Die Renaissance des Marxismus -  Denis Jdanoff

Die Renaissance des Marxismus (eBook)

Thorsten Krings (Herausgeber)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
186 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-037418-8 (ISBN)
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Spätestens mit der Wende 1989 wurde die politische, moralische und vor allem ökonomische Unterlegenheit des 'real existierenden Sozialismus' unübersehbar. Nach seinem Zusammenbruch verloren auch Karl Marx und seine Thesen massiv an Zustimmung und Interesse. Aber er verschwand nie endgültig aus der politischen Diskussion, seit den Krisenjahren 2007/08 gewinnen die Ideen des wohl wichtigsten deutschen Ökonomen sogar wieder an Popularität. Dieser Band will aufzeigen, warum ein neuer Sozialismus für viele möglich und sogar wünschenswert ist, aber auch prüfen, was Karl Marx zur Lösung aktueller Probleme wie Ökologie, Globalisierung und Ungleichheit beitragen kann.

Prof. Dr. Denis Jdanoff lehrt Wirtschaftspolitik und Führung an der DHBW Heilbronn.

Prof. Dr. Denis Jdanoff lehrt Wirtschaftspolitik und Führung an der DHBW Heilbronn.

Einleitung


Ein Gespenst geht um in Europa,
das Gespenst des Kommunismus.
(MEW Bd. 4, S. 461)

Karl Marx ist bis heute, wenn nicht der bedeutendste, dann auf jeden Fall der bekannteste deutsche Soziologe, Ökonom und Philosoph. Er lebte von 1818 bis 1883 und war Zeitgenosse der Industriellen Revolution. Deren negative Seiten, vor allem für Arbeiter und Unterprivilegierte, haben sein Denken und seine Schriften nachhaltig beeinflusst. Mit Hilfe seines Mitstreiters und Förderers Friedrich Engels hinterließ er ein umfangreiches Werk. Seine Texte, nicht nur sein Hauptwerk „Das Kapital“, sind allerdings schwer lesbare, komplexe Abhandlungen. Wohl auch deshalb wurde seine Theorie nur von wenigen eingehend studiert. Das gilt interessanterweise auch, wenn man selbsterklärte Marxisten trifft. Es besteht also ein spürbares Ungleichgewicht zwischen der Popularität des Marxismus und dem Wissen über ihn. Dennoch hat er unsere Wahrnehmung der Wirtschaftsgeschichte stärker geprägt, als uns vielleicht bewusst ist. So haben wir uns daran gewöhnt, sie als Abfolge von ökonomischen Epochen zu betrachten. Vor allem aber hat er die Idee der Endlichkeit der Marktwirtschaft als sozioökonomische Ordnung in unserem Bewusstsein verankert. Seine Lehre vermittelt uns das Gefühl, sogar die Hoffnung, dass jenseits des Kapitalismus eine bessere, gerechtere Welt möglich ist.

Dabei war Marx nicht der Erste, der über die Realität seiner frühkapitalistischen Epoche hinausdachte und eine radikale Utopie entwickelte. Bereits im 16. und 17. Jahrhundert hatten Thomas Morus und Tommaso Campanella solche Ideen formuliert. Ebenso hat er den Sozialismus keineswegs erfunden, sondern auf bereits vorhandene Konzepte aufgesetzt. Diese stammen vornehmlich aus der Epoche der Französischen Revolution, die 1789 das Ende der Jahrhunderte währenden monarchistischen Ordnung in Europa einläutete. Die traditionellen Vorstellungen von gesellschaftlicher Organisation hatten sich plötzlich aufgelöst, die Zukunft schien für neue Ideen weit offenzustehen. Eine ganze Denkschule lehnte den damaligen individualistischen und kompetitiven politischen „Mainstream“ ab. Frühsozialistische Denker wie Saint-Simon, Owen, Fourier, Blanc oder Lasalle entwarfen ein davon abweichendes Ideal. Sie alle träumten von der gruppenbezogenen, gemeinsamen Gestaltung einer sozial ausgeglichenen Gesellschaft. Karl Marx steht in dieser Tradition, deren Thesen er weiterentwickelt und stärker soziologisch verankert hat (Euchner 1982, S. 81).

