Die entfaltete Organisation (eBook)
287 Seiten
Vahlen (Verlag)
978-3-8006-7024-6 (ISBN)
Im Jahr 2019 erschien das Buch 'New Work needs Inner Work' und wurde von den Leserinnen und Lesern begeistert aufgenommen. Bei Vorträgen, Seminaren und Coachings erhielten die Autorinnen vielen Ideen und Anregungen.
Nur drei Jahre nach dem Erscheinen von New Work needs Inner Work leben wir in einer Welt, die nicht nur komplexer, sondern auch wesentlich unsicherer ist. Inmitten von Stapelkrisen brauchen wir mehr denn je neue Kompetenzen und innere Klarheit. Unsere aktuellen Herausforderungen sind Ausdruck eines tiefgreifenden Paradigmenwechsels. Dadurch verändert sich die Welt der Arbeit, aber auch die Gesellschaft als Ganze. Wie können wir in unseren Organisationen und Unternehmen die Selbstentfaltung der Welt begleiten und fördern? Und welche Rolle spielt Inner Work für die Gestaltung unserer Zukunft? Die entfaltete Organisation zeigt Dir, wie Du Inner Work dauerhaft in Deiner Organisation verankerst. Gemeinsam verlassen wir die Backsteinfabrik des 19. und 20. Jahrhunderts, ein Gebäude, in dem die Mehrheit der Menschheit sowieso nie einen Platz hatte, und betreten einen neuen, stimmigeren Raum. Diese neue Heimat ist analog und virtuell, größer und komplexer, nicht -linear und ständig in Bewegung. In ihr eröffnen sich uns bessere Lösungen, mehr Wahlfreiheit, tiefere Beziehungen und klarer Purpose.
War 'New Work needs Inner Work' eine 2D-Betrachtung, fügt 'Die entfaltete Organisation' eine dritte Dimension hinzu.
Die Autorinnen
Joana Breidenbach ist promovierte Kulturanthropologin, Autorin, Sozialunternehmerin und Mitgründerin von u.?a. betterplace.org und dem betterplace lab. Mehr zu ihr unter joanabreidenbach.de.
11Warum schreiben wir dieses Buch?
Only big changes will lead to positive futures.
Lucy Bernholz
Liebe Leser:in, wir heißen Dich herzlich willkommen. Auf eine Reise in die Zukunft Deiner Arbeit, die auch eine Reise in die Überlebensfähigkeit der Menschheit und unseres Planeten ist. Das klingt erst einmal grandios, gar größenwahnsinnig und vielleicht fragst Du Dich, was Deine Arbeit mit der Menschheit zu tun hat und welche Rolle Dein Unternehmen, Deine Anstellung in diesem planetarischen Spiel einnehmen könnte? Es ist gut, wenn die Frage auftaucht, denn die Antwort darauf möchten wir in diesem Buch gemeinsam mit Dir herausfinden.
Die Weltgemeinschaft ist an einer Kreuzung angekommen und die Handlungen oder Unterlassungen der nächsten Jahrzehnte im wirtschaftlichen, politischen, aber auch zivilgesellschaftlichen und privaten Leben werden maßgeblich darüber bestimmen, in was für einer Welt wir und unsere Nachkommen leben werden. Mit unserem Verhalten und unserer Haltung werden wir entweder die gegenwärtigen Stapelkrisen verstärken und damit Gefahr laufen, die Menschheit an sich zu vernichten, oder wir entziehen lebensfeindlichen Strukturen unsere Energie, unser „Chi“, und suchen bewusst nach Prinzipien, Haltungen und Verhaltensformen, auf deren Basis wir regenerative Wirtschaftsformen gestalten, inklusive Politik betreiben und tiefe menschliche Beziehungen aufbauen können.
Was meinen wir mit Stapelkrisen? Nun, da ist vor allem der Klima-Notfall. Um zu verhindern, dass noch mehr lebenswichtige Ökosysteme kippen und sich die humanitäre Katastrophe, innerhalb derer wir jetzt schon leben, weiter ausbreitet, muss die Weltgemeinschaft schnell und radikal handeln und ihr höchst komplexes System während voller Fahrt umbauen. Neben dem Klima-Notfall und systemisch mit ihm eng verbunden sind wir mit einer Reihe von Metakrisen konfrontiert: strukturelle Diskriminierungen unterschiedlicher Formen, die immer noch die globale Mehrheit zugunsten privilegierter Minderheiten benachteiligen, die zunehmende Fragmentierung, Polarisierung und Radikalisierung der Gesellschaft, die Vereinsamung des Einzelnen, die Wiederkehr autoritärer Regime weltweit oder die Krise demokratischer Institutionen mit ihren Symptomen, wie verkrustete Verwaltungen und opportunistische Politiker. Da ist die ungehinderte Macht großer Technologiekonzerne, zusätzlich zu vielen älteren 12existenziellen Risiken wie der atomaren Aufrüstung. Toby Ord, der sich als Philosoph mit existenziellen Risiken befasst, schätzt das Risiko, „dass die jetzigen Systeme nach und nach zusammenbrechen und wir dann auf niedrigem Niveau leben“ auf eins zu sechs (2020).
