Wirtschaftsmärchen -  Patrick Schreiner,  Kai Eicker-Wolf

Wirtschaftsmärchen (eBook)

Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales
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2024 | 2. Auflage
270 Seiten
Papyrossa Verlag
978-3-89438-903-1 (ISBN)
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»Die Löhne sind zu hoch.« »Wachstum kommt allen zugute.« »Der Sozialstaat ist unbezahlbar.« »Private Unternehmen sind effizienter als der Staat.« »Hohe Steuern bremsen die Wirtschaft.« Derlei Behauptungen machen Stimmung - für mehr Markt und weniger Politik, für mehr soziale Ungleichheit und weniger Umverteilung, für mehr Vereinzelung und weniger soziale Sicherheit. Sie sind Ausdruck eines neoliberalen Zeitgeists, der auf »unternehmerische Freiheit«, Konkurrenz, Privateigentum und »Eigenverantwortung« setzt. In diesem Buch nehmen Patrick Schreiner und Kai Eicker-Wolf 101 solcher Wirtschaftsmärchen unter die Lupe: Sie zeigen auf, weshalb diese falsch sind oder in die Irre führen; wem sie schaden und wem sie nutzen; welche Denkmuster und Annahmen hinter ihnen stehen. Und sie veranschaulichen, wie gefährliche Feindbilder geschaffen werden: das vom teuren Hängemattenstaat etwa, von halsstarrigen Gewerkschaften, von selbstsüchtigen Politikerinnen, von faulen Armen oder von wirklichkeitsfremden Sozialromantikern. Jenseits des ­Geflunkers streitet dieses Buch für soziale und demokratische Rechte in einer solidarischen Gesellschaft.

Patrick Schreiner, Dr. phil., *1978, ist Politikwissenschaftler. Er arbeitet als Gewerkschafter in Berlin und publiziert unter anderem zu wirtschafts- und verteilungspolitischen Themen sowie politischer Theorie.

Patrick Schreiner, Dr. phil., *1978, ist Politikwissenschaftler. Er arbeitet als Gewerkschafter in Berlin und publiziert unter anderem zu wirtschafts- und verteilungspolitischen Themen sowie politischer Theorie.Kai Eicker-Wolf, Dr. phil., *1965, ist Ökonom. Er arbeitet als Gewerkschafter in Frankfurt am Main und publiziert unter anderem zu wirtschafts-, finanz- und bildungspolitischen Themen.

Arbeit und Arbeitsmarkt


01:
»Sozial ist, was Arbeit schafft!«


Es war einmal ein einflussreicher Ökonom, den die SPD 2021 in einem Moment der Hellsicht aus dem Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kickte. Eine gewisse Undankbarkeit mochten manche der Partei dabei vorwerfen, hatte jener Lars Feld doch immer wieder warme Worte für die rot-grünen Sozialreformen der frühen 2000er Jahre gefunden. So auch im September 2015, als der neoliberale Hardliner auf einer Tagung des Vereins für Socialpolitik jene rot-grüne Agenda 2010 lobte: »Der Spruch ›Sozial ist, was Arbeit schafft‹ wurde hier wirklich bestätigt«.

»Sozial ist, was Arbeit schafft«: Nachdem die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft den Satz im Jahr 2000 mit einer Kampagne prominent machte, entwickelte er sich zum wahren Dauerbrenner. Aufgegriffen haben ihn etwa Angela Merkel, Edmund Stoiber und Guido Westerwelle (1961-2016), aber auch der kurzzeitige Bundesarbeitsminister Franz Josef Jung 2009 in seiner Antrittsrede im Bundestag. Auch fand er in Wahlprogramme Eingang. Seine Kernaussage: Jobs zu schaffen, das alleine sei schon sozial – die Qualität und der Inhalt der Arbeit spielten dabei keine Rolle. Sein kleiner Bruder »Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit« haut übrigens in die gleiche Kerbe.

