Dazwischen: Wir (eBook)

eBook Download: EPUB
2022
256 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27356-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dazwischen: Wir - Julya Rabinowich
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Nach 'Dazwischen: Ich' erzählt Julya Rabinowich in 'Dazwischen: Wir', wie Madina ihren Weg in ihrer neuen Heimat findet. Ein bewegender Roman und ein Aufruf, Hetze mutig entgegenzutreten
Madina hat den Krieg und seine Schrecken, die gefährliche Flucht hinter sich gelassen. Endlich hat sie das Gefühl, angekommen zu sein, wohnt mit ihrer Familie bei ihrer besten Freundin Laura, trägt keine schlecht sitzenden Kleider aus der Spendenkiste mehr und gehört in der Schule ganz selbstverständlich dazu. Aber dann kippt die Stimmung. Rassistische Schmierereien tauchen auf, und jeden Donnerstag skandiert eine Gruppe auf dem Hauptplatz: 'Ausländer raus!', erst wenige, dann immer mehr. Eine Zerreißprobe, nicht nur für Madina, sondern für alle, die in dem Ort leben. Doch Madina beschließt, nicht wegzuschauen - und sie findet Verbündete. Ein flammender Appell gegen Ausgrenzung und die Spaltung der Gesellschaft!

Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Sie ist Schriftstellerin und Kolumnistin und war viele Jahre als Dolmetscherin tätig. Bei Deuticke erschienen Spaltkopf (2008, u. a. ausgezeichnet mit dem Rauriser Literaturpreis 2009), Herznovelle (2011, nominiert für den Prix du Livre Européen), Die Erdfresserin (2012) und Krötenliebe (2016). Ihr erstes Jugendbuch, Dazwischen: Ich (2016), wurde u. a. mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis und dem Luchs (Die Zeit & Radio Bremen) ausgezeichnet sowie unter die Besten 7 Bücher für junge Leser (Deutschlandfunk) gewählt. 2019 erschien ihr Jugendbuch Hinter Glas, 2022 folgte Dazwischen: Wir. Die Idee zu Der Geruch von Ruß und Rosen (2023) ist aus den unzähligen Gesprächen geboren, die die Autorin mit Kriegsüberlebenden und ihren Angehörigen geführt hat.

1


Ich habe heute im Garten gesessen und den Wolken beim Vorbeiziehen zugesehen. Wie sie sich dehnen und ausfasern und plötzlich weg sind. Wie Papa. Oder sich verändern. Etwas Neues werden. Wie ich.

*

Es ist absurd, Tag für Tag diese Einträge zu schreiben, als ob sich nichts verändert hätte. Alles hat sich verändert. Ich zwinge mich trotzdem dazu. Weil: Was soll ich denn sonst tun? Ich mach das, wie mein Vater es gemacht hat: nach vorne schauen, nie nach hinten. Er hat es gemacht, solange wir auf der Flucht waren. Irgendwann hat er sich umgedreht. Und dann ist er nicht mehr herausgekommen aus diesem Nach-hinten-Schauen, bis es zu spät war. Ich mach das nicht. Ich habe von ihm gelernt.

Also. Nächster Tagebucheintrag. Auch wenn es wehtut.

Heute ist es sonnig.

Nachmittags gehe ich in den Wald. Laufen.

*

Jetzt sind die Ferien zur Hälfte rum, dann geht die Schule wieder los. Aber noch ist es schön heiß, und die Beeren reifen im Garten, und wir gehen fast jeden Tag schwimmen, Laura, Markus und ich. Und am Abend bin ich so müde, so schön schwer wie ein Sack mit einer Tonne Reis. Und dann kann ich meistens nicht schlafen gehen, weil Mama irgendwas braucht. Meine Tante braucht nie etwas.

