Übergänge zu Wirtschaft und Politik mit allen (eBook)
304 Seiten
Morawa Lesezirkel (Verlag)
978-3-99093-695-5 (ISBN)
Johann Hagauer, Dipl.-Ing., Dr., Jahrgang 1952, Studium der Technischen Mathematik und Computerwissenschaften an der TU Graz. Seine Forschungsschwerpunkte an der Universität Graz, an der McMaster University in Hamilton, Ontario und an der TU Graz waren mathematische Modelle, Berechenbarkeit und Algorithmen. Er unterrichtete Mathematik an der FH Joanneum und Informatik an der HTL Kaindorf. Zuletzt beschäftigte er sich mit Wirtschaft und Politik aus der Sicht der Chaostheorie, der Mathematik, der Unberechenbarkeit und aus dem Blickwinkel von Tante Mizzi und der Bergwelt der Ennstaler Alpen.
KAPITEL 2
NEOLIBERALISMUS: DIKTATUR DER VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT?
Was ist Neoliberalismus?
Neoliberalismus ist eine Wohlstandsmaschine
Neoliberalismus schafft Arbeitsplätze
Neoliberalismus ist gesund
Neoliberalismus tut viel für Bildung
Neoliberalismus fördert den Fortschritt
Im Neoliberalismus gedeiht die Gleichberechtigung
Neoliberalismus ist der beste Verbündete der Freiheit
Neoliberalismus bringt Frieden
Neoliberalismus fördert Umweltschutz
Im Neoliberalismus florieren die Künste
Dieser Versuch, Neoliberalismus zu definieren und zu beschreiben hat meiner Tante Mizzi ein mildes Lächeln entlockt. Sie hat etwas von Blauäugigkeit und mangelndem Realitätssinn gemurmelt. Das machte mich sehr betroffen. Kleinlaut musste ich ihr irgendwie recht geben. Ich probier’s andersrum.
Der Neoliberalismus ist eine unter Mainstream-Ökonomen weit verbreitete fundamentalistische Glaubensrichtung mit pseudowissenschaftlichem Anspruch. Der Glaube hat sich in den letzten dreißig Jahren seuchenartig über die ganze Welt ausgebreitet und dient hauptsächlich der Rechtfertigung ungerechter ökonomischer und sozialer Strukturen bis hin zur Verantwortungslosigkeit, Erpressung und Hass auf alle gewerkschaftlichen und staatlichen Einrichtungen. Die zerstörerische Kraft dieser ökonomischen Richtung kommt zurzeit auf der ganzen Welt zum Vorschein und führt zu sozialen Unruhen und Krieg und vielleicht zu einer Klimakatastrophe.
Frage nicht! Als diese nebulose Definition meiner Tante Mizzi zu Ohren gekommen ist, hat sie sich vor mir aufgepflanzt: Wozu haben wir dich studieren lassen? Von mir hätte sie sich was Gescheiteres erwartet. Und überhaupt! Das Böse stinke nicht nach Rinderfurz und für den Weltuntergang sind viele zuständig.
Für’s Christentum charakteristisch sind Hexenverbrennung und Kreuzzüge, für den Islam ist der heilige Krieg und die Unterdrückung der Frauen typisch. Aber sind nicht auch sowas wie Nächstenliebe und Gastfreundschaft typisch für Christentum oder Islam? Was ist für den Neoliberalismus oder für den Kommunismus typisch? Nichts ist nur schwarz oder nur weiß. Extrempositionen liefern uns keine Antwort, sie können aber dazu ermutigen, viele Fragen zu stellen. Sie eignen sich bestens als provokante Einstiegsfrage in Debattiersendungen im Fernsehen. Sind Vermögenssteuern kommunistisch? Sind Arbeitslose faul? Man kann aber auch mit provokanten Aussagen eine angeregte Diskussion in Gang setzen: Neoliberalismus ernährt die Welt! Neoliberalismus führt direkt in die Klimakatastrophe! Neoliberalismus schafft Arbeitsplätze!
Solche Aussagen sind freilich verallgemeinernd und unwissenschaftlich, und doch gehören sie zu vielen Artikeln und Sendungen. Viele davon sind Totschlagargumente, die jeder Grundlage entbehren. Man kann sie gut in die Kategorie der Halbwahrheiten oder Halblügen einordnen. Es ist etwas Wahres dran und doch sind die Aussagen in dieser Allgemeinheit falsch. Bei der Definition des Neoliberalismus tut man sich besonders schwer. Es gibt keine gängige „Bibel“, die präzise festhält, welche politische Maßnahme zu Neoliberalismus zählt und welche nicht. Im Christentum oder im Islam gab es Glaubenskriege, weil eine bestimmte Stelle der jeweiligen „Bibel“ unterschiedlich ausgelegt wurde. Auch im Kommunismus existiert eine Art Bibel, das „Kapital“ von Karl Marx. Stalinisten bekämpften die Trotzkisten. Beide stehen in krassem Gegensatz zu den Maoisten und alle berufen sich irgendwie auf das Werk von Karl Marx. Der Kommunismus hat einen realen Startpunkt in der Oktoberrevolution in Russland. Einen vergleichbaren Start gibt es für den Neoliberalismus nicht. Eine neoliberale „Bibel“ fehlt, die uns helfen könnte, Neoliberalismus präziser zu fassen. Es gibt kein neoliberales Musterland, in das Politikinteressierte Exkursionen unternehmen können, um den Neoliberalismus hautnah zu studieren. Kein Staat nennt sich neoliberal. Irgendwie ist Neoliberalismus eine Art Sumpf, man bekommt keinen Boden unter den Füßen, es flutscht immer wieder weg. Manche meinen, dass mit dem Militärputsch in Chile 1973 das erste neoliberale Experiment begann. Und das gleich mit allem Drum und Dran: Abschaffung der widerlichen Demokratie, Ermordung, Vertreibung und Verfolgung tausender Menschen, Zerstörung des Sozialsystems, Privatisierung des Pensionssystems. Dann ging es mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher Anfang der Achtzigerjahre erst richtig los. Aber war dies Neoliberalismus? Ein Einzelfall, ein Ausrutscher?