Aber diese Vordenker des Sozialismus sind weitgehend in Vergessenheit geraten und nur noch ausgewiesenen Spezialisten ein Begriff. Marx hingegen ist auch heute noch in weiten Bevölkerungskreisen bekannt. Seine Thesen − oder was man dafür hält − werden weiterhin oder wieder diskutiert. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Eine maßgebliche Erklärung für seine anhaltende globale Popularität sind sicherlich die sozialistischen Experimente in allen Teilen der Welt. Andererseits war spätestens Ende der 1980er Jahre das monumentale Scheitern des „real existierenden Sozialismus“ offenkundig. Dies hätte auch ihn als Ideengeber endgültig aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängen können. So meldeten sich Autoren aus verschiedenen Disziplinen mit skeptischen Publikationen zu seinen Ideen und deren Resultaten zu Wort. Dazu gehörten die Ökonomen Kristian Niemietz und Malte Faber, der Philosoph Thomas Petersen und der Historiker Gareth Stedman Jones.

Aber aller Kritik zum Trotz − Karl Marx und seine Idee des Sozialismus sind immer noch da. Selbst in den 1990er Jahren blieben ihm einige überzeugte Anhänger treu und sahen weiterhin seine Relevanz, zum Beispiel Ulrich Menzel oder Jacques Derrida:

Es wird immer ein Fehler sein, Marx nicht zu lesen, ihn nicht wiederzulesen und über ihn nicht zu diskutieren. (…) Ohne das wird es keine Zukunft geben. Nicht ohne Marx, keine Zukunft ohne Marx. (Derrida 1995, S. 32)

Auch in den 2000er Jahren blieb er in politischen Fragen präsent, der Spiegel hob ihn 2005 mit der Zeile „Ein Gespenst kehrt zurück“ auf den Titel. Aber erst in den 2010er Jahren, nach der letzten Finanzkrise, nahm die Renaissance des Marxismus richtig Fahrt auf. Autoren wie Samir Amin oder Paul Mason versuchten, ihn und seine Thesen in die heutige Zeit zu übertragen. An den Titeln vieler damals zu Marx erschienenen Bücher lässt sich leicht die Position der Verfasser erkennen. So bei Jürgen Kromphardt („Zur Aktualität von Karl Marx“), Jon D. Wisman („Why Marx still matters“), Fritz Reheis („Wo Marx Recht hat“), Terry Eagelton („Warum Marx Recht hat“) oder Jürgen Neffe („Marx. Der Unvollendete“). Die Marx-Sympathisanten oder Neomarxisten bekräftigten also ihre weiter bestehende Bindung an seine Ideen.

Dieses Buch ist der Frage gewidmet, wie sich diese offensichtlich andauernde Attraktivität erklären lässt. Warum spricht Jürgen Neffe von Marx’ Unsterblichkeit (Neffe 2017, S. 21)? Inwiefern sind der Marxismus und seine modernen Interpreten auch heute noch relevant? Haben sie tatsächlich Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft? Das sind die zentralen Fragen dieses Textes.

In Kapitel 1 ist zum Einstieg ein historischer Rückblick sinnvoll, um die negative Wahrnehmung des Marxismus zur Wendezeit nachzuvollziehen. Dazu wird analysiert, welche ökonomischen Ursachen und sozialen Auswirkungen das Scheitern des „real existierenden Sozialismus“ hatte (► Kap. 1.1). Weiterhin wird herausgearbeitet, welche Fehleinschätzungen und Irrtümer bei Karl Marx erkennbar sind. Inwiefern hatten sich Wirtschaft und Gesellschaft anders entwickelt, als er vorhergesagt hatte? (► Kap. 1.2). Im Westen führte der Sieg im Kalten Krieg zu einem Gefühl der historischen Überlegenheit. Viele waren überzeugt, dass Demokratie und Marktwirtschaft sich nun weltweit durchsetzen würden. Zu Ihnen gehörte auch Francis Fukuyama, dessen These vom Ende der (Ideen-)Geschichte eine nähere Betrachtung verdient (► Kap. 1.3).

Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem Paradox, dass die Ablehnung von Marxismus und Sozialismus nicht so stabil und konsequent waren, wie man 1989 hätte erwarten können. In Osteuropa hatten die radikalen Reformen auch negative Seiten des Kapitalismus gezeigt. In der Folge kam es dort zu ersten Zweifeln (► Kap. 2.1). Parallel dazu war die Linke in den westlichen Industrieländern zwar stark geschwächt, aber weiter aktiv. Neue Themen wie die Macht der Finanzwirtschaft oder die Klimakrise konnten alte und neue antikapitalistische Aktivisten mobilisieren (► Kap. 2.2). Einer ihrer Ideengeber war der als „neuer Marx“ bezeichnete Thomas Piketty (► Kap. 2.3).

Im Zentrum von Kapitel 3 steht die Frage, warum linke Autoren weiterhin an das unweigerliche Ende des Kapitalismus und die Realisierung von Marx’ Ideen glauben. Einerseits negieren sie seine Schuld an allem Negativen, was die sozialistische Realität hervorgebracht hat (► Kap. 3.1). Andererseits sehen sie eine Reihe von Gründen, warum die Marktwirtschaft krisenanfällig ist. Diese reichen von internen Widersprüchen (► Kap. 3.2.1), über eine Verschärfung sozialer Konflikte (► Kap. 3.2.2) oder die Finanzkrise (► Kap. 3.2.3) bis zur Lage in den Schwellenländern (► Kap. 3.2.4) und die Themen Ökologie und Klimakrise (► Kap. 3.2.5). Warum muss der Kapitalismus ihrer Meinung nach daran scheitern? Was kann Karl Marx zu diesen durchaus aktuellen Themen beitragen?

Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem Traum der Neomarxisten von einer letztendlichen Verwirklichung ihrer Überzeugungen. Zunächst werden die Vorstellungen von Marx und seinen Sympathisanten zur Gesellschaft im Sozialismus und Kommunismus beschrieben (► Kap. 4.1). Anschließend wird untersucht, ob aus der globalen Arbeiterschaft überhaupt noch ausreichend revolutionäres Potenzial für eine „neue Internationale“ entstehen kann (► Kap. 4.2). Dann liegt der Fokus auf der aktuell viel diskutierten Transformation durch Automatisierung und Digitalisierung. Kann diese Entwicklung neue Chancen für Marx’ Thesen eröffnen? (► Kap. 4.3). Zum Abschluss betrachten wir das bisher letzte sozialistische Experiment, nämlich Venezuela während der Regierungszeit von Hugo Chávez (► Kap. 4.4).

Wichtig sind mir zwei Einschränkungen: Die erste ist, dass ich mir nicht anmaße, eine formal-wissenschaftliche Darstellung des Marxismus zu verfassen. Ich möchte lediglich dessen wichtigste Grundthesen herausarbeiten, als gemeinsame Basis für die Beleuchtung des gewählten Themas. Vieles werde ich daher weglassen müssen, anderes stark verkürzt darstellen. Wenn jemand im Anschluss an die Lektüre dieses Buches tiefer in die Gedankenwelt von Karl Marx und Friedrich Engels eintauchen möchte, so ist das nur zu begrüßen. Denn die Popularität des Marxismus beruht zu einem großen Teil auf Unkenntnis oder Halbwissen bzgl. Marx und seiner Theorie. Es gibt eine unüberschaubare Vielfalt an Literatur dazu, daher möchte ich für den Einstieg drei Autoren empfehlen: Die Klassiker Walter Euchner und Eric Hobsbawm sowie als aktueller Michael Heinrich. Die zweite Einschränkung ist, dass ich im Text ausschließlich Karl Marx als Verfasser nennen und damit die Co-Autorschaft von Friedrich Engels „unterschlagen“ werde. Ich möchte damit keineswegs seinen Beitrag in Frage stellen, eine tiefere Analyse der jeweiligen Einflüsse würde jedoch den Rahmen dieses Textes sprengen.

Nun tauchen wir in das Jahr 1989 ein, in eine Zeit, als Marx und seine Lehre auf dem „Schutthaufen der Geschichte“ (Haller 2018) gelandet waren. Wir beginnen...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2023
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Thorsten Krings
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Wirtschaft Volkswirtschaftslehre
Schlagworte Globalisierung • Krise • Marktwirtschaft • Planwirtschaft • Verteilungskonflikte
ISBN-10 3-17-037418-4 / 3170374184
ISBN-13 978-3-17-037418-8 / 9783170374188
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