Von der D-Mark zum Euro (eBook)
238 Seiten
Vahlen (Verlag)
978-3-8006-7511-1 (ISBN)
Eingebettet ist die Darstellung dieses historischen Ereignisses in den Werdegang aus einfachen Verhältnissen über eine erfolgreiche akademische Karriere bis zu einem der maßgeblichen Experten in der Bundesbank und der EZB. Sein Werdegang spiegelt die Geschichte der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis heute wider.
214.
MEINE SCHULZEIT
Die letzten zwei Jahre Volksschule verbrachte ich in Zell. Wir hatten eine strenge Lehrerin, vor der wir alle Respekt hatten. Als ich das Abschlusszeugnis erhielt und die Lehrerin fragte, warum ich in Rechnen – beim kleinen Einmaleins sprach man damals noch nicht hochtrabend von Mathematik – keine Eins bekommen habe, erhielt ich zur Antwort: Hast Du noch nie einen Fehler gemacht? Soviel zur Notengebung in dieser und der folgenden Zeit.
Ich fuhr dann alleine zur Aufnahmeprüfung für das humanistische Gymnasium in Würzburg. In den ersten zwei Jahren musste ich als Fahrschüler zunächst eine weite Strecke bis zum Bahnhof Zell laufen. Für den stets überfüllten Zug war dies der letzte Halt vor Würzburg. Meist habe ich keinen Platz in einem Wagen bekommen, nicht selten war das Trittbrett die einzige Möglichkeit, um mitfahren zu können. In den damals sehr strengen Wintern konnte das nur für eine kurze Strecke gut gehen. Im ungeheizten Klassenraum saßen wir dann im Mantel und versuchten mit klammen Fingern den oft sehr kurzen Bleistiftstummel zu halten. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich jemand beklagt hätte, die Zeiten waren halt einmal so. In 22den ersten zwei Jahren hatten wir überwiegend alte Männer als Lehrer, die man aus dem Ruhestand zurückgerufen hatte – die jungen waren im Krieg gefallen.
Meine Mutter kannte die Situation bei den Zügen und war in großer Sorge, vor allem seit ich einmal mit zerschundenen Knien nach Hause kam, weil ich vom Trittbrett gefallen war. Ihr stetes Drängen bei unserem Dorfpfarrer hatte schließlich Erfolg und ich wurde in das Kilianeum in Würzburg aufgenommen. Ausschlaggebend war mein intensiver Einsatz als Ministrant, handelte es sich doch um eine Einrichtung der Diözese, um den Priesternachwuchs zu fördern. Vom Internat aus gingen wir zum sogenannten alten Gymnasium, in dem die Kilianisten eine große Gruppe bildeten. Es handelte sich zum größten Teil um Bauernkinder aus der weiteren Umgebung, die sich durch gute schulische Leistungen ausgezeichnet hatten und auf Empfehlung des jeweiligen Pfarrers aufgenommen worden waren.
Für mich war das wie eine Erlösung, war ich doch dadurch die meiste Zeit des Jahres dem verhassten Dienst in der Wirtschaft entkommen – auf die Ferien habe ich mich nicht gefreut. Der Regens und die Präfekten führten ein strenges Regime. Am besten in Erinnerung habe ich einen Präfekten, der auch schon mal beim Fußballspielen mit uns im Tor stand, aber bei größeren Verstößen gegen die Hausordnung kein Pardon kannte. Ich habe mir zweimal einige Stockhiebe abgeholt. Ich fand das ganz in Ordnung, nicht zuletzt, weil damit die Sache erledigt war. Nach den zahlreichen Berichten heutzutage über schreckliche Ereignisse in vergleichbaren Einrichtungen muss ich einfach klarstellen: Dieser Präfekt war kein Sadist – ganz im Gegenteil, wir haben ihn als strengen, aber gerechten und stets zugänglichen sympathischen Priester hoch geschätzt.