Verhält sich jemand »sozial«, so wird dieser Person üblicherweise ein mitmenschliches, wohltätiges, uneigennütziges oder empathisches Verhalten zugeschrieben. In der Wirtschaftspolitik gelten Maßnahmen als sozial, wenn sie untere Einkommensgruppen oder benachteiligte Menschen besserstellen. Beispiele dafür sind etwa die Einführung eines Mindestlohns, die Erhöhung von Sozialleistungen oder Maßnahmen zur besseren Inklusion von Menschen mit Behinderung. Auch die Absicherung von Lebensrisiken – wie Krankheit oder Alter – durch öffentliche Sozialversicherungen ist in diesem Sinne sozial. Und nicht zuletzt wäre an die öffentliche Förderung sozialer Infrastruktur zu denken – etwa von Frauenhäusern, Jugendzentren oder Kitas.

Ganz anders denkt, wer den Satz »Sozial ist, was Arbeit schafft« gebraucht. Hier geht es darum, den Begriff des »Sozialen« umzudeuten, der üblicherweise mit eher linkem Denken verbunden ist. Es ist der Versuch, Deutungshoheit darüber zu gewinnen, was als sozial gilt. Und als sozial soll schon das bloße Schaffen eines Arbeitsplatzes gelten. Dabei soll egal sein, wie die Arbeit bezahlt wird, wie die Arbeitsbedingungen aussehen und was produziert wird: Hauptsache Arbeit. So wäre auch die Schaffung von Jobs sozial, von denen man selbst in Vollzeit nicht leben kann. Das Gleiche gälte für Jobs, die krank machen. Auch ethische Bedenken – etwa bei der Produktion von Streumunition – spielten keine Rolle.

Ja mehr noch: Schon wer nur irgendwelche Jobs »schafft«, handle angeblich sozial. Arbeit erscheint so als etwas, das Dankbarkeit verdient. Was dabei übersehen wird: Wer andere Menschen anstellt, macht dies weder aus Menschenliebe noch aus Verantwortungsgefühl. Er oder sie macht es für den eigenen Geldbeutel. Schließlich ist Arbeit im Kapitalismus Quelle von Profit – den sich diejenigen aneignen, die Arbeit »schaffen« (→ Kapitel 32).

Der Spruch »Sozial ist, was Arbeit schafft« ist aber auch aus handfesten wirtschaftlichen Gründen fragwürdig. Denn wenn Politik ihm folgt, so wird sie versuchen, irgendwelche (Billig-) Jobs zu schaffen – mit niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen. Darauf zielen Feld & Co. auch ab, sehen sie in zu hohen Lohnkosten und Regulierungen ja die entscheidende Ursache für Arbeitslosigkeit. Eine solche Politik aber schadet letztlich dem gesellschaftlichen Wohlstand. Der nämlich ist dann am größten, wenn möglichst viele Beschäftigte nicht irgendwo, sondern an möglichst produktiven Stellen tätig sind (→ Kapitel 23). Schließlich stellen sie nur dann die größtmögliche Menge an hochwertigen Gütern und Dienstleistungen her. Warum es »sozial« sein soll, den Wohlstand zu senken, wissen wohl nicht einmal die Befürworterinnen und Befürworter einer solchen Politik.

Erfunden hat die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft den Spruch übrigens nicht. Dieser hat vielmehr eine tiefbraune Vergangenheit. Es war Alfred Hugenberg (1865-1951), Chef der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), der im Sommer 1932 in einer Rundfunkansprache sagte: »Gesunde Wirtschaft bedeutet heute vor allem Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Derjenige ist wirklich und wahrhaft sozial, der Arbeit schafft.« Seine Rolle als Steigbügelhalter der Nazis hatte der Großkapitalist und Medienmogul da längst gefunden.

02:
»Flexiblere Arbeitsmärkte führen zu mehr Arbeitsplätzen!«


Es war einmal eine Stiftung, die sich mit der Unterstützung neoliberalen Gedankenguts schon immer ganz besonders hervortat. So auch 2014, als jene Bertelsmann-Stiftung einen Bericht zur deutschen Arbeitsmarktpolitik veröffentlichte, in dem es unter anderem hieß: »Durch die stärkere Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und von Niedriglohnjobs ist der deutsche Arbeitsmarkt insgesamt flexibler und damit aufnahmefähiger geworden.«

Dieses Loblied zielte auf die so genannte Agenda 2010, ein politisches Programm, das von der früheren rot-grünen Bundesregierung Mitte der 2000er Jahre umgesetzt wurde. SPD und Grüne wollten den Arbeitsmarkt für Unternehmen angenehmer machen: Leistungen für Erwerbslose beispielsweise haben sie gekürzt und mit Strafen bei »Fehlverhalten« unterlegt, den Kündigungsschutz geschwächt, den Niedriglohnsektor ausgeweitet, atypische Beschäftigung erleichtert. Arbeit sollte billiger und flexibler werden. Hierdurch entstünden neue Jobs, hieß es; der Arbeitsmarkt werde »aufnahmefähiger«.

Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. Zwar stieg die Zahl der Erwerbstätigen und der abhängig Beschäftigten in den Jahren nach der Agenda 2010 an. Allerdings war ein nennenswerter Teil dieser Entwicklung schlicht darauf zurückzuführen, dass Arbeit auf mehr Köpfe verteilt wurde. Die Zahl der abhängig Beschäftigten ist in Deutschland zwischen 2005 und 2017 um 14,5 Prozent angestiegen, die Zahl der gearbeiteten Stunden aber nur um 8,5 Prozent.

Und selbst dieser verhaltene Anstieg der Arbeitsstunden war keineswegs auf die Arbeitsmarkt-Flexibilisierung zurückzuführen. Vielmehr wuchsen die Reallöhne in Deutschland damals nach langer Zeit wieder. Der Aufschwung und die positive Beschäftigungsentwicklung seit etwa 2012 waren also ganz wesentlich von der Binnennachfrage getragen. Diese positiven Folgen steigender Löhne widersprachen den Annahmen der Agenda 2010: Ihr zufolge sollten ja niedrigere Arbeits- und Lohnkosten zur Schaffung von Arbeit führen, nicht höhere.

Hinzu kommt, dass Deutschland seit der Agenda 2010 seinen Exportüberschuss stark ausgeweitet hatte. Damit exportierte es seine Arbeitslosigkeit in andere Länder. Eine solche Politik ist weder vernünftig noch nachhaltig, sondern bildet die Saat zukünftiger Krisen (→ Kapitel 46). In den 2000er Jahren trug sie wesentlich zur so genannten Eurokrise bei (→ Kapitel 05).

Berücksichtigt man all dies, dann bleibt vom angeblichen Beschäftigungswunder der Agenda 2010 nichts übrig. Aber auch losgelöst von diesem viel diskutierten deutschen Beispiel kann die These von der beschäftigungsfördernden Wirkung flexibler Arbeitsmärkte nicht überzeugen. Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Philipp Heimberger zeigte 2020, dass die internationale Forschungsliteratur einen Zusammenhang zwischen hoher Arbeitslosigkeit und hohen Arbeitsschutz-Bestimmungen nicht nachweisen kann. Der deutsch-niederländische Ökonom Alfred Kleinknecht belegte 2013, dass die Arbeitslosigkeit in Ländern mit höherer Flexibilität des Arbeitsmarkts durchschnittlich höher ist als in anderen Ländern.

Kleinknecht und der italienische Wirtschaftswissenschaftler Paolo Pini wiesen 2013 auf einen weiteren Zusammenhang hin: Eine höhere Flexibilität des Arbeitsmarkts führt zu einer geringeren gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität (→ Kapitel 23). Überraschen kann das nicht. Denn wenn Arbeit billig und flexibel ist, reduzieren Unternehmen ihre Investitionen in Maschinen und Weiterbildung. Die kosten schließlich Geld, das man sich sparen kann, wenn man Beschäftigte billig und flexibel einstellt und feuert. Für Beschäftigte wiederum ist es in flexiblen Arbeitsmärkten vorteilhafter, Innovationen zurückzuhalten. Diese könnten schließlich ihren Job kosten. Und auch Loyalität und Vertrauen bleiben in unverbindlicheren...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2024
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft Wirtschaft
Wirtschaft Allgemeines / Lexika
Schlagworte Arbeitgeberverbände • Gegenwehr • Gewerkschaften • Ideologie • Interessengruppen • Interessenpolitik • Kapitalismus • Kritik • Lobbyismus • Lohnkämpfe • Marktwirtschaft • Neoliberalismus • Politische Ökonomie • Sozialstaat • Steuerpolitik • Wirtschaft • Wirtschaftspolitik
ISBN-10 3-89438-903-6 / 3894389036
ISBN-13 978-3-89438-903-1 / 9783894389031
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