Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen (eBook)
320 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60164-1 (ISBN)
Ulrike Herrmann, Jahrgang 1964, ist Wirtschaftskorrespondentin der Tageszeitung »taz«. Sie ist ausgebildete Bankkauffrau, hat Geschichte und Philosophie studiert und war anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Körber-Stfitung sowie Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager. Ulrike Herrmann ist ein typisches Mittelschichtskind. Sie stammt aus einem Vorort von Hamburg, wo alle Bewohner an den gesellschaftlichen Aufstieg glaubten.
Ulrike Herrmann arbeitet als Wirtschaftskorrespondentin bei der tageszeitung (taz). Zudem ist sie regelmäßiger Gast im Radio und im Fernsehen. Sie ist ausgebildete Bankkauffrau und hat an der FU Berlin Geschichte und Philosophie studiert. Zuletzt erschienen im Piper Verlag ihre Bestseller "Der Sieg des Kapitals" sowie "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung".
I Was von der Nazi-Zeit übrig blieb
Deutschland ist nicht aus Ruinen auferstanden, obwohl es zunächst so aussah. Frankfurt sei »eine Toten-Stadt«, schrieb der amerikanische Journalist Robert Thompson Pell im April 1945. Die Gebäude seien zu 80 bis 90 Prozent zerstört, und »nach der Ausgangssperre um 19 Uhr schallen die Stiefel der GIs wie Schritte in einer Gruft«.1
Wie in Frankfurt sah es in vielen Teilen Deutschlands aus: 131 Städte waren bombardiert worden; etwa 560 000 deutsche Zivilisten sowie 40 000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene waren dabei umgekommen.2 Doch so groß die Verwüstung war – nicht jeder wurde gleich hart getroffen. US-Journalist Pell stellte fest, dass in Frankfurt vor allem die Armen litten. »Die Reichen leben von all dem ziemlich unberührt in den Vororten oder den umliegenden Städten wie Bad Homburg oder Ursel; sie wohnen dort mit Dienern und haben fast allen Luxus.«3
Nach dem Krieg gab es keine Stunde null – zu groß waren die Kontinuitäten. Nicht nur der Unterschied zwischen Arm und Reich setzte sich ungebrochen fort – auch die deutsche Wirtschaft fing keineswegs bei null an. Trotz der immensen Zerstörungen hatten viele Fabriken weitgehend intakt überlebt, wie die Besatzer erstaunt notierten.
Bereits im April 1945 begannen die Alliierten, die Folgen des Bombenkrieges zu erfassen. Der US-Ökonom Moses Abramovitz reiste durch die schon besetzten Gebiete in Westdeutschland und hielt in seinem Bericht fest: »Die drei größten Betriebe der I. G. Farben in Frankfurt, darunter auch das große Werk in Höchst, weisen … fast keine Schäden auf.« Gleiches galt auch für »die Betriebe mit mehr als 250 Beschäftigten im Düsseldorfer Raum«.4 Die Zechen an der Ruhr hätten ebenfalls fast intakt überlebt.
Die Fabriken hatten den Krieg so unversehrt überstanden, dass sich die bundesdeutsche Wirtschaft nicht verstehen lässt, ohne die NS-Ökonomie zu kennen.
Das Deutsche Reich: Ein Schwellenland
Das Deutsche Reich war kein reiches Land. Bis heute wird gern so getan, als sei Deutschland schon immer – spätestens seit dem 19. Jahrhundert – eine voll entwickelte Industrienation gewesen. Tatsächlich war Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen noch ein Schwellenland, wie man es heute nennen würde. Zwar gab es Weltkonzerne wie Siemens, Krupp und I. G. Farben, die große Exporterfolge vorweisen konnten – daneben aber existierten Millionen von Bauern, die häufig noch sehr traditionell wirtschafteten.5
Heute wird diese Rückständigkeit gern vergessen und lieber eine Leistungsschau der deutschen Wirtschaft präsentiert. Die Abfolge der Superlative liest sich dann so: »In seiner Roheisenerzeugung hatte Deutschland 1903 England und 1913 sogar die USA überrundet. In der Stahlproduktion wurde Großbritannien schon 1893 eingeholt … Mehr als die Hälfte des Welthandels mit elektrotechnischen Erzeugnissen entfiel 1913 auf deutsche Lieferungen. Die Chemieindustrie hatte 1913 … vor den Vereinigten Staaten … den führenden Platz erreicht.«6
Diese industriellen Leistungen waren zweifellos imposant, aber lange Zeit prägten sie nicht die gesamte deutsche Wirtschaft, sondern waren eher Inseln in einem Meer von Kleinstbetrieben und einer oft armseligen Landwirtschaft.
