Just Kids (eBook)
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30183-0 (ISBN)
Patti Smith ist Musikerin, Dichterin, Performance-Künstlerin, Malerin und Fotografin. Ihr erstes Album »Horses« mit einem Coverfoto von Robert Mapplethorpe schrieb Musikgeschichte. 2007 wurde sie in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. 2010 erschien ihr Buch »Just Kids«, das in den USA mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde. Außerdem erschienen von ihr »Die Traumsammlerin«, »M Train«, »Hingabe«, »Im Jahr des Affen« und »Buch der Tage«.
Patti Smith ist Musikerin, Dichterin, Performance-Künstlerin, Malerin und Fotografin. Ihr erstes Album »Horses« mit einem Coverfoto von Robert Mapplethorpe schrieb Musikgeschichte. 2007 wurde sie in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. 2010 erschien ihr Buch »Just Kids«, das in den USA mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde. Außerdem erschienen von ihr »Die Traumsammlerin«, »M Train«, »Hingabe«, »Im Jahr des Affen« und »Buch der Tage«. Clara Drechsler, geboren 1961, und Harald Hellmann, geboren 1958, übersetzen gemeinsam aus dem Englischen, u.a. Werke von Bret Easton Ellis, Nick Hornby, Adam Thirlwell und Irvine Welsh. Harald Hellmann, geboren 1958, und Clara Drechsler, geboren 1961, übersetzen gemeinsam aus dem Englischen, u. a. Werke von Bret Easton Ellis, Helen Walsh und Irvine Welsh.
Just Kids
Es war heiß in der Stadt, aber ich trug immer noch meinen Regenmantel. Er gab mir Selbstvertrauen, während ich mir auf der Suche nach Arbeit die Füße wundlief und nichts vorzuweisen hatte als einen befristeten Fabrikjob, Rudimente eines nicht abgeschlossenen Studiums und eine tipptopp gestärkte Kellnerinnenuniform. Schließlich fand ich einen Job in einem kleinen italienischen Restaurant, Joe’s am Times Square. Als ich gerade mal drei Stunden nach Beginn meiner Schicht einem Gast ein ganzes Tablett Vitello Parmigiano auf den Tweedanzug kippte, wurde ich von meinen Pflichten entbunden. Weil mir klar war, dass ich als Kellnerin keine Zukunft hatte, ließ ich die nur leicht bekleckerte Arbeitskleidung mitsamt dem dazugehörigen Schuhwerk in einer öffentlichen Toilette liegen. Meine Mutter hatte sie mir geschenkt, eine weiße Uniform mit weißen Schuhen, und mir auf diese Weise ihre Hoffnung für mein Wohlergehen mitgegeben. Nun endeten sie als welke Lilien in einem weißen Waschbecken.
Als ich in die psychedelische Atmosphäre des St. Mark’s Place im East Village eintauchte, rechnete ich nicht damit, in eine Revolution zu geraten. Es herrschte eine diffuse, alarmierende Paranoia, ein Strom von Gerüchten, aufgeschnappten Gesprächsfetzen, Namen wie The Weathermen, White Panters, Black Power und The Electric Circus kündigten die bevorstehende Revolution an. Ich hockte einfach da und versuchte, aus allem schlau zu werden, in dichte Pot-Schleier gehüllt, was erklären könnte, warum meine Erinnerungen träumerisch-verschwommen sind. Ich kämpfte mich durch ein dichtes kulturelles Bewusstseinsnetz, von dessen Existenz ich nichts geahnt hatte.
Ich hatte in der Welt meiner Bücher gelebt, von denen die meisten im neunzehnten Jahrhundert geschrieben worden waren. Ich war darauf eingestellt, auf Parkbänken, in U-Bahn-Stationen und Friedhöfen zu schlafen, bis ich Arbeit gefunden hatte, aber mit dem ständigen nagenden Hunger hatte ich nicht gerechnet. Ich war ein dünnes Ding mit rasantem Stoffwechsel und gesundem Appetit. Romantizismus konnte meinen Nahrungsbedarf nicht stillen. Sogar Baudelaire musste essen. In seinen Briefen flehte er oft verzweifelt um Fleisch und Porter.
