Glänzende Zeiten (eBook)
208 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12239-8 (ISBN)
Adam Soboczynski, geboren 1975 im polnischen Toru?, lebt in Berlin und Hamburg und leitet das Ressort Literatur im Feuilleton der ZEIT. Er schrieb mehrere erzählerische Sachbücher, darunter »Die schonende Abwehr verliebter Frauen«. Seine Werke wurden ins Spanische, Französische, Polnische, Italienische und Niederländische übersetzt. 2015 erschien sein Roman »Fabelhafte Eigenschaften« bei Klett-Cotta.
Adam Soboczynski, geboren 1975 im polnischen Toruń, lebt in Berlin und Hamburg und leitet das Ressort Literatur im Feuilleton der ZEIT. Er schrieb mehrere erzählerische Sachbücher, darunter »Die schonende Abwehr verliebter Frauen«. Seine Werke wurden ins Spanische, Französische, Polnische, Italienische und Niederländische übersetzt. 2015 erschien sein Roman »Fabelhafte Eigenschaften« bei Klett-Cotta.
3 Helligkeit
Meine Jugend war unfassbar düster. Ich erinnere mich noch genau an den außerhalb des Bauernhofs gelegenen Abort meiner Großeltern, zu dem ich mich nachts nur mit namenloser Furcht hinbewegte, da keine Lampe den Schotterweg beleuchtete. Ich erinnere mich an die Höhlen aus Holzstöcken und Decken, die ich mir im Zimmer provisorisch baute, um darin mich zu verstecken vor der herannahenden Erwachsenenwelt. An die dunkelsten Unterführungen und Hinterhöfe, in denen Tore geschossen wurden, bis die Nachbarn aus den Fenstern lugten und sich lauthals über das Ballspiel beschwerten, an die holzvertäfelten Kneipen der Pubertät, an darin von Kerzenlicht bestrahlte Gesichter, denen jede Glühbirne die Schönheit geraubt hätte. Im Kerzenlicht konnte, so die Hoffnung, Sabine, die in der Schule einen Jahrgang über mir und für alle unerreichbar war, weder Akne noch Fahrigkeit erahnen.
Ja, so finster war es noch vor nicht einmal zwanzig Jahren, dass man, wie sich jeder erinnert, das Haus nach dem Abendessen immer nur mit einer Taschenlampe verließ, wie sie auch schon an manchen wolkenverhangenen Tagen überaus nützliche Dienste tat. In den Geschäften hingen 20-Watt-Glühbirnen, wenn überhaupt, weshalb man das Paar Schuhe, das man sich zuzulegen gedachte, zunächst tastend begutachtete und es sich dann ganz nah ans Gesicht hielt, um es beschauen zu können. Die Decken der Wohnzimmer waren, den Kneipen gleich, mit Holz verkleidet, auf der Wandtapete sah man den Schwarzwald, der Teppich war, als einziger Lichtblick im restlichen Inventar, von einem nicht allzu dunklen, melierten Grau.
Ja, selbst noch das Einkaufszentrum unserer Stadt, die sich rühmen konnte, eines der ersten Einkaufszentren Deutschlands überhaupt zu haben, das man auf einem von schweren Luftangriffen zerstörten Gelände errichtet hatte (auf welchem zuvor das Artillerie-Depot des VIII. preußischen Armee-Korps stand), wurde zu einem Tempel der Helligkeit erst nach entschiedenen Renovierungen späterer Jahre, indem alles Nichtgleißende und Nichtspiegelnde in den Innenräumen mit Eifer abmontiert wurde und es nunmehr darin einem scheint, als sei die Schrecksekunde des Blitzlichts verewigt. Heute zeugt nur noch die in ganz unzeitgemäßem Braun gekachelte Außenfassade von der dunklen Vergangenheit.
