familie 23
Die Unschuld hat im Himmel einen Freund 31
Die Sonne der Nacht 38
Muse, Gefährtin, Freundin – Magdalena Montezuma 45
Rosa /Holger und Carla – der Beginn der künstlerischen Arbeit 52
Argila und Neurasia 61
Eika Katappa 66
… und was daraus folgte 73
Komödien 78
Freundschaft 84
Salome in Baalbek 91
Schön ist hässlich, hässlich schön 98
Der Tod der Maria Malibran 102
Emilia Galotti oder Wie mich das Theater entdeckte 107
Willow Springs 113
Kalifornien 120
Leidenschaft 125
Abgewirtschaftete Götter 132
El Angel 138
Weltgefühl – Südam erikanische Reisen 142
Abenteuer 148
Flocons d’or 155
Man muss weggehen, um zu verstehen 161
Der Wahnsinn, dieser Dietrich aller Herzen! 167
Maria 174
Neapel im Winter 177
Champagner-Schroeter 185
Weisse Reise 190
Fremd in Deutschland und Italien 194
Das Weißwurst-Komplott 202
La patrie de l’âme 209
Misserfolg macht menschlich 214
Tag der Idioten 221
Eine blasphemische Sippe 228
Réveill e-moi à midi 232
Der Rosenkönig 239
Ich und der Alkohol – der Alkohol und ich 245
Trauer, Sehnsucht, Rebellion 252
Marcelo 258
Malina 261
Die Theaterfamilie 268
Wo die Worte aufhören, beginnt die Musik 275
Die Königin 285
Lebensatem 289
Das Leben verschlingt viel 294
Die letzte Liebe Freundschaft 298
Der Weg zu etwas Neuem 306
Diese Nacht 314
Claudia Lenssen: Nachwort 324
Werner Schroeter: Der Herztod der Primadonna 337
Isabelle Huppert: Werner 346
Leben und Werk: Filmographie 348
Szenographie 361
Zeittafel 381
Auszeichnungen /Film Awards (Auswahl) 387
Die unerträgliche Wirklichkeit aufheben 389
Personenregister 396
Da nk 408
MEINE VORBILDLICHE FAMILIE
Ich wurde 1945 in Georgenthal in Thüringen geboren, einem ehemaligen Luftkurort in der Nähe von Gotha. Als ich sechs Jahre alt war, sagte mein Vater Hans, er wolle nach der Nazi-Zeit nicht noch eine weitere Repression erleben, also wanderte er mit meiner Mutter Lena, meiner polnischen Großmutter Elsa, meinem älteren Bruder Hans-Jürgen und mir aus der DDR aus und fing bei null wieder an.
Anfangs in Bielefeld lebten wir in einer eilig hochgezogenen proletarischen Siedlung außerhalb der Stadt. Ich kann mich noch gut an die düsteren Ruinen der Stadt erinnern. Alles, was ich draußen sah, war meiner Sensibilität so fremd, dass meine Großmutter und ihre Träume zu meiner Welt wurden. Der Bau der Berliner Mauer ließ mich übrigens kalt, auch in unserer Familie wirkte er nicht nach. Wir hatten von Georgenthal Abschied genommen, zwischen unserem Weggang und dem Mauerbau 1961 war viel Zeit vergangen.
Meine Eltern lernten sich möglicherweise in Berlin kennen, wo meine Mutter, die Tochter einer Baroness, Medizin studierte. Ursprünglich wollte sie Ärztin werden, aber dann wurde sie Hausfrau und Mutter. An einen Beruf war zu jener Zeit nach der Heirat nicht zu denken, sie wollte es wohl auch nicht mehr. Mein Vater stammte aus einer Bauernfamilie, die in Thüringen eine Molkerei betrieb. Er war Ingenieur und Erfinder und entwickelte spezielle Handbremskraftverstärker, die unter anderem in Landmaschinen verwendet werden. Seine Fabrik bei Georgenthal hatte er aus eigener Kraft aufgebaut, und später begann er noch einmal neu in Geretsried bei München, wo die von ihm gegründete Firma heute noch besteht.