Ich brauchte einen Job. Ich war heilfroh, als ich in einer Filiale der Buchhandelskette Brentano im nördlichen Manhattan als Kassiererin eingestellt wurde. Ich hätte zwar lieber in der Lyrikabteilung gearbeitet, anstatt an der Kasse für Folkloreschmuck und Kunstgewerbe zu stehen, aber es machte mir Spaß, den Schmuck aus weit entfernten Ländern anzusehen: Berber-Armbänder, Muschelketten aus Afghanistan und ein juwelenbesetzter Buddha. Mein Lieblingsstück war eine schlichte Halskette aus Persien. Sie bestand aus zwei emaillierten Metallplättchen an dicken schwarz-silbernen Kordeln, wie ein sehr altes, exotisches Skapulier. Sie kostete achtzehn Dollar, was mir damals wie ein Vermögen erschien. Wenn nicht viel los war, nahm ich sie manchmal aus der Vitrine, fuhr mit dem Finger über die eingeritzten Schriftzeichen in der violetten Oberfläche und fantasierte mir Legenden über ihre Herkunft zusammen.
Kurz nachdem ich bei Brentano angefangen hatte, kam der Junge in die Buchhandlung, den ich in Brooklyn flüchtig kennengelernt hatte. In seinem weißen Hemd mit Krawatte sah er ganz verändert aus, wie ein katholischer Schuljunge. Er erklärte mir, dass er in der anderen Brentano-Filiale in Downtown arbeite und einen Mitarbeitergutschein einlösen wolle. Er brauchte sehr lange, um sich alles anzusehen, die Perlen, die Figürchen, die Türkisringe.
Schließlich sagte er: »Ich nehme das da.« Es war die persische Halskette.
»Oh, die habe ich auch am liebsten«, sagte ich. »Sie erinnert mich an ein Skapulier.«
»Bist du katholisch?«, fragte er mich.
»Nein, ich mag bloß katholische Sachen.«
»Ich war Messdiener«, sagte er und grinste mich an. »Am liebsten hab ich immer das Weihrauchfass geschwenkt.«
Ich war froh, dass er sich das Schmuckstück aussuchte, das ich auch genommen hätte, aber traurig, dass ich mich davon trennen musste. Als ich es eingepackt hatte und ihm gab, sagte ich impulsiv: »Schenk das keinem Mädchen außer mir.«
Es war mir sofort peinlich, aber er lächelte nur und sagte: »Mach ich nicht.«
Als er gegangen war, schaute ich auf die leere Stelle auf dem schwarzen Samt, wo es gelegen hatte. Am nächsten Morgen lag ein viel aufwendiger gestaltetes neues Stück an seinem Platz, aber ihm fehlte das schlichte Mysterium des persischen Kettchens.
Am Ende meiner ersten Arbeitswoche war ich ausgehungert und wusste immer noch nicht, wohin. Ich schlief jetzt im Laden. Ich versteckte mich in der Toilette, wenn die anderen gingen, und nachdem der Wachmann alles abgeschlossen hatte, legte ich mich auf meinen Mantel. Am Morgen sah es so aus, als sei ich sehr früh zur Arbeit gekommen. Ich hatte keinen Cent und durchwühlte die Taschen der Angestellten nach Kleingeld, um mir Erdnussbuttercracker am Automaten zu ziehen. Vom Hunger zermürbt, war ich geschockt, als am Zahltag kein Umschlag für mich da war. Ich hatte nicht gewusst, dass das Gehalt für die erste Woche einbehalten wurde, und musste mich für einen Moment unter Tränen in die Garderobe zurückziehen.
Als ich an meinen Arbeitsplatz zurückkam, fiel mir ein Typ auf, der sich dort herumdrückte und mich beobachtete. Er hatte einen Bart und trug ein Hemd mit Nadelstreifen zu einem dieser Jacketts mit Wildlederflicken an den Ellbogen. Mein Vorgesetzter machte uns miteinander bekannt. Der Mann schrieb Science-Fiction, und er wollte mich zum Abendessen einladen. Ich war zwar schon zwanzig, aber mir spukte immer noch die Warnung meiner Mutter im Kopf herum, niemals mit Fremden zu gehen. Aber bei der Aussicht auf ein Abendessen wurde ich schwach und nahm an. Ich hoffte, der Kerl würde in Ordnung sein, er war ja immerhin Schriftsteller, obwohl er mir eher wie ein Schauspieler vorkam, der einen Schriftsteller spielte.