In meiner fünfjährigen Internatszeit gab es keinen einzigen Fall, in dem von den Vorgesetzten Übergriffe ausgingen. Unter den Schülern sah das schon anders aus. Als Folge des 23Krieges waren die Altersunterschiede in den Klassen und damit die »Kräfteverhältnisse« sehr groß, drei Jahre waren keine Seltenheit. Als Zweitjüngster musste ich mir manches gefallen lassen. Als eine Gruppe der Älteren mit den bei solchen Gelegenheiten üblichen Mitläufern einen Mitschüler schikanierte, habe ich mit heimlich verteilten Drohungen der »Schwarzen Hand« einigen Schrecken erzeugt und das Ende der Schikanen für den Mitschüler bewirkt. Zwar gab es immer wieder kleine Fehden, ich habe jedoch das Internat als eine spannende Zeit empfunden. Ob Fußball oder andere Aktivitäten, es war immer etwas los. Die Oberklässler – ab dem 7. Gymnasialjahr – mussten die Aufsicht an den großen Esstischen und im Schlafsaal übernehmen. Dabei habe ich lernen können, wie man mit einer Mischung aus einer gewissen Strenge und Zuwendung Disziplin schaffen kann, ohne dass die Fröhlichkeit darunter leidet. Mit einem Klassenkameraden hatte ich die Aufsicht in einem Schlafsaal von 40 Zweitklässlern. Da musste man schon gelegentlich dafür Sorge tragen, dass jeder gewaschen und erst nach dem Zähneputzen ins Bett ging. Um 21 Uhr wurde das Licht gelöscht und absolute Ruhe war angesagt. Im Laufe der Zeit habe ich dann angefangen, gegen das Verbot gelegentlich eine kleine Geschichte zu erzählen – bis eines Tages ein anderer Präfekt, den ich wegen seiner nur scheinbar sanften Art nicht ausstehen konnte, typisch für ihn in der Dunkelheit in den Saal geschlichen war und plötzlich vor meinem Bett stand.
Als wir Oberklässler die Erlaubnis erhielten, das Abschlussfeuerwerk des Kiliani-Festes zu sehen, habe ich mit meinem Freund ein kleines Fenster an der Pforte geöffnet, die Tür verschlossen und den Schlüssel mitgenommen. So konnten wir das Feuerwerk von der Höhe über Würzburg beobachten mit der Folge, dass bei unserer Rückkehr das Tor längst abgeschlossen war und alles im Dunkeln lag. Für uns beide kein Problem. Wir stiegen über die Außenmauer und gelangten durch das 24kleine Pfortenfenster dank des Schlüssels in das Haus. Im Schlafsaal schlich ich mich zu meinem Bett in der entfernten Ecke. Welcher Schreck – da saß der besagte Präfekt, den ich in seiner schwarzen Soutane erst im letzten Moment wahrnahm, auf meinem Bett.
Für heutige Ohren sind das läppische Geschichten, für das strenge Regime in diesem Internat war das ein extremer Verstoß. Nachdem sich einige andere – sagen wir Begebenheiten – dazu gesellten, durfte ich nicht bleiben und habe dann dasselbe Gymnasium als »Stadtschüler« besucht. Mir war längst bewusst geworden, dass ich zum Priester nicht tauge. Von den pubertären Gefühlen abgesehen, überkamen mich immer mehr Zweifel an den hohen religiösen Anforderungen, die mir wesentlich erschienen. Ich weiß noch wie heute, dass ich bei einem gemeinsamen Gebet innehielt und zu mir sagte: Nein, das will ich nicht. Es handelte sich um den Satz des Ignatius von Loyola: »Nimm hin, o Herr, meine ganze Freiheit. Nimm an mein Gedächtnis, meinen Verstand, meinen ganzen Willen.«
Eine große Rolle spielte auch die wachsende Distanz zu den Thesen, die uns im Religionsunterricht geboten wurden. Versuche etwa, den Verstand über »Gottesbeweise« anzusprechen, bewirkten in ihrer logischen Dürftigkeit bei mir eher das Gegenteil. Das galt auch für die zur damaligen Zeit wohl üblichen Doktrinen. Unser Religionslehrer, ein älterer Priester, vertrat doktrinär die Meinung, dass nur Getaufte in den Himmel kommen können. Auf meine Frage, es könne doch wohl nicht sein, dass Menschen in anderen Teilen der Welt, die noch nie mit der katholischen Religion in Berührung kommen konnten, damit ohne eigenes Verschulden ausgeschlossen sein sollten, reagierte er sehr unwirsch. Jedenfalls erhielt ich keine befriedigende Antwort. Über solche Erfahrungen hätte man leicht zum Atheisten werden können.