Ich weiß nicht, wie mein Vater es anstellte, dass er im Krieg nicht eingezogen wurde. Er sprach nie darüber, aber er war schlau, und vielleicht brauchte man damals seine Fabrik. Es gab eine wunderschöne Familienvilla in Georgenthal, die ich nach der Wiedervereinigung erbte. Ich fuhr hin und sah mir das Haus an, das mein Vater für die Freiheit verlassen hatte. Inzwischen war ein Altersheim darin untergebracht, und weil es furchtbar gewesen wäre, die alten Leute rauszuwerfen, entschied ich, dass sie bleiben konnten. Zudem war das heruntergekommene Haus in dem depressiven Landstrich nichts mehr wert. Heute steht es leer.
Mein Vater war ein überaus liberaler Mann, der sich nie über den Verlust seiner Existenz beklagte, was ich ihm hoch anrechnete. Als Kind kam mir seine Toleranz fast wie Gleichgültigkeit vor, und erst Jahre später fand ich heraus, dass dies seine Form sozialer Akzeptanz war. Homosexualität war beispielsweise in meiner Familie nie ein Thema, und es gab eine Zeit, in der ich Freundin und Freund im Wechsel hatte, wobei die erotische Bindung an Freunde stärker war als an Freundinnen, mit denen ich auch schlief.
Meinen Vater, der sowohl meine Freunde als auch meine Freundinnen meistens liebenswert fand, überzeugten die menschlichen und nicht die sexuellen Eigenschaften. Es war ganz normal. Ich kam mit einem Freund an, und fertig. Mir konnte man auf dieser Ebene nichts verbieten. Ich war zwar ruhig und sanft und still, hatte aber eine gewisse Kraft, in der eine Art gewaltlose Autorität lag.
Mein Bruder und ich wuchsen ziemlich frei, um nicht zu sagen verwildert auf. Meine Mutter war eine liebenswürdige, ja liebevolle Frau, wie jeder Mensch behaftet mit Fehlern. Sie kämpfte sehr um die Liebe ihrer Söhne, was manchmal schwierig war, noch schwieriger für meinen Bruder, der sich nie recht von unseren Eltern lösen konnte.
Ich habe viel von meinen Eltern, meinem Bruder und den Verwandten mütterlicherseits gelernt, sie waren alle keine Materialisten. Zu den Großeltern väterlicherseits hatte ich dagegen keine Beziehung, ich mochte sie nicht. Mein Vater und meine Mutter lebten uns vor, dass das Leben zählt, die Gegenwart, die es festzuhalten gilt. Auch mich interessiert das Materielle nicht. Die ideale Lebensform ist doch: zwei oder drei Koffer, ein schönes Hotel, vielleicht noch eine Kiste mit Büchern und Musik. Obwohl ich zugeben muss, wenn man ohne Geld dasitzt, ist es auch nicht praktisch.
Meine geliebte polnische Großmutter Elsa Buchmann, geborene Baroness von Rodjow, wäre gern Schauspielerin geworden, das war ihr großer Traum. Sie hatte eine ungeheure Ader für die Kunst, aber als Baroness, die im Alter von siebzehn Jahren mit einem dicken, cholerischen Anwalt verheiratet wurde, konnte sie ihren Traum nicht verwirklichen. Unsere Eltern waren künstlerisch interessierte Leute, doch der entscheidende Einfluss ging von unserer Großmutter aus. Sie, die weder Repression ertrug noch ausübte, übersetzte jeden Vorgang in Phantasie. Wenn wir mit ihr spazierengingen, erzählte sie uns verrückte Geschichten, bis wir auf dem Friedhof ankamen, wo wir auf dem Grab der Urgroßeltern Picknick machten. Sie las uns Märchen vor, die ich nie vergessen habe und auch heute immer neu für meine Arbeit entdecke.
Ich verdanke meiner Großmutter viel, sie hat meine Phantasie erweckt. Ich erinnere mich gut daran, wie sie einen Stuhl zum Palast erklären konnte und einen Blumentopf zum Urwald. Diese Freiheit des Umgangs mit Dingen fesselte mich, in dieser fremden Tagtraumrealität hatten wir Platz. Sie konnte alles verwandeln, so als wenn wir beispielsweise in einem Schiff auf dem Nil gewesen wären und da ein Problem gehabt hätten: Da gab es die Schneekönigin, der es zu warm wurde, und wir mussten unbedingt Eis besorgen, damit sie nicht zerschmolz. Oder meine Großmutter sagte, mein Bruder und ich, er war vielleicht zehn, ich sieben Jahre alt, sollten das Ohr an die Straßenbahnschienen legen und hören, wie die Indianer heranritten. Oder wir mussten unter ihrer Anleitung überall hinpinkeln, um unser Indianergebiet zu markieren, was die Spießer damals sehr erschütterte. Sie entwarf eine Zauberwelt, die sehr tolerant und von unglaublicher Kreativität war. Ich verdanke ihr viel viel viel Phantasie.