Inmitten dieser komplexen Krisenlandschaft tauchte Anfang 2020 COVID-19 auf und wirkte wie eine Abrechnung. Mit einem Mal lagen all die bislang verdeckten, tief in unsere Systeme integrierten Schieflagen und Ungerechtigkeiten der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte offen zutage. Dinge, die viele von uns als „bedauerlich, aber normal“ angesehen hatten, konnten nicht mehr verdrängt werden. Die schlechte Bezahlung von Pflege, die Kluft zwischen arm und reich, dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Die Abhängigkeiten von globalen Lieferketten, die prekäre Basis von Künstlern, die Isolation von alten und sozial entkoppelten Menschen, die schwindende gemeinsame Wahrnehmungsbasis unserer Gemeinwesen (alias Verbreitung von Desinformation) – dies alles stand plötzlich im Scheinwerferlicht unseres Bewusstseins.
Ein existenzieller Notfall, viele Metakrisen, die Bilanzierung durch Corona. Und dann auch noch ein Krieg mitten in Europa. Um diese neue Welt adäquat zu beschreiben, reicht das in den 1980er Jahren geprägte Akronym VUCA nicht mehr aus – Volatile, Uncertain, Complex, Ambiguous (volatil, unsicher, komplex, mehrdeutig). Seit Kurzem kursiert eine Steigerung, die BANI-Welt, geprägt vom Zukunftsforscher Jamais Cascio (2020). BANI steht für Brittle, Anxious, Nonlinear, Incomprehensible (brüchig, ängstlich, nonlinear, unverständlich). Kein Wunder, dass die meisten von uns völlig überwältigt sind. Vom Ausmaß der Verwerfungen, der Diskrepanz zwischen unseren eigenen Kapazitäten und Handlungsspielräumen und der Komplexität des notwendigen Systemumbaus.
Für unsere Leser:innen, die einer privilegierten Bevölkerungsgruppe angehören und Rechte und Vorteile haben, die nur bestimmten Gruppen zur Verfügung stehen, ist dies wahrscheinlich eine neue Erfahrung. Für Menschen, die infolge von Alter, Behinderung, ethnischer Zuordnung, Geschlecht, Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung, Religion und/oder sozialer Klasse strukturell benachteiligt sind, handelt es sich dabei um ihre alltägliche Realität, die jedoch immer weiter eskaliert. Beide fühlen sich auf ihre Art verunsichert und überfordert. Woran sollen wir uns orientieren? Was ist unser nächster Schritt? Viele der unzähligen, meist unhinterfragten Routinen und Logiken, die den Alltag ausmachen, erscheinen leer. Die Ziele, die uns bis vor Kurzem noch geleitet und inspiriert 13haben, sind verschwunden. Etwas hat sich verändert, aber was genau anders ist, können wir oft nicht präzise beschreiben.
Diese Orientierungslosigkeit zeigt sich in der Arbeitswelt besonders stark. In den USA spricht man von der „Great Resignation“, denn noch nie verließen so viele Festangestellte freiwillig ihre Jobs. Auch hierzulande empfinden immer mehr Menschen ihre Arbeit als sinnlos und frustrierend. Jede vierte Angestellte kündigt, ohne eine neue Stelle zu haben. 37 % der Beschäftigten denken über einen Wechsel nach.
Auch persönlich sind uns noch nie so viele Menschen begegnet, die ihren Job aufgegeben haben oder kurz davorstehen. Die sich zurückziehen, krankschreiben lassen, deren Motivation im Keller ist. In unseren Workshops berichten Hunderte von Menschen, viele davon Frauen, dass sie sich mit ihrem Unternehmen nicht mehr identifizieren können. Sie selbst haben sich in den Pandemiejahren verändert, ihre Unternehmen aber sind die gleichen geblieben. Sie erzählen von intransparenter, unpersönlicher Kommunikation, ungelösten, latenten Konflikten und unantastbaren strukturellen Benachteiligungen. Von langsamen Prozessen und aufgeschobenen Entscheidungen. Hierzu gesellt sich dann noch die große Sinnfrage: Die Welt ist in Flammen und ich stelle Grußkarten her, bewerbe Kosmetik oder verticke Immobilien. Trägt meine Arbeit zu der Welt bei, die ich mir wünsche? Diskussionen rund um „Purpose“ boomen.