*

Laura hat einen kleinen Hund gesehen. Nicht in echt. Auf der Website eines Vereins. So ein kleines Baby ist das. Schwarz mit Fledermausohren. Und mit Kinderaugen. Jetzt geht sie ihrer Mutter auf die Nerven, dass sie sich einen Welpen wünscht. Lauras Mutter hat viele schöne Teppiche und ist gar nicht begeistert. Ja, ich finde den Welpen auch süß. Aber meine Mutter hat Angst vor Hunden. Und sie findet sie schmutzig. Ich dürfte nicht einmal im Traum dran denken, dass ich mir so ein Fellknäuel wünschen könnte. Ich glaub, ich bekomme nicht mal eine Schildkröte, wenn es hart auf hart geht. Laura hat nur gelacht, wegen des Schildkrötenvergleichs. Und dann hat sie auch noch gesagt:

»Ach, Madina, du hast ja den Rami.«

Na, vielen Dank. Wenn mein kleiner Bruder nur halb so gut auf mich hören würde wie ein Welpe, wäre es schon klasse. Aber er hört weder auf mich noch auf meine Mutter. Er ist eine echte Pest geworden. Vor einem halben Jahr war er mehr so eine Kinderpest. Jetzt eine ausgewachsene. Und Mama macht gar nichts. Ich finde das schlimm.

Ich hätte ihm schon längst die Ohren lang gezogen.

»Dann geh mal mit ihm Gassi«, habe ich Laura vorgeschlagen, und sie hat sich zerkugelt. Ich schau ihr zu beim Zerkugeln und denk mir, vor ein paar Monaten hätte ich noch mitgemacht. Aber jetzt ist alles anders. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass ich sie überholt habe. Wie bei einem Wettrennen. Sie ist jetzt einfach hinter mir. Auf der Nebenlaufbahn zurückgeblieben. Ich schieb den Gedanken immer weg, weil ich das nicht denken will. Ich will, dass wir immer zusammen sind. Aber jetzt ist es so, dass wir im selben Raum sind und in derselben Freundschaft, aber nicht in derselben Situation.

Moment mal. Das war ja nie anders. Sie war nie in meiner Situation und ich nie in ihrer. Aber wir haben uns früher nicht jeden Tag gesehen, fast rund um die Uhr. Und ich habe einfach so vieles nicht gekannt und so vieles nicht gecheckt, dass es mir gar nicht auffiel.

*

Unsere neue Wohnung ist gleich unter der von Laura. Auf der Wand neben unserer Klingel sind noch vier Löcher zu sehen. Da hing früher ein Schild. Von Lauras Vater. Seine Firma, sein Büro. Laura hasst ihn. Ich hab sie gefragt, warum sie die Löcher nicht einfach zumachen. Diese Löcher, die sie doch erinnern. Sie hat gesagt, dass sie es genau so in Erinnerung behalten will, wie es ist. Ich verstehe das nicht. Ich will nur schöne Gedanken an meinen Vater behalten.

*

Laura möchte ein Hochbeet machen. Dabei ist es schon fast Herbst! Hier wird es schnell kühl, nicht so wie bei uns zu Hause. Im damaligen Zuhause. Eigentlich bin ich ja schon hier zu Hause. Nur die Jahreszeiten sind bei mir noch immer nicht umgestellt.

»Macht nix«, sagt sie. »Ein bisschen Blümchen werden wir wohl noch schaffen.«

Saß da mit ihrem Tanktop auf gebräunter Haut und so hellen Härchen auf Unterarmen, Bauch und Schultern. Diese Härchen habe ich immer so schön gefunden bei ihr. Aber auch bei Markus. Meine sind schwarz und dick wie Fliegenbeine. Ich rasiere meine Waden wie eine Irre. Wenn man einmal damit angefangen hat, kann man nicht mehr damit aufhören, weil sie noch fetter rauskommen als vorher. Und man sich schon an das Glatte der Haut gewöhnt hat. Meine Mutter hat leise geschimpft, als sie es bemerkt hat.

Tina aus unserer Klasse hat mir gesagt, dass ich mich nicht rasieren soll, weil Frauen alle Haare raushängen lassen können, so viel sie wollen. Mama hat mir gesagt, dass ich das ja nicht tun soll, weil ich mich noch nicht rasieren darf. Sollen sie doch einfach machen, wie sie wollen, und mich in Ruhe lassen. Punkt.

Meine Tante hat mich zur Seite genommen und mir ein Rezept mit Zucker verraten, das sie immer verwendet hat. Ich soll aber Mama ja nichts sagen.

»Also«, sagt Laura und steht auf und dehnt ihre Beine und ihre Arme, »wenn ich mich wieder spüre, dann holen wir die Erde und füllen das Beet mal auf.«

Ihre Beine sind echt schön, so schmal und mit ein bisschen Speck am Oberschenkel, gerade so, dass es eine schöne Rundung macht. Meine sind sehniger. Ich mache viel Sport. Und Laura hasst Sport. Laufen gehen wir aber schon. Das habe ich ja von ihr gelernt.

