Mehr Burokratie, weniger Freiheit (AT) (eBook)
288 Seiten
Wiley-VCH (Verlag)
978-3-527-84299-5 (ISBN)
Mathias Binswanger diskutiert in seinem neuen Buch die Digitalisierung in Zusammenhang mit der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft. Es eröffnet so einen anderen Zugang zur Thematik der Digitalisierung, der erstmals aufzeigt, warum diese die Wirtschaft zunehmend vom Menschen abkoppelt, die Produktivität in der Produktion weiter steigert, gleichzeitig aber zu immer mehr Bürokratie führt und dadurch weiterhin Vollbeschäftigung garantiert. Damit verbunden ist immer mehr Bequemlichkeit, aber auch immer mehr Überwachung und Kontrolle der Menschen und ein erhöhter Zwang zu konformem Verhalten.
Der Autor befasst sich mit grundlegenden Fragen, wie: Wollen wir eine solche Entwicklung tatsächlich? Ist es klug, sich von bestimmten digitalen Lösungen, Systemen oder Prozessen abhängig zu machen, die wir gar nicht mehr durchschauen? Und wie können wir gegensteuern?
Die Antwort lautet: Wir müssen analoge Systeme und Prozesse erhalten, damit Wirtschaft und Gesellschaft resilient bleiben. Es muss weiterhin möglich sein, mit Bargeld zu bezahlen, in selbstgesteuerten Fahrzeugen ohne Überwachungselektronik zu fahren, in nicht smarten Häusern zu leben, oder auf die Verwendung von Gesundheitsapps zu verzichten.
Die Aufrechterhaltung solcher analogen Lösungen ist aber gegen die Logik des Systems. Denn jeder nicht systemkonforme Akt stört die digitalen Optimierungsprozesse. Das wird in nicht allzu ferner Zukunft für erhebliche Konflikte sorgen.
Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er war zusätzlich Gastprofessor an der Technischen Universität Freiberg in Deutschland, an der Qingdao Technological University in China und an der Banking University in Saigon (Vietnam). Mathias Binswanger ist Autor von zahlreichen Büchern und Artikeln in Fachzeitschriften und in der Presse. Gemäß dem Ökonomen-Ranking der NZZ im Jahr 2017 ist Mathias Binswanger auf dem dritten Platz der einflussreichsten Ökonomen in der Schweiz und der Ökonom mit dem meisten Einfluss in der Politik.
Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er war zusätzlich Gastprofessor an der Technischen Universität Freiberg in Deutschland, an der Qingdao Technological University in China und an der Banking University in Saigon (Vietnam). Mathias Binswanger ist Autor von zahlreichen Büchern und Artikeln in Fachzeitschriften und in der Presse. Gemäß dem Ökonomen-Ranking der NZZ im Jahr 2017 ist Mathias Binswanger auf dem dritten Platz der einflussreichsten Ökonomen in der Schweiz und der Ökonom mit dem meisten Einfluss in der Politik.
Einleitung: Wohin steuert die Wirtschaft?
Warum arbeiten Menschen von Tag zu Tag? Über lange Zeit taten sie dies wohl in erster Linie deshalb, weil es für das Überleben notwendig war. Auch galt Arbeit im Christentum und in anderen Religionen als gottgefällig. Die Menschen sahen einen Sinn in der Mühsal ihres irdischen Daseins, weil ihre Existenz sich nicht auf dieses beschränkte. Nach dem Diesseits lockte ein ewiges Jenseits als Belohnung, im Idealfall in Form eines Paradieses. Doch seit der Aufklärung wurden Gott und das mit ihm assoziierte Jenseits nach und nach aus dem Alltag der Menschen verdrängt. »Alle Götter waren unsterblich«, schrieb der bekannte polnische Aphoristiker Jerzy Stanislav Lec. Der Traum vom ewigen Paradies im Jenseits machte der Aussicht auf ein schon im Diesseits verwirklichbares, aber endliches Paradies Platz. Reale Grundlage dieser Aussicht bildete das mit der industriellen Revolution einsetzende Wirtschaftswachstum, welches seither einen immer höheren Wohlstand ermöglichte. Man arbeitete, um das Leben angenehmer zu machen und damit die Kinder es dann später noch besser haben. Und das blieb kein Traum, sondern bewahrheitete sich für viele Menschen in vielen Ländern.