Aber auch diejenigen, die ihre Tätigkeit grundsätzlich als sinnvoll empfinden, gestehen sich jetzt ein, was sie schon lange gespürt, aber geduldet haben: dass die Unternehmensstrukturen nicht zu ihnen passen, sie zu starr und verkrustet sind; dass noch immer ein bestimmter Typ von Führungspersönlichkeit dominiert: junge oder ältere weiße Männer (oder Frauen mit dem gleichen Mindset), die ihre eigene Herangehensweise und Weltsicht als einzig gültige ansehen; die auf Shareholder Value und Bottom Line fixiert sind, auch wenn die Unternehmenswebsite mit „menschenzentrierter Führung“, „Potenzialentfaltung“ und „Nachhaltigkeit“ wirbt. Plötzlich gestehen Mitarbeiter:innen sich ein, wie unproduktiv und wenig wirksam sie sich in diesen Settings erfahren. In unseren Webinaren sagen sie: „Ich renne mit dem Kopf gegen die Wand“, „Überall stoße ich auf Widerstand und Stagnation“, „Ich fühle mich leer und hohl“, „Ich will raus aus dem Hamsterrad“. Die einen lehnen sich aus ihren Teams heraus und sind demotiviert. Die anderen lehnen sich zu sehr hinein und enden im Burnout.
Selbstzweifel machen auch vor Sozialunternehmer:innen, Aktivist:innen und anderen sozial aktiven Menschen nicht halt. Sie, die seit jeher 14schon mit knappen Ressourcen und hohen psychischen Lasten umzugehen gewohnt sind, fragen sich jetzt vermehrt, ob ihre Strategien zielführend sind oder ob diese vielleicht sogar noch weiter zur gesellschaftlichen Fragmentierung beitragen. Denn indem sie gegen Eliten und bestehende Institutionen kämpfen, verhärten sie die Feindbilder und ihr Druck erzeugt Gegendruck.
Diese Symptomatik ist typisch für unsere Zwischenzeit. Das alte Industriezeitalter ist vorbei, und die neue digital-globale Ära ist noch nicht da. Niemanden wird es überraschen, dass große Transformationsschritte von Veränderungs- und Wachstumsschmerzen begleitet sind. Unfreiwillige Veränderung erzeugt bei den meisten Menschen Unsicherheit, Spannung und Angst. Aber es kommt noch etwas hinzu: In dieser Zwischenzeit wird deutlich spürbar, worum wir uns bislang nicht gekümmert haben. Was wir in uns und der Welt exkludiert haben und sich jetzt in existenziellen Bedrohungen oder tektonischen Konflikten Raum verschafft. Unser Wirtschaftssystem hat die planetarischen Grenzen ignoriert. Steigende Temperaturen, übersäuerte Meere und verseuchtes Grundwasser sind die Folgen. Der Wohlstand in unseren westlichen Industrienationen wurde auf dem Rücken kolonialisierter Länder und marginalisierter Bevölkerungsgruppen im eigenen Land errichtet. Diese fordern jetzt ihren Platz und eine Korrektur der strukturellen Ungerechtigkeiten ein. Unsere zarten und verletzbaren Persönlichkeitsanteile wurden in der Leistungsgesellschaft des 20. und frühen 21. Jahrhunderts ignoriert und entwertet. Jetzt zeigen sie sich in Form von psychischen Erkrankungen und sozialer Entkoppelung.
Aber das Leben ist ganzheitlich und ausgeschlossene Teile müssen über kurz oder lang von uns anerkannt und integriert werden, zeigen sie sich doch andernfalls als destruktive Pathologien, die unsere ökologischen, sozialen und psychischen Lebensgrundlagen zerstören. Zwischenzeiten sind labil. Das wusste schon der italienische Philosoph Antonio Gramsci, als er nach dem Ersten Weltkrieg schrieb:...
Erscheint lt. Verlag | 25.11.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Wirtschaft ► Betriebswirtschaft / Management ► Planung / Organisation |
Wirtschaft ► Betriebswirtschaft / Management ► Unternehmensführung / Management | |
Schlagworte | Agilität • Digitalisierung • new work • Purpose • Sinn |
ISBN-10 | 3-8006-7024-0 / 3800670240 |
ISBN-13 | 978-3-8006-7024-6 / 9783800670246 |
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