Report Globale Flucht 2024 (eBook)
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491989-8 (ISBN)
Vorwort
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt die Zahl der registrierten Schutzsuchenden weltweit zu. Im Jahr 2001 lag sie noch bei rund 40 Millionen. 2023/24 hat sie die Schwelle von 100 Millionen überschritten. Das bedeutet allerdings nicht, dass Fluchtbewegungen vor einem Vierteljahrhundert weniger Relevanz hatten: In der Vergangenheit sind insbesondere »Binnenvertriebene«, also Schutzsuchende, die innerhalb ihres Herkunftslandes vor Gewalt auswichen, deutlich seltener registriert worden als heute.[1] Außerdem wurden die den Berechnungen zugrunde liegenden Definitionen mehrfach geändert und neue Kategorien entwickelt. Absolute Zahlen über Schutzsuchende lassen sich mithin im globalen Kontext über einen längeren Zeitraum kaum sinnvoll miteinander vergleichen, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Umfang der Weltbevölkerung seit dem Jahr 2000 um rund zwei Milliarden Menschen zugenommen hat.
Obwohl also ein kritischer Blick auf die Bedingungen und Effekte der Produktion fluchtbezogener Daten vonnöten ist, bleibt festzuhalten, dass seit Beginn des Jahrtausends die quantitative Bedeutung von Fluchtbewegungen weltweit angewachsen ist. Der bei weitem größte Anteil der Schutzsuchenden in der Welt gelangt dabei nicht in die Europäische Union (EU) oder nach Deutschland. Jedoch stieg auch hier die Zahl der Asylanträge. Hinzu kommen Millionen schutzsuchende Ukrainer:innen, die kein Asyl beantragen mussten. Vor diesem Hintergrund sorgt das Thema Flucht in Europa weiterhin für außerordentlich große Aufmerksamkeit und prägt politische und öffentliche Debatten.
Im Dezember 2023 haben sich Vertreter:innen des Rates der Europäischen Union und des Europäischen Parlaments auf einen von der EU-Kommission vorgelegten Entwurf für eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verständigt. Diesem widmet sich das Fokusthema dieses Bandes.[2] Der Entwurf muss (Stand Januar 2024) allerdings noch vom Rat und vom Parlament verabschiedet werden, anschließend folgen Verhandlungen über die komplexen Durchführungsbestimmungen. Die Reform ist das Ergebnis eines langen Prozesses: Erste Vorschläge lagen bereits 2016 vor, das aktuelle Gesetzespaket folgte 2020 als »Pakt für Migration und Asyl«. Abzuwarten bleibt, ob die geplanten EU-Verordnungen Verfahren vor nationalen Gerichten standhalten und die europäischen Fluchtverhältnisse ändern werden. Ein Kernproblem wird aller Voraussicht nach bleiben, dass die Mitgliedstaaten mehrheitlich weiterhin die verpflichtende Umverteilung von Geflüchteten verweigern.
In diesem Zusammenhang haben verschiedene politische Akteure in Europa Vorschläge eingebracht, um Asylverfahren in Staaten außerhalb der EU auszulagern und anerkannte Flüchtlinge anschließend entweder in den Drittländern zu belassen oder in der EU aufzunehmen.[3] Eine Aufnahme anerkannter Flüchtlinge funktionierte allerdings bisher nur sehr bedingt, wie etwa das Abkommen zwischen der EU und der Türkei vom März 2016 oder die regelmäßigen Appelle des Flüchtlingshochkommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), anerkannte Flüchtlinge umzusiedeln (»Resettlement«), zeigen.
In der Bundesrepublik führte Anfang 2024 das von Vertreter:innen der Alternative für Deutschland (AfD) und deren rechtsradikalen Verbündeten propagierte, nicht ganz neue politische Konzept einer sogenannten »Remigration« von Migrant:innen und Flüchtlingen zu einer breiten zivilgesellschaftlichen Mobilisierung gegen die extreme Rechte. Die völkisch-nationalistischen Pläne reichen von der Ausweisung von Ausländer:innen bis hin zum Entzug der Staatsbürgerschaft von Deutschen, denen ein Migrationsbezug zugeschrieben wird – eine Praxis, die das Grundgesetz nach Artikel 16, außer unter bestimmten engen Voraussetzungen, gar nicht zulässt. Wesentlich für solche Vorstellungen ist der Gedanke, die Lage von Menschen mit sogenanntem »Migrationshintergrund« neben »hohem Anpassungsdruck« auch mit »maßgeschneiderten Gesetzen«[4] massiv zu verschlechtern, um den Abwanderungsdruck zu erhöhen. Dies weckt Erinnerungen an die antijüdischen Maßnahmen im nationalsozialistischen Deutschland, die darauf abzielten, Jüdinnen und Juden zu marginalisieren und zu vertreiben. Auch den Entzug der Staatsbürgerschaft praktizierte schon der NS-Staat mit dem Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit von 1933 und der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1941. Im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 hieß es bereits, dass »alle Nicht-Deutschen, die seit dem 2. August 1914 in Deutschland eingewandert sind, sofort zum Verlassen des Reiches gezwungen werden« sollten. Letzteres zielte insbesondere auf die Flüchtlinge des Ersten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die in einer solchen Tradition stehenden rechtspopulistischen und rechtsextremen Konzepte führten dazu, dass der ursprünglich wissenschaftliche Begriff »Remigration« in kürzester Zeit zu einem politischen Kampfbegriff mutierte. So unverdächtig das »Unwort des Jahres« 2023 klingen mag, aus völkisch-nationalistischer Perspektive meint es Vertreibung und Deportation.