Im Leben gibt es bekanntermaßen Zufälle, die man niemals in einem Roman oder Film darstellen würde, da sie als viel zu unwahrscheinlich angesehen würden. Als viel zu unwahrscheinlich, um es zu erzählen, muss jedenfalls zweifellos angesehen werden, dass ich Sabine, die in ihrer Schulzeit für alle unerreichbar war, beinahe fünfzehn Jahre später in einer ganz anderen Stadt, in einem mir bis heute unfasslichen Zusammenhang wiedertraf.
Der Freund, der erfolgreich etwas mit Kultur macht, hatte vor längerer Zeit am Telefon, nach einer ihn aufs Äußerste belastenden Phase der Beziehungslosigkeit, während der er in den unglücklichsten nächtlichen Unternehmungen auf Abhilfe seines Status drängte, in entrückter Weise von einer ihn auf der Vernissage eines Künstlers, der (in Fachkreisen durchaus gerühmte) düster-surreale Bilder malte, anlächelnden Frau gesprochen, die er, entgegen seinem gewohnt forschen Auftritt, sich anzusprechen nicht traute. Sabine selbst hatte ihn angesprochen, als die beiden schließlich wie ganz zufällig und in ernsthafter Versenkung gemeinsam vor einem Bild standen, das einen Raben am Strand zeigte, der auf eine ganz verlorene Weise vor wolkenverhangenem Himmel im Sand herumpickte. Auch auf den anderen Bildern in den Ausstellungsräumen sah man Strände, mit jeweils unterschiedlichen Tieren, die lagen, krochen oder standen.
Wie Leonora Carrington, sagte Sabine nur, den Raben betrachtend. Ganz geistesabwesend und wie nur zu sich selbst, woraus sich aber rasch ein Wortwechsel entspann, zunächst Kunstgeschichtliches betreffend, der, sozusagen umstandslos, wie man im Rückblick weiß, in eine langjährige Beziehung mündete.
Es war, wie sich denken lässt, als ich das Paar vor einigen Jahren in einem Café verabredungsgemäß traf, in dem vorzugsweise Salat mit hauchdünnen Ziegenkäsescheiben serviert wurde und das von gleißend heller Innenbeleuchtung geprägt war, die Überraschung natürlich mehr als groß. Wir erkannten uns sogleich wieder und standen mit weit aufgerissenen Augen voreinander, was der Freund, der erfolgreich etwas mit Kultur macht, unwissend, wie er war, nur mit erheblichem Stirnrunzeln kommentierte. Sie hatte sich kaum verändert, gewiss hier und da ein Fältchen, ansonsten: dasselbe, schon vor fünfzehn Jahren alle ihre Mitschüler verwirrende, ganz helle, ganz stark an Porzellan und entsprechende Puppen erinnernde Gesicht.
Es war jedenfalls, um den Exkurs zu vollenden, dieses ganz unwirklich grell ausgestrahlte Café gewesen, in dem mir überhaupt erst klar geworden ist, wie sehr sich die Welt doch aufgehellt hat. Das letzte Mal, als ich Sabine getroffen hatte, war es so dunkel gewesen, dass man sich in der Kneipe, die wir aufgesucht hatten, betasten musste, um sich zu erkennen. Damals, dachte ich, war ich kaum zu sehen gewesen. Jetzt saß ich wie ausgezogen vor ihr.
Hatte ich zugenommen seither?, fragte ich mich. Nur ein bisschen, sagte ich mir. Unmerklich. Das kommt vom bewegungsfeindlichen Schreiben. Wunderte sie sich über meine Augenringe, die, wie ich noch heute denke, vom schadhaften Sich-Hineinbohren in die Dinge herrühren? Ausgerechnet die vergangene Nacht hatte ich noch arg spät an einem Porträt über einen Soziologen gesessen, der über die gesellschaftliche Rolle des Alkohols forschte, ein mir aus mancherlei Gründen interessanter Gegenstand. Der Artikel ging mir gar nicht gut von der Hand. Ganz spät hatte ich noch an dem Artikel gesessen, panisch die schlimmsten Schlampigkeiten darin entdeckt, durch Umstellen einiger Passagen hektisch ihn noch zu retten versucht usw. und dann sehr schlecht und kurz geschlafen. Wie vernichtet, dachte ich, sitze ich vor Sabine, während sie die Zeit, wie mir schien, unberührt gelassen hat, abgesehen von den ganz feinen Fältchen, vor allem an den Mundwinkeln.