Wir gingen zu Fuß zu einem Restaurant am Fuß des Empire State Building. Ich hatte in New York bisher nie in einem richtigen Restaurant gegessen. Ich versuchte, etwas zu bestellen, das nicht zu teuer war, und nahm Schwertfisch für 5,95 Dollar, das Billigste auf der Speisekarte. Ich sehe noch den Kellner vor mir, wie er den Teller mit einem Haufen Stampfkartoffeln und einer Scheibe zerkochtem Schwertfisch vor mich hinstellt. Obwohl ich kurz vorm Verhungern war, konnte ich das Essen kaum genießen. Ich war unruhig und hatte keine Ahnung, wie ich mit der Situation umgehen sollte, oder warum der Mann überhaupt mit mir essen wollte. Es kam mir so vor, als gäbe er eine Menge Geld für mich aus, und ich überlegte ängstlich, was er als Gegenleistung von mir erwarten würde.
Nach dem Essen gingen wir zu Fuß den ganzen Weg nach Downtown. Wir liefen nach Osten zum Tompkins Square Park und setzten uns auf eine Bank. Ich dachte mir die ganze Zeit Sätze aus, die mir die Flucht ermöglichen sollten, als er vorschlug, wir sollten noch auf einen Drink rauf in seine Wohnung gehen. Jetzt ist es so weit, dachte ich, das ist der kritische Moment, vor dem meine Mutter mich immer gewarnt hat. Ich sah mich verzweifelt um, unfähig, ihm zu antworten, als ich einen jungen Mann näher kommen sah. Es war, als hätte sich ein kleines Portal in die Zukunft geöffnet, und heraus trat der Junge aus Brooklyn, der die persische Halskette gekauft hatte, als wäre mein Teenager-Gebet erhört worden. Ich erkannte sofort seinen leicht o-beinigen Gang und seine zerwühlten Locken. Er trug Jeans und eine Schaffellweste. Um seinen Hals hingen Glasperlenketten, ein junger Hippie-Schäfer. Ich rannte zu ihm und packte ihn am Arm.
»Hallo, kennst du mich noch?«
»Natürlich«, lächelte er.
»Du musst mir helfen«, platzte ich heraus. »Kannst du bitte so tun, als wärst du mein Freund?«
»Na klar«, sagte er, als sei er von meinem plötzlichen Auftauchen keine Spur überrascht.
Ich zerrte ihn zu dem Science-Fiction-Typ. »Das ist mein Freund«, sagte ich keuchend. »Er hat mich schon überall gesucht. Er ist unheimlich sauer. Er will, dass ich jetzt mit nach Haus komme.« Der Typ sah uns beide fragend an.
»Lauf«, rief ich, und der Junge packte meine Hand, und wir rannten weg, quer durch den ganzen Park zur anderen Seite.
Atemlos ließen wir uns auf eine fremde Türschwelle sinken. »Danke, du hast mir das Leben gerettet«, sagte ich. Er quittierte die Mitteilung mit einem verwirrten Lächeln.
»Ich hab dir meinen Namen noch gar nicht verraten, ich heiße Patti.«
»Ich heiße Bob.«
»Bob«, sagte ich und sah ihn mir zum ersten Mal richtig an. »Irgendwie kommst du mir nicht wie ein Bob vor. Ist es dir recht, wenn ich Robert sage?«
Über der Avenue B war die Sonne untergegangen. Er nahm meine Hand, und wir durchwanderten das East Village. Er spendierte mir ein Egg Cream bei Gem Spa an der Ecke St. Mark’s Place und Second Avenue. Meistens redete nur ich. Er lächelte bloß und hörte zu. Ich erzählte ihm Geschichten aus meiner Kindheit, die ersten von vielen: von Stephanie, vom »Acker« und vom Square-Dance-Saal auf der anderen Straßenseite. Ich war überrascht, wie wohl und gelöst ich mich in seiner Gegenwart fühlte. Später erzählte er mir, dass er auf Acid gewesen war.
Ich kannte LSD nur aus Collagen, einem Büchlein von Anaïs Nin. Von der blühenden Drogenkultur im Sommer ’67 hatte ich überhaupt nichts mitbekommen. Ich hatte eine romantische Vorstellung von Drogen, betrachtete sie als heilig, Poeten, Jazzmusikern und indianischen Ritualen vorbehalten. Robert erschien mir in keiner Weise verändert oder sonderbar, jedenfalls nicht so, wie ich es mir ausgemalt...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2010 |
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Übersetzer | Clara Drechsler, Harald Hellmann |
Zusatzinfo | zahlreiche s/w Fotos |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autobiographisch • Fotograf • Freundschaft • illustriert • Künstler-Kultur • Liebe • M Train • New York • Patti Smith • Punk-Rock-Musikerin • Robert Mapplethorpe • TikTok • tiktok made me buy it |
ISBN-10 | 3-462-30183-7 / 3462301837 |
ISBN-13 | 978-3-462-30183-0 / 9783462301830 |
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