Gegenwärtig prägen elf große Kriege und Konflikte die globalen Fluchtverhältnisse: in der Ukraine, in Syrien, in Venezuela, im Südsudan, in Myanmar/Bangladesch, im Sudan, im Gaza-Streifen, in der Demokratischen Republik Kongo, in Somalia, in der Zentralafrikanischen Republik und in Eritrea (in der Reihenfolge der Anzahl von Geflüchteten). Die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group listet insgesamt nicht weniger als siebzig Krisen und Konflikte sowie dreißig weitere Risikosituationen weltweit auf. Fluchtursachen liegen in aller Regel in Konflikten innerhalb von Staaten begründet, wenn auch oft unter Einmischung anderer Staaten. Zwischenstaatliche Kriege, wie sie aktuell etwa zwischen Russland und der Ukraine oder Aserbaidschan und Armenien zu beobachten sind, bleiben eine Ausnahme.
Die kriegerischen Ereignisse in der Ukraine[5] und im Gaza-Streifen prägen die Debatten in Europa gegenwärtig besonders. Andere bewaffnete Konflikte mit zum Teil wesentlich mehr Opfern, wie etwa in Syrien[6], im Sudan, in der DR Kongo[7] oder in Venezuela[8], haben demgegenüber weitaus weniger gesellschaftliche Debatten ausgelöst. Auch die Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Fluchtverhältnisse in Afghanistan[9], Äthiopien[10] und Myanmar/Bangladesch[11] trat 2023 in den Hintergrund.
In Hinsicht auf die Wahrnehmung des russischen Angriffs auf die Ukraine verhindert weiterhin das Nachwirken des »Kalten Krieges« und das Denken in Einflusssphären des 19. und 20. Jahrhunderts eine kritische Auseinandersetzung mit Russland als autoritärem Aggressor und als bedeutendem Verursacher globaler Fluchtbewegungen. Erinnert sei etwa an die Besetzung Tschetscheniens und die Zerstörung der Hauptstadt Grosny ab 1999. Selbst die russische Intervention in Syrien seit Herbst 2015, insbesondere die Bombardierung Aleppos durch russische Kampfflugzeuge, die maßgeblich zur verstärkten Flucht nach Europa 2015/16 beitrug, löste in weiten Teilen der Welt ungleich weniger Empörung und Solidarität aus, als die militärische Intervention Israels im Gaza-Streifen in Reaktion auf den Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.
Der aktuelle Konflikt im Gaza-Streifen geht historisch zurück auf den Ersten Weltkrieg – auf die Auflösung des russischen, österreichisch-ungarischen und osmanischen Imperiums. Die nachfolgende Bildung neuer Nationalstaaten hinterließ mit den Worten von Hannah Arendt eine »Nation der Minderheiten und das Volk der Staatenlosen«, wobei sie Staatenlose mit Flüchtlingen gleichsetzte.[12] Zwischen 1880 und 1945 flüchteten aufgrund von Verfolgung, Pogromen und dem Holocaust etwa 600000 Jüdinnen und Juden aus Europa nach Palästina. Dort wurde 1947 der Staat Israel gegründet. Von 1945 bis heute wanderten 1,3 Millionen Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion beziehungsweise Russland nach Israel ein, vor allem aufgrund der Unterdrückung jeglicher jüdischer Kultur.[13] Im selben Zeitraum flohen weitere etwa 850000 Jüdinnen und Juden vor Verfolgung aus verschiedenen arabischen beziehungsweise islamisch geprägten Staaten nach Israel. Dies kam, da kaum mehr Jüdinnen und Juden in muslimisch geprägten Ländern leben, einer weitreichenden Vertreibung gleich. Aufgrund dieser Vorgeschichte gilt Israel manchen Beobachtern als »Staat der Flüchtlinge«.[14] Zugleich ging der Staatsgründungsprozess Israels samt dem arabisch-israelischen Krieg 1948 mit umfangreichen Vertreibungsaktionen einher, in dessen Folge rund 750000 palästinensische Araber:innen vertrieben wurden.
Für die Araber:innen in dieser Region konnten sich in den späten 1940er Jahren die beteiligten Parteien (die arabischen Staaten, die palästinensischen Organisationen und die vormaligen westlichen Kolonialmächte) nicht auf einen eigenen Staat einigen. Palästinenser:innen, wie sie im Sinne der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) seit den 1970er Jahren üblicherweise bezeichnet werden, blieben eine der letzten Gruppen aus der »Schar von Flüchtlingen und Staatenlosen«[15] in der Folge der Auflösung der europäischen Kolonialreiche und des osmanischen...
Erscheint lt. Verlag | 29.5.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Wirtschaft |
Wirtschaft ► Allgemeines / Lexika | |
Schlagworte | Asyl-Antrag • Asylbewerber • Asylpolitik • Emigration • EU-Innenrat • Flüchtende • Flüchtlings-Krise • Flüchtlingspolitik • Frontex • Geflüchtete • Gemeinsames Europäisches Asylsystem • Grenzen • Klima-Flüchtlinge • Krisenverordnung • Migration • Migrationshintergrund • Migrations-Krise • Migrationspolitik • Schengen • Verfolgung • Vertreibung • Willkommens-Kultur • Zuwanderung |
ISBN-10 | 3-10-491989-5 / 3104919895 |
ISBN-13 | 978-3-10-491989-8 / 9783104919898 |
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