August von Hayek, Milton Friedman und andere haben theoretische Schriften verfasst und sich redlich bemüht, der damals gültigen wirtschaftlichen Strömung des Keynesianismus entgegenzuwirken. Das ist auch gelungen. Neoliberales Gedankengut ist langsam eingesickert und zur Normalität geworden. Es entfaltet in den letzten dreißig Jahren eine große Wirkung, meist nicht zum Wohl der Menschen. Dieses Gedankengut ist in der politischen Öffentlichkeit eher nicht Gegenstand von theoretischen Abhandlungen, sondern drückt sich sehr gut im wirtschaftspolitischen Alltag in einer geänderten Sprache aus. Steuern werden zur unerträglichen Last. Regeln des guten Zusammenlebens behindern die Wirtschaft und den Wohlstand. Es muss dereguliert werden. Gemeinsames solidarisches Handeln wird durch rücksichtslosen Wettbewerb ersetzt. Solidarität macht dem Wettbewerb Platz. Aus einem „Wir(tschaft) für alle“ wird: „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s den Menschen gut.“ Neoliberale Denkfabriken fordern den Vorrang der Wirtschaft vor den Menschen. Der frühere ÖVP-Chef Josef Riegler warb noch in den 90er-Jahren für eine „Ökosoziale Marktwirtschaft“. Das „Öko“, das Soziale und das Freie an der Markwirtschaft sind in den Parteiprogrammen konservativer und marktliberaler Parteien mittlerweile abhandengekommen und durch andere Sprüche ersetzt worden.
Der frühere Parteichef des Teams Stronach, Frank Stronach, stellt unwidersprochen fest: Wer das Gold hat, macht die Regeln. Dieser Satz charakterisiert Neoliberalismus besonders gut. Politik müsse der Wirtschaft dienen und nicht umgekehrt. Die Wirtschaft ist Herr über die Politik. Neoliberalismus wird auch in den Regierungszentralen dieser Welt gut sichtbar. Tausende Lobbyisten und meist von Finanzkonzernen mit viel Kapital ausgestattete Denkfabriken erklären den Politikern, wie Politik zu machen sei. Nicht unabhängige Beamte beraten Politiker, wie denn eine Finanzkrise zu bewältigen sei, sondern teuer bezahlte „Experten“ der Finanzindustrie. Man fragt also die Frösche, wie man Teiche trockenlegt. Auf der Strecke bleiben die Anliegen von uns gewöhnlichen Menschen.
Abbildung 3: Grabneralmgebiet
Viele Aussagen, Behauptungen, Forderungen und Werbesprüche neoliberaler Denkfabriken und wirtschaftsliberaler Parteien sind seltsam inhaltslos, mehrdeutig und indirekt. Sie enthalten Halbwahrheiten. Der wahre Teil rechtfertigt den Teil, der jeder Rationalität widerspricht. Man fordert nicht etwa Wohlstand für alle, sondern Steuererleichterungen für eine bestimmte Interessensgruppe. In weiterer Folge entstehe Wohlstand für alle, weil Berechnungen unter abenteuerlichen Annahmen es so ergeben hätten. Hohes Wachstum, Deregulierung oder Wettbewerbsfähigkeit sind typische Leerformeln und Leerforderungen. Man weiß nicht was wachsen und was schrumpfen soll. Sollen mehr Flugzeuge über uns hinwegdonnern oder eine Schule errichtet werden? Man weiß nicht, welche Regeln abgeschafft oder welche Wettbewerbe denn stattfinden sollen. Jeder darf sich das von ihm Gewünschte aussuchen. Jeder kann solchen Leerforderungen zustimmen. Ob sich der gewünschte Erfolg einstellt, ist jedoch eine andere Frage. Und was ein gewünschter Erfolg ist, hängt auch vom Standpunkt des Betrachters ab.
Nicht nur Neoliberalismus hat mehrere Seiten, sondern jedes Ding. Das weiß auch meine Tante Mizzi. An Hand des Grabnersteins hat sie mir diese Aussage plausibel erklärt. Der Grabnerstein liegt im östlichen Teil der Haller Mauern in den Ennstaler Alpen. Für mich ist der ganze Bereich der Grabneralm mit dem Grabnerstein, dem Natterriegel, dem Seeboden und dem Großboden quasi meine Heimat, eine einzige seelische Wohlfühloase. Der wunderschöne Blumenberg Grabnerstein zeigt nach Norden hin seine wilde, felsdurchsetzte und furchteinflößende Seite und Richtung Süden die sanfte Seite voller Blumen, die zum Liegen im Almgras einlädt. Mittlerweile bin ich zur Erkenntnis gelangt, dass für viele Dinge zwei Seiten gar nicht ausreichen. Menschliches Zusammenleben, die Wirtschaft, die Politik und der Grabnerstein sind vielseitig. Das trifft wahrscheinlich auch für den Wohlstand und den Neoliberalismus zu.
Neoliberales Gedankengut
Auch wenn ich Ihnen keine mathematisch präzise Definition des Kapitalismus der neoliberalen Art liefern kann, möchte ich doch...
Erscheint lt. Verlag | 12.12.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Wirtschaft |
ISBN-10 | 3-99093-695-6 / 3990936956 |
ISBN-13 | 978-3-99093-695-5 / 9783990936955 |
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