Unter den Lehrern gab es erwartungsgemäß die unterschiedlichsten 25Typen. Von einer, allerdings extremen Ausnahme abgesehen, herrschte zivile Disziplin. Wenn ich nach dem Abschluss der Schule den ehemaligen Biologielehrer sah, habe ich mich wegen der einen oder anderen Dummheit geschämt und besonders freundlich gegrüßt. Eine Ausnahme muss ich jedoch erwähnen. In Deutsch und Geschichte hatten wir in den beiden Klassen vor dem Abitur einen Lehrer, der mir von der ersten Stunde an merkwürdig vorkam. Er hatte wohl als Flüchtling aus dem Osten Europas eine sehr schwierige Zeit hinter sich, von der er aber nur andeutungsweise berichtete. Den Hintergrund seiner für mich eigenartigen Ausführungen habe ich erst verstanden, als ich mir sehr viel später einmal angesehen hatte, welche Auffassungen Personen vertreten haben, die er immer wieder hervorhob. Wegen der häufigen Nennung ist mir der Name Paul de Lagarde hängengeblieben, mit dem wir damals nichts anfangen konnten. Das Wissen um dessen völkisch-antisemitische Veröffentlichungen hat mir nachträglich die Augen geöffnet. Die Unterrichtsmethode des besagten Professors, so sprachen die Schüler an bayerischen Gymnasien ihre Lehrer an, war insofern sehr fortschrittlich, als er zu geschichtlichen Themen immer wieder zwei Schüler bestimmte, die Positionen Pro und Contra zu vertreten hatten. Da sich inzwischen eine spürbare gegenseitige Abneigung entwickelt hatte, bestimmte er mich regelmäßig, die »böse« Seite zu vertreten. So hatte ich zum Beispiel die Rolle eines Bismarckgegners zu spielen. Hatte ich zunächst nur eine vage geschichtliche Vorstellung, habe ich mich dann eingelesen und mit Genuss Bismarcks Verfassungsbruch ausgewalzt. Extrem wurde es dann, als ich den Kommunismus, unter dem er so gelitten hatte, vertreten musste. Ich habe mich entsprechend meiner Rolle gut vorbereitet und meinem Klassenkameraden auf der Gegenseite argumentativ keine Chance gelassen. Das führte dann dazu, dass er, der im gleichen Haus wie meine damalige Freundin 26(und spätere Frau) wohnte, sie vor dem Kommunisten Otmar Issing warnte. Wie mir unser Klassenlehrer, der zu einem väterlichen Freund geworden war, etwa ein Jahr nach dem Abitur erzählte, hatte ich den besten Deutsch-Aufsatz geschrieben und in der Erstkorrektur eine glatte Eins erhalten. Besagter Lehrer bewertete als Zweitgutachter die Arbeit mit der Note Vier. Ich konnte schließlich auch mit der Schlussnote Zwei leben. Auch wenn er mir in verschiedener Weise übel mitgespielt hatte, berührte mich doch sein...
Erscheint lt. Verlag | 12.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Wirtschaft ► Volkswirtschaftslehre |
Schlagworte | Bundesbank • Deutsche Mark • Europäische Zentralbank • EZB • Memoiren |
ISBN-10 | 3-8006-7511-0 / 3800675110 |
ISBN-13 | 978-3-8006-7511-1 / 9783800675111 |
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