Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich (eBook)
208 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45234-0 (ISBN)
Ökonom, ist Professor für Empirische Wirtschaftsforschung in Bochum und Vizepräsident des RWI in Essen.
Ökonom, ist Professor für Empirische Wirtschaftsforschung in Bochum und Vizepräsident des RWI in Essen. Gerd Gigerenzer, Psychologe, ist Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, Universität Potsdam, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und Bestsellerautor. Walter Krämer, Statistiker, ist emeritierter Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund und Autor verschiedener Bestseller. Katharina Schüller leitet seit 20 Jahren das Beratungsunternehmen STAT-UP mit Fokus auf Datenstrategien, Data Science und KI, ist akkreditierte Statistikerin (AEUStat) und Vorstandsmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und ist gefragte Vortragsrednerin. 2022 veröffentlichte sie als Ko-Autorin bei Campus »Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich. Risiken und Nebenwirkungen der Ustatistik«.
1. Warum statistisches Denken wichtig ist
Was kann man tun, um Menschen in ihren Entscheidungsprozessen zu unterstützen, damit dem Gemeinwohl dienende Ergebnisse dabei herauskommen? Dazu gibt es drei Visionen, die miteinander in Konflikt stehen: Paternalismus, das sogenannte »Nudging« und Risikokompetenz. Die klassische Vision autokratischer Systeme ist der Paternalismus. Man sagt den Bürgern, wie sie sich verhalten sollen, und belohnt und bestraft sie, je nachdem, ob sie folgsam sind oder nicht. Das ist das Modell China. »Nudging« ist eine sanfte Variante des Paternalismus und bedeutet, dass man Entscheidungen nicht vorschreibt und auch nicht belohnt oder bestraft, sondern mit psychologischen Mitteln versucht, unser Verhalten zu beeinflussen (von to nudge = stupsen, in eine bestimmte Richtung lenken). Man will Menschen zu ihrem Glück steuern, ohne sie zu ermächtigen, das selbst zu tun. Die britische Regierung unter David Cameron hatte beispielsweise einmal eine eigene Nudging-Einheit eingerichtet. Die deutsche Regierung dagegen unterhält eine Einheit »Wirksam regieren« zur Stärkung der Risikokompetenz in Gesellschaft und Verwaltung. Diese Risiko- und damit auch Entscheidungskompetenz ist eine Alternative zu beiden Formen von Paternalismus, hart und weich. Es geht darum, die Bürger kompetent zu machen, so dass sie Evidenz verstehen und selbst informiert entscheiden können, statt hart oder sanft vom Staat und anderen Interessen gesteuert zu werden. Die Fähigkeit zum statistischen Denken ist ein zentraler Baustein dieser Risikokompetenz. Ohne mitdenkende und informierte Bürger bleibt Demokratie ein leeres Wort.
Nichts für Warmduscher
Statistisches Denken ist also die Kunst, Risiken zu verstehen. Es ist eine zutiefst emotionale Kunst, und das in zweierlei Hinsicht. Zum einen muss man den Glauben an absolute Sicherheiten aufgeben und lernen, mit Ungewissheit zu leben. Ungewissheit kann Angst und Verunsicherung auslösen, aber auch das Bedürfnis, Sicherheiten zu suchen, wo es keine gibt. Zum Zweiten geht es darum, ein Lebensgefühl zu entwickeln, das sich an Fakten und Evidenz orientiert, zusammen mit einer gesunden Portion Skepsis gegenüber festen Überzeugungen und Behauptungen aller Art. Wer statistisch denkt, läuft Gefahr, Freunde zu verlieren und politisch und gesellschaftlich anzuecken. Und es kann noch schlimmer kommen. Der Chirurg und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis fand Mitte des 19. Jahrhunderts mittels Statistik heraus, dass die durch häufiges Kindbettfieber in Krankenhäusern bedingte hohe Sterblichkeit der Mütter daran lag, dass die Ärzte sich nicht die Hände wuschen, wenn sie etwa von einer Obduktion in den Kreißsaal gingen. Semmelweis rettete so unzähligen Frauen das Leben. Aber dieser empirische Nachweis war seinen Kollegen so unwillkommen, dass sie seine Karriere mit Intrigen hintertrieben und ihn schließlich in eine Irrenanstalt einlieferten, wo er, nur 47 Jahre alt, verstarb.
Bis heute sind Menschen an den Schalthebeln der Macht, selbst Regierungen von demokratischen Staaten, nicht immer an der Wahrheit interessiert. Nachdem der Präsident der griechischen Statistikbehörde ELSTAT, Andreas Georgiou, aufgedeckt hatte, dass seine Vorgänger das griechische Haushaltsdefizit jahrelang zu niedrig angegeben hatten, um in die EU aufgenommen zu werden,1 wurde er vom obersten Gericht seines Landes zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt: Er hätte damit dem griechischen Staat geschadet. Um nicht ins Gefängnis zu müssen, ist Georgiou dann in die USA ausgewandert. In einer nicht ganz so dramatischen Angelegenheit entließ die Bayerische Staatsregierung den Wirtschaftsethiker Christoph Lütge im Februar 2021 aus dem Bayerischen Ethikrat. Lütge hatte die Nullinfektionskampagne der Bayerischen Staatsregierung für »völlig illusorisch« und die geforderten Corona-Inzidenzen im Winter für unerreichbar erklärt und vor den Kollateralschäden gewarnt. Zu diesen Thesen kann man stehen, wie man will – die Staatsregierung jedenfalls hat die Nullinfektionsstrategie selbst bald zu den Akten gelegt.