Dieser Traum vom besseren Leben durch mehr Wohlstand einte auch die politischen Parteien von links bis rechts seit dem Zweiten Weltkrieg. Unternehmer setzten sich genau so vehement für Wachstum ein wie Gewerkschaften. Es spielte auch keine Rolle, ob etwa in Deutschland die CDU oder die SPD an der Macht war. Alle wollten ein größeres Stück vom Kuchen, was funktioniert, solange der Kuchen selbst immer größer wird. Die großen politischen Kämpfe drehten sich mehr darum, wie man diesen Kuchen verteilt. Soll derjenige, der angeblich oder tatsächlich viel leistet, den größten Teil beanspruchen dürfen? Oder soll dieser Kuchen unabhängig von Leistung möglichst gleich verteilt werden? Über solche Fragen gab es harte Kämpfe, die bis heute andauern. Aber es gab keine Uneinigkeit in der Frage, ob man mehr materiellen Wohlstand will oder nicht. Das begann sich erst Anfang der 1970er Jahre zu ändern, als die erste Erdölkrise und das Erscheinen des Club‐of‐Rome‐Berichtes Die Grenzen des Wachstums der Euphorie einen ersten, allerdings letztlich kleinen Dämpfer versetzte.
Doch heute hat das Versprechen von immer noch mehr materiellem Wohlstand in hochentwickelten Ländern wie Deutschland oder der Schweiz an Strahlkraft eingebüßt. Wer schon im Wohlstand aufgewachsen ist, kann den Zweck seiner Arbeit kaum mehr in der Erreichung von noch mehr Wohlstand sehen. Das Streben nach ständig höherem Einkommen wird so zunehmend zu einem geistlosen Erfolgsstreben, dem ein kollektiv erkennbarer Sinn fehlt. Immer weniger Menschen glauben ernsthaft daran, dass sie der Konsum von noch mehr Gütern und Dienstleistungen dem Glück auf Erden näherbringt. Ihre grundlegenden materiellen Bedürfnisse sind gedeckt und die Statistiken zeigen, dass die Lebenszufriedenheit der Menschen in hochentwickelten Ländern mit dem Wirtschaftswachstum nicht mehr weiter zunimmt (Binswanger, 2006). Andererseits ist vielen Menschen auch klar geworden, dass Wirtschaftswachstum zu erheblichen Umweltproblemen führt. Besonders die Treibhausgasemissionen und die damit verbundene Klimaerwärmung bieten Anlass zur Sorge.
Trotzdem stellen wir fest, dass der Konsum auch in hochentwickelten Ländern von Jahr zu Jahr weiterwächst, genauso wie auch die gesamte Wirtschaft. Dieses Wachstum wird nur manchmal durch Krisen für kurze Zeit unterbrochen. Woher kommt aber die Antriebskraft zu diesem ungebrochenen Streben nach immer mehr? Es sind in erster Linie die Unternehmen, welche in einer kapitalistischen Wirtschaft das Wachstum vorantreiben. Wenn sie längerfristig überleben wollen, dann müssen sie Gewinne erzielen, weil sie sonst in Konkurs gehen. Wie in dem Buch Der Wachstumszwang (Binswanger, 2019) aufgezeigt wird, kann der gesamte Unternehmenssektor auf die Dauer nur Gewinne erzielen, wenn gleichzeitig ein reales Wirtschaftswachstum stattfindet. Oder anders ausgedrückt: Nur solange das BIP wächst, ist eine Mehrheit der Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich. Findet kein Wirtschaftswachstum mehr statt, dann werden bei immer mehr Unternehmen aus Gewinnen Verluste, und die Wirtschaft gerät in eine Abwärtsspirale. Es gibt deshalb nur die Alternativen Wachsen oder Schrumpfen (siehe Kapitel 2).
Wie kann aber das Wachstum stets weitergehen, wenn die Menschen schon alles haben, was sie brauchen? Das funktioniert nur, wenn mit neuen Produkten und Dienstleistungen auch neue Bedürfnisse geschaffen werden, die ein noch besseres Leben versprechen. In dieser Hinsicht bietet die digitale Transformation eine Vielzahl neuer Optionen. Und nicht nur das. Der rasante technische Fortschritt bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI) schafft gleichzeitig die Möglichkeit, die kapitalistische Wirtschaft zu perfektionieren, indem sich deren Wachstumsdynamik zunehmend verselbstständigt und vom Menschen emanzipiert. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklung liegt einerseits in der mit enormer Geschwindigkeit wachsenden Menge an verfügbaren Daten über Menschen, Systeme und Prozesse (Big Data). Diese Daten ermöglichen andererseits selbstlernenden, auf KI basierenden Algorithmen, Konsum‐ und Investitionsentscheide zu übernehmen. Sie können viel mehr Daten in viel kürzerer Zeit erfassen und verarbeiten, als Menschen dazu jemals in der Lage waren. Daraus lassen sich dann »optimale« Entscheidungen ableiten. Wirtschaftliche Prozesse verselbstständigen sich auf diese Weise und die Wirtschaft wird zu einem KI‐gesteuerten System, welches selbst entscheidet, was optimal und richtig ist. Je perfekter die KI funktioniert, umso weniger kontrollieren und steuern Menschen das System, aber umso mehr werden Menschen durch das System kontrolliert und gesteuert.