Wie dürftig und hart das Leben auf dem Land war, hat die bayerische Bäuerin Anna Wimschneider 1984 beschrieben. Ihre Autobiographie Herbstmilch wurde zu einem Bestseller und mehr als zwei Millionen Mal verkauft, nicht zuletzt weil so viele Leser ihre eigene Kindheit wiedererkannten. Anna Wimschneider stammte von einem Hof, der nur neun Hektar Grund hatte – und dieser Besitz reichte in den 30er-Jahren noch nicht einmal, um die Familie zu ernähren. Das Essen war so knapp, dass die Kinder die Kartoffeln verschlangen, die eigentlich als Futter für die Schweine gedacht waren.7
Die Familie der Anna Wimschneider war kein Einzelfall. Wie der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze berechnet hat, lebten 1933 rund zwölf Millionen Deutsche auf Bauernhöfen, die eigentlich zu klein waren, um einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Das waren 18 Prozent der Gesamtbevölkerung.8
Das Deutsche Reich war damals europäisches Mittelmaß – und längst nicht so weit entwickelt wie die USA oder Großbritannien. Diese Tatsache ließ sich auch schon messen. In den 1930er-Jahren entstanden die ersten Versuche, das Nationaleinkommen zu berechnen. Führend war der junge Australier Colin Clark, der 1938 zu dem Ergebnis kam, dass das Pro-Kopf-Einkommen gerade einmal halb so hoch war wie in den USA – und mindestens ein Drittel niedriger anzusetzen war als in Großbritannien. Auch die Schweiz, die Niederlande, Frankreich und Dänemark waren damals pro Kopf reicher als Deutschland. Ärmer waren hingegen unter anderem Österreich, Griechenland und Italien.9
Das Pro-Kopf-Einkommen zu Hitlers Zeiten lag etwa so hoch, wie es heute in Südafrika, im Iran oder in Tunesien ist. Allerdings geht es den Menschen dort besser, weil sie von der technologischen Entwicklung im Westen profitieren, die seither stattgefunden hat. Bei Bedarf können die Südafrikaner Computer, Atomkraftwerke oder Flugzeuge importieren, was in Hitler-Deutschland nicht möglich war. Tooze kommt daher zu dem Schluss: Der Vergleich mit Südafrika sei sogar noch »schmeichelhaft für die deutsche Situation« zu Hitlers Zeiten.10
Das Deutsche Reich war schlicht zu arm, um einen Weltkrieg zu gewinnen. Dennoch wollte Hitler von Anfang den Krieg, und sofort nach seiner Machtübernahme 1933 begann er aufzurüsten. Umfang und Geschwindigkeit waren einmalig: Nie zuvor waren in einem kapitalistischen Land in Friedenszeiten so große Teile des Nationaleinkommens in das Militär geflossen. In der Weimarer Republik hatten die Rüstungsausgaben weniger als ein Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung ausgemacht; unter Hitler stiegen die Militäraufwendungen bis 1939 auf 23 Prozent des Volkseinkommens.11
Binnen weniger Jahre wurden daher die Arbeitskräfte knapp. Wo eben noch Arbeitslosigkeit grassiert hatte, herrschte plötzlich Vollbeschäftigung. Im Januar 1933 hatte man noch knapp sechs Millionen Arbeitslose gezählt, 1934 waren es im Jahresdurchschnitt nur noch 2,7 Millionen. Ab 1937 meldeten alle Branchen, dass es an Beschäftigten fehlte – während die Arbeitslosenquote in den USA 1938 immer noch bei 19 Prozent lag. Nicht nur in Deutschland, auch im Ausland sprach man von einem »deutschen Wirtschaftswunder«. Selbst die Begriffe der Nachkriegszeit sind also nicht immer neu, sondern stammen zum Teil aus der NS-Zeit.12