Früher hätte mich Sabine nur an der Stimme erkannt oder durch Betasten, was ja ein übliches Verfahren war, um sich zu vergewissern, wer vor einem saß. Jetzt, sagte ich mir, ist, damit es nicht einmal mehr Rückzugsräume gibt, damit man sich gar nicht mehr verstecken kann, auch noch alles gläsern geworden. Wir saßen natürlich an einer gläsernen Fensterfront des Cafés, die das Innere vom Äußeren nur unmerklich trennte. Passanten blickten uns wie etwas unspektakuläre Zootiere beiläufig an. Dieses Café ist gläsern, dachte ich, die Hochhäuser sind gläsern, die Bürotüren in den Hochhäusern sind gläsern, das Parlament hat eine durchsichtige Kuppel. Restlos demokratisiert, dachte ich noch, sind die Räume, die keine Deckung mehr bieten vor dem Blick des Nächstbesten.
Es muss etwa ein Jahr nach dem Treffen in dem unwirklich grell ausgeleuchteten Lokal gewesen sein (in das überdies noch die Sonne hineinschien), dass ich in einem Buch las, wie stark doch einst der Widerstand gegen das künstliche Licht gewesen war. Die Straßenlaternen, als sie der absolutistische Herrscher einst mit Seilen zwischen die Häuser hängen ließ, wurden mit Steinen beworfen. Finster waren die Nächte zuvor gewesen, nur kleine Lampen an den Häusern hatten den Wächtern der Stadt etwas Orientierung geboten. Der Fürst erleuchtete sie mit einem Mal, es strahlte der Sonnenkönig noch zur Schlafenszeit auf sein Volk herab, sein Blick drang noch in die letzten Nischen, was man sich nicht bieten ließ. In den ersten Revolutionswochen hängte man seine Anhänger dann wie selbstverständlich an jene Vorrichtungen, an denen zuvor die Laternen der Macht hingen. Und auch in den späteren Straßenkämpfen des 19. Jahrhunderts war die Laternenzerstörung beliebt. Sie war das Pendant zum Barrikadenbau aus Pflastersteinen: Wo dem Gegner nicht der Weg versperrt wurde, da nahm man ihm die Sicht. Der Kampf gegen das künstliche Licht war ein Kampf gegen die Kontrolle des Herrschers, gegen die Erspähung des Körpers, gegen die Enttarnung des Partisanen.
Das künstliche Licht ist erbarmungslos und eindeutig: Jede Falte wird sichtbar, Ringe unter den Augen, die ungesunde Blässe des Kranken, die Adern des Säufers. Hervorragend geeignet für Verhöre ist die grell scheinende Lampe, die man dem Inhaftierten ins Gesicht hält, ihm so lange den Schlaf raubt, bis er gesteht. Und ich weiß noch sehr genau, wie ich, als wir in dem ganz grell ausgeleuchteten Café herumsaßen, nur mühsam ins Gespräch findend, mir wünschte, dass die menschenfreundliche Nacht über uns hereinbreche. Die Nacht, die unser Alter verheimlicht und das verwischte Make-up, die...
Erscheint lt. Verlag | 16.9.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Wirtschaft ► Allgemeines / Lexika | |
Schlagworte | Anpassung • Askese • Eitelkeit • Kommunikation • Rollenbilder |
ISBN-10 | 3-608-12239-7 / 3608122397 |
ISBN-13 | 978-3-608-12239-8 / 9783608122398 |
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