Doch in welcher Hinsicht sind die von der KI gesteuerten Entscheide optimal? Letztlich manifestieren sich in den selbstlernenden Algorithmen wirtschaftliche Interessen. KI, wie auch andere Technologien werden nie im interessenfreien Raum entwickelt und eingesetzt. Es geht letztlich darum, mit Innovationen Geld zu verdienen – egal, ob es sich um selbstfahrende Autos, smarte Häuser oder Pflegeroboter handelt. Die Logik der Gewinnmaximierung, welche die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft vorantreibt, bestimmt auch das Verhalten der Algorithmen und beeinflusst deren Entscheide. Diese Entwicklung stört eine Mehrheit der Menschen allerdings wenig. Schließlich bringt uns die digitale Transformation eine Menge an neuen Möglichkeiten, von denen wir früher nur zu träumen wagten. Texte schreiben sich von selbst, Autos fahren von selbst, die Temperatur in der Wohnung reguliert sich von selbst, und der Kühlschrank füllt sich von selbst. Die Begeisterung für KI wird von den Anbietern kräftig geschürt. Vor allem zwei große Versprechen sind damit verbunden: das Versprechen von mehr Bequemlichkeit (Convenience) und das Versprechen von mehr Sicherheit. Für diese Versprechen scheinen Menschen bereit zu sein, sich immer mehr überwachen und kontrollieren zu lassen und Freiheit und Privatsphäre aufs Spiel zu setzen. Solche Prinzipien werden zwar theoretisch hochgehalten, aber in der gelebten Praxis ist ihre Bedeutung bescheiden.
Die digitale Transformation fördert auch eine andere Entwicklung, die wir schon seit längerer Zeit beobachten: den Aufstieg einer neuen Controlling‐Bürokratie. Die Möglichkeit, immer mehr Daten in immer kürzerer Zeit zu erfassen und zu verarbeiten, erlaubt ein immer intensiveres und umfangreicheres Controlling. Auf diese Weise erweitern sich die Optimierungsmöglichkeiten, die sowohl von der Wirtschaft als auch vom Staat gerne wahrgenommen werden. Diese Optimierung erfasst auch den Menschen selbst. Auf KI basierende Algorithmen werden nicht nur verwendet, um Prozesse und technische Systeme zu optimieren, sondern auch, um menschliches Verhalten vorherzusagen, zu beeinflussen und in eine gewünschte Richtung zu lenken. Bei den Unternehmen geht es darum, Produktion und Nachfrage so zu steuern, dass möglichst hohe Gewinne erwirtschaftet werden. Der Staat hat hingegen andere Interessen. Er will seine Bürgerinnen und Bürger zu normierten »Gutmenschen« erziehen, welche Gesetze einhalten, brav ihre Steuern zahlen, Gesundheitsprävention betreiben und sich ökologisch und sozial richtig verhalten.
Weil Wirtschaft und Gesellschaft durch die digitale Transformation gleichzeitig aber immer komplexer werden, steigen wiederum die Anforderungen der Optimierung, was weiteres Controlling bedingt. Es entstehen immer mehr von den unmittelbaren menschlichen Bedürfnissen entfernte Tätigkeiten innerhalb der wachsenden Controlling‐Bürokratie wie beispielsweise Regulatory Compliance Manager, Zertifizierungsauditoren oder Datenschutzbeauftragte. Die Produktion von direkt konsumierbaren und damit von uns als nützlich empfundenen Gütern und Dienstleistungen wie Nahrung, Bekleidung oder Transport erfordert hingegen zunehmend weniger menschliche Arbeit. In modernen Fabrikhallen »arbeiten« hochproduktive Roboter in Symbiose mit immer intelligenteren Algorithmen, und Lastwagen oder Busse werden selbstfahrend. Viele...
Erscheint lt. Verlag | 3.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Wirtschaft ► Volkswirtschaftslehre |
Schlagworte | Arbeit • Automatisierung • Bequemlichkeit • Bürokratie • digitale Transformation • Digitalisierung • Freiheit • Gesellschaft • Internationale Ökonomie u. internationaler Handel • Kapitalismus • KI • Kontrolle • Künstliche Intelligenz • machine learning • Menschen • Ökonomie • Politik • Produktivität • Überwachung • Volkswirtschaftslehre • VWL • Wirtschaft • wirtschaftliche Entwicklung • Wohlstand |
ISBN-10 | 3-527-84299-3 / 3527842993 |
ISBN-13 | 978-3-527-84299-5 / 9783527842995 |
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