Von diesem Wachstum profitierten die Arbeitnehmer allerdings kaum. Bereits 1933 wurden die Löhne eingefroren – und zwar auf dem sehr niedrigen Niveau der Weltwirtschaftskrise. Obwohl Vollbeschäftigung herrschte, ging es den Deutschen schlechter als in der Weimarer Republik: Der Konsum pro Kopf lag zu NS-Zeiten durchweg niedriger als 1928, während sich gleichzeitig die wöchentliche Arbeitszeit verlängerte.13
Das Wachstum kam vor allem den Unternehmern zugute: Zu NS-Zeiten explodierten ihre Gewinne, wobei die Jahre 1935 bis 1941 besonders lukrativ waren. Die Eigenkapitalrendite nach Steuern lag damals bei sensationellen 14 Prozent – was in der Bundesrepublik nie wieder verzeichnet wurde.14
Protest musste Hitler nicht befürchten: Die Arbeiter verglichen ihre Lage nicht mit den »goldenen Jahren« der Weimarer Republik, sondern mit den Entbehrungen der Weltwirtschaftskrise, als jeder Dritte arbeitslos war. Auch ein schlechter Lohn war besser als gar keiner. Die Vollbeschäftigung vermittelte ein Gefühl der Sicherheit, das viele Deutsche seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gekannt hatten. Endlich glaubte man, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen, ob der eigene Job morgen noch existieren würde.
Allerdings handelte es sich um einen Pseudo-Boom: Schon 1936 geriet die NS-Wirtschaft in einen Teufelskreis, aus dem sie nicht mehr herausfinden sollte. Die Aufrüstung verschlang Devisen, weil viele Rohstoffe importiert werden mussten. Um dieses Geld zu verdienen, hätte Deutschland seine Exporte steigern müssen – doch dann hätten die Industriekapazitäten gefehlt, um weiterhin aufzurüsten und Waffen herzustellen. Also blieb, zumindest aus Hitlers Sicht, nur der Eroberungskrieg, um den permanenten Mangel an Rohstoffen, Devisen und Arbeitskräften zu beheben.
Da alle Ressourcen in die Aufrüstung flossen, wurden selbst banalste Konsumgüter knapp. Bereits im Herbst 1936 bildeten sich »lange Schlangen unzufriedener Menschen vor den Lebensmittelgeschäften«, wie der amerikanische Journalist William Shirer berichtete: »Es gibt Mangelerscheinungen bei Fleisch und Butter, bei Obst und Fett. Schlagsahne ist verboten. Herren- und Damenbekleidung wird zunehmend aus Zellstoff hergestellt.«15
Normalerweise hätte es jetzt zu einer Inflation kommen müssen, weil die Nachfrage viel zu groß für das knappe Angebot war. Doch das NS-Regime verhängte 1936 kurzerhand einen generellen Preisstopp und diese Preise galten dann bis zur Währungsreform 1948. Die Inflation war damit aber nicht verschwunden, sondern wurde nur...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Wirtschaft | |
Schlagworte | Bundesbank • Bundesrepublik • D-Mark • Exportüberschuss • Ludwig Erhard • Soziale Marktwirtschaft • Weltwährungssystem • Wiedervereinigung • Wirtschaftsgeschichte • Wirtschaftswunder |
ISBN-10 | 3-492-60164-2 / 3492601642 |
ISBN-13 | 978-3-492-60164-1 / 9783492601641 |
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