»Ich wollte noch mit Markus einen Film schauen«, sage ich.

»Er ist sowieso noch nicht da.« Laura hat immer eine Erklärung parat, warum ich lieber mit ihr etwas unternehmen soll und nicht mit ihrem Bruder. Ich weiß, dass sie das nicht mag. Vor allem, wenn sie selbst gerade keinen Freund hat.

Ich bin aufgestanden und hab mir am Hintern die Blätter vom Rock abgeputzt. So kurze Shorts wie Laura traue ich mich immer noch nicht zu tragen, auch jetzt nicht, wo Papa weg ist. Meine Mutter würde heulen, glaube ich.

»Es ist nicht wichtig, ob was dabei rauskommt«, sagt Laura mit weisem Gesichtsausdruck, während sie den Plastiksack mit der Erde darin zum Hochbeet wuchtet. »Es ist wichtig, dass man es macht.«

Also, ich weiß nicht. Ich würde schon gerne auch Früchte meiner Arbeit sehen. Aber ich sag das nicht laut.

Wir wühlen in der Erde, und ich denke dran, wie ich mir früher diesen Märchenwald errichtet habe, in meinem Kopf. Um Platz zu haben. Um mich abzulenken. Um weitermachen zu können. Ich habe ihn nicht mehr. Nicht, seit Papa weg ist. Nicht, seit Markus mein Freund ist. Nicht, seit ich erwachsen sein muss wie noch nie in meinem Leben. Das ist Kinderkram. Ich bin jetzt zu alt dafür.

»Was machst du denn für ein Sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht?«, fragt Laura und streicht sich Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Hände sind dreckig, sie sieht nach kurzer Zeit aus wie ein Soldat im Tarnmodus.

»Wegen nix.«

Ich schau weg. Ich will nicht darüber reden. Nicht schon wieder. Es bringt nichts.

Es bringt Papa nicht zurück.

Sie legt mir die verdreckte Pratze liebevoll auf die Schulter. Dreck und wohlige Wärme.

»Du weißt, du kannst immer mit mir reden. Ich bin da.«

Ich spüre schon wieder eine dieser fiesen Tränen in meinem Auge, nur so im Augenwinkel, noch nicht startklar. Ich drück das Auge zu und tu so, als wäre mir etwas reingeraten. Ist es ja eigentlich auch. Meine Vergangenheit.

Ich nicke. Dann steh ich auf, wische die Hände an meinem Rock ab und gehe ins Haus.

*

»Komm doch raus«, bittet Laura vor der Klotür. Ich sitz drin und starre die Wand an. Was wirklich cool ist: Wir haben jetzt ein eigenes Klo. In dem kann ich sitzen, so lange ich will. Also fast. Meine Mutter ist mit Rami spazieren gegangen, und Tante Amina ist in ihrem Kurs. Alles gehört mir. Unsere zwei Zimmer, unser Klo und unsere Küchenzeile, das ganze Erdgeschoss.

»Ich hab Bauchweh«, lüge ich.

»Glaubst du doch selber nicht«, schießt Laura zurück.

Ich mache auf. Sie steht da und grinst.

»Willst du doch drüber reden?«

»Es ändert nichts«, sage ich und muss gleich darauf so heftig schluchzen, dass mir die Luft wegbleibt, als würde ich in einem See aus Rotz ertrinken. Sie umarmt...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Wirtschaft Betriebswirtschaft / Management Unternehmensführung / Management
Schlagworte Akzeptanz • Antolin • Asyl • Ausländer • Ausländerfeindlichkeit • Ausländer raus • Dazwischen: Ich • Flucht • Flüchtling • Fremdenhass • Freundschaft • Gesellschaft • Hetze • Integration • Krieg • Kyjiw • Migranten • Migration • Pegida • Politik • Rassismus • Rechte • rechts • refugees welcome • Respekt • Spaltung • The Hate U Give • Toleranz • Ukraine • Vertreibung • Zusammenhalt
ISBN-10 3-446-27356-5 / 3446273565
ISBN-13 978-3-446-27356-6 / 9783446273566
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