Beginnen wir mit fünf wichtigen Grundprinzipien statistischen Denkens. Sie decken einen großen Teil der Denkfehler ab, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen. In den folgenden Kapiteln werden weitere Prinzipien erklärt, wie etwa die häufige Verwechslung von Korrelation mit Kausalität. Jeder kann diese Prinzipien verstehen, auch wenn man vielleicht etwas Zeit aufwenden muss, um die Beispiele zum besseren Verstehen nochmals zu lesen. Eine Fremdsprache zu lernen ist wesentlich aufwendiger.
Grundprinzip Nr. 1: Sicherheit ist eine Illusion
Das Einmaleins der Skepsis beginnt mit der Erkenntnis: Sicherheit ist eine Illusion. Benjamin Franklin hat einmal gesagt: In dieser Welt ist nichts sicher außer dem Tod und den Steuern. Wir wissen inzwischen, dass auch Letztere nicht sicher sind (wenn man an die Wachstumsbranche Steuerhinterziehung denkt). Dennoch haben viele Menschen ein emotionales Bedürfnis nach Sicherheit und Gewissheit, selbst wenn es diese nicht gibt. Das kann durchaus für einen selbst und die Mitmenschen gefährlich sein. So ist zum Beispiel keine Impfung sicher. Dennoch waren viele überrascht, als während der Covid-19-Pandemie die ersten Fälle von vollständig geimpften Personen bekannt wurden, die sich dennoch infiziert hatten oder sogar ins Krankenhaus kamen. Diese Fälle wurden von Impfgegnern als Beweis angeführt, dass die Impfung nicht oder kaum wirksam sei. Dabei wurde von Anfang an klar vom Robert-Koch-Institut und anderen Organisationen kommuniziert, dass die Wirksamkeit der Impfstoffe bei 90 Prozent und eben nicht bei 100 Prozent liege. Also muss es Personen geben, die sich trotz Impfung infizieren.
Viel Misstrauen ist insbesondere zu Beginn der Corona-Krise gerade deshalb entstanden, weil die Daten und die Schlussfolgerungen daraus als gesichertes Wissen dargestellt wurden. Als sich später herausstellte, dass manche Entwicklungen ganz anders verlaufen sind und man sich korrigieren musste, hat das nicht gerade das Vertrauen in die Medien und in die Wissenschaft gestärkt. Es ist sicher keine leichte Aufgabe, Menschen ohne wissenschaftliche Ausbildung (und auch manchen Wissenschaftlern) klarzumachen, dass man auch aus unsicheren Daten richtige Entscheidungen ableiten kann, weil es oft genügt, die Richtung zu erkennen. Anders gesagt, der genaue Weg muss nicht bekannt sein, solange man sich an Leitplanken orientieren kann.
Auch medizinische Tests sind niemals sicher. Und auch hier kann der Irrglaube an absolute Sicherheit zuweilen tödlich sein. In den ersten Jahren der AIDS-Epidemie wurden 22 Blutspender in Florida benachrichtigt, dass sie im ELISA-Test HIV-positiv waren. Sieben davon begingen Selbstmord. Wenn damals Menschen mit geringem Risiko – wie Blutspender – positiv getestet wurden, war die Wahrscheinlichkeit, wirklich infiziert zu sein, kleiner als 50 Prozent. Aber das war offensichtlich diesen Unglücklichen nicht bekannt. Auch Jahre später haben einige medizinische Institutionen immer wieder suggeriert, das Testergebnis sei sicher. Ein klassisches Beispiel ist das Illinois Department of Health. In seiner Broschüre zum HIV-Screening konnte man lesen: »Ein positives Ergebnis bedeutet, dass Antikörper in Ihrem Blut gefunden wurden. Das heißt, Sie sind mit HIV infiziert. Sie sind lebenslang infiziert und können andere anstecken.«2 Ein Mann aus Ohio verlor innerhalb von zwölf Tagen nach einem solchen positiven Test seine Arbeit, sein Haus und – fast – seine Frau. Am Tag, als er Selbstmord begehen wollte, erhielt er die Nachricht: Das Testergebnis war falsch-positiv. HIV-Tests sind inzwischen weit besser geworden, aber selbst die Kombination von modernen ELISA- und Westernblot-Tests gibt keine absolute Sicherheit, nur eine hohe Wahrscheinlichkeit. ...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Wirtschaft |
Wirtschaft ► Allgemeines / Lexika | |
Schlagworte | Fake News • Falschmeldungen • Grafiken • Medien • Risiko • Statistik • Tabellen • Verdummung • Wahrscheinlichkeit |
ISBN-10 | 3-593-45234-0 / 3593452340 |
ISBN-13 | 978-3-593-45234-0 / 9783593452340 |
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