Die nächste Geschichte zeigt, dass ihr Sinn für die Wirklichkeit von vitaler Ironie war. Meine Großmutter hatte nach zwei Kriegen alles verloren, bis auf ein paar Koffer mit ihren schönen seidenen Kleidern aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie trug sie in unserer proletarischen Bielefelder Siedlung, einer Art Plattenbau. Meine Großmutter kam also stattlich und beschwingt daher mit ihrer Einkaufstasche und hatte zudem blondierte Haare. Mit Ende sechzig war sie eine erstaunlich schöne schlanke Frau. Die Jungs pfiffen hinter ihr her, während ich an ihrer Hand ging. Sie lächelte mich an, drehte sich um und sagte: »Nicht wahr, von hinten Lyzeum, von vorne Museum.«
Die Sehnsucht nach dem Lebenstraum Theater war meiner Großmutter geblieben, mein Bruder und ich mussten ihn erfüllen, indem sie Rollen für uns erfand und dabei eine düstere poetische Parallelwelt entfaltete. Ich erinnere mich an eine wahnwitzige Szene, in der ich als Prinzessin auf einem Glasberg saß und mein Bruder, der Prinz, mich retten sollte. Der Berg bestand aus wacklig übereinandergestellten Stühlen, ein Bügelbrett diente als Anlauf. Mit solchen Verrücktheiten bin ich in die Schule gegangen, was mich natürlich in eine ziemliche Distanz zum Schulalltag brachte und die anderen Schüler provozierte, die viel verklemmter waren.
Meine Großmutter wohnte ganz in unserer Nähe in einer Einzimmerwohnung. Sie kam fast täglich und führte den Haushalt, wohl um etwas gutzumachen. Sie glaubte, ihren beiden Töchtern Liebe und Aufmerksamkeit schuldig geblieben zu sein, da sie den Vater ihrer Kinder, jenen Anwalt, nicht geliebt hatte. Von ihr und meiner Mutter habe ich meinen Sinn für die Küche geerbt, ich kenne viele deutsche und polnische Gerichte und liebe diese Art zu kochen, wenn sie gut gemacht ist. Meine Großmutter besaß ein Kochbuch von 1896, in dem viele Rezepte mit einem Pfund Butter und dreißig Eiern drinstanden. Besonders gern mochte ich zum Beispiel ihren Mürbeteig mit weißen Pfirsichen und Sahnehaube.
Meine Großmutter führte ihr eigenes Leben und hatte eigene Freunde. 1957 trat sie zur katholischen Kirche über und ich mit – jedenfalls interessierte ich mich sehr dafür, blieb indes evangelisch getauft. Meine Mutter wusste übrigens nichts von dieser Entscheidung und war bei der Beerdigung der Großmutter ganz überrascht, wie viele alte Leute kamen, die sie nicht kannte. Ich nahm mit großem Interesse am Religionsunterricht teil, was mir die Bielefelder Lehrer in den Zeugnissen immer bestätigten. Dazu fällt mir die Geschichte ein, dass ich vor langer Zeit nach einer sehr schmerzhaften Trennung bei einem jungen katholischen Pfarrer Trost suchte. Während der Schmerz über die Trennung immer größer wurde, war ich natürlich mit ihm im Bett. Er hat das...
Erscheint lt. Verlag | 12.5.2011 |
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Co-Autor | Claudia Lenssen |
Vorwort | Elfriede Jelinek |
Zusatzinfo | 2 Bögen Abb. sw |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Kunst / Musik / Theater ► Film / TV | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Autobiografie • Film • Oper • Regisseur • Theater • Werner Schroeter |
ISBN-10 | 3-8412-0205-5 / 3841202055 |
ISBN-13 | 978-3-8412-0205-5 / 9783841202055 |
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