Die Berufsmoral der Banker - Claudia Czingon

Die Berufsmoral der Banker

Potentiale und Grenzen finanzwirtschaftlicher Selbstregulierung

(Autor)

Buch | Softcover
293 Seiten
2019
Campus (Verlag)
978-3-593-51020-0 (ISBN)
34,95 inkl. MwSt
Seit der Finanzkrise von 2008 ist einiges unternommen worden, um eine ähnliche Katastrophe in Zukunft zu verhindern - auch von den Finanzakteuren selbst. Heute gibt es eine Reihe von Selbstregulierungsmaßnahmen in Form von Wertekatalogen und Verhaltensstandards. Doch welche Spielräume lassen strukturelle Zwänge zu? Mittels Interviews rekonstruiert die Autorin das berufliche Selbstverständnis und die Herausforderungen der Angestellten einer in Verruf geratenen Branche, die zu weitreichenden Erkenntnissen über die Potentiale und Grenzen finanzwirtschaftlicher Selbstregulierung führen.
Seit der Finanzkrise von 2008 ist einiges unternommen worden, um eine ähnliche Katastrophe in Zukunft zu verhindern - auch von den Finanzakteuren selbst. Heute gibt es eine Reihe von Selbstregulierungsmaßnahmen in Form von Wertekatalogen und Verhaltensstandards. Doch welche Spielräume lassen strukturelle Zwänge zu? Mittels Interviews rekonstruiert die Autorin das berufliche Selbstverständnis und die Herausforderungen der Angestellten einer in Verruf geratenen Branche, die zu weitreichenden Erkenntnissen über die Potentiale und Grenzen finanzwirtschaftlicher Selbstregulierung führen.

Claudia Czingon ist Redakteurin des Leviathan – Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft.

Inhalt
Vorwort von Sighard Neckel und Ferdinand Sutterlüty 9
Danksagung 17
1. Einleitung 19
1.1 Ursachen und Verlauf der Finanzkrise 2008 21
1.2 Folgen der Finanzkrise 25
1.3 Reaktionen auf die Finanzkrise: Politische Regulierung und Selbstregulierung 28
1.4 Forschungsfrage und Aufbau des Buches 35
2. Markt und Moral – Theoretische Verortung und Forschungsstand 41
2.1 Individualistisch-rationale Moralkonzeption in den Wirtschaftswissenschaften 41
2.2 Wirtschaftssoziologie 45
2.2.1 Mark Granovetter: Rationalistische Einbettungskonzeption 47
2.2.2 Karl Polanyi: Substantielles Wirtschaftsverständnis 51
2.2.3 Die moralisch-kulturelle Dimension sozialer Einbettung 55
3. Berufsmoral 65
3.1 Émile Durkheim: Berufsmoral als Praxis der Selbstregulierung 65
3.2 Moral als soziale Konstruktion 71
3.3 Kritik und Rechtfertigung – Der reflexive Funktionsmodus der Moral 74
3.4 Zusammenführende Begriffsbestimmung von Berufsmoral 81
4. Methodisches Vorgehen 85
4.1 Zur Methodologie rekonstruktiver Sozialforschung 85
4.2 Fallauswahl und selektives Sampling 90
4.3 Feldzugang 95
4.4 Das Leitfadeninterview als Datenerhebungsinstrument 96
4.5 Datenauswertung 98
4.5.1 Kodierverfahren 99
4.5.2 Typenbildung 101
5. Berufsmoralische Rechtfertigungsmuster 103
5.1 Die Orientierung am Kundenwohl 104
5.1.1 Kompromiss mit der Welt des Marktes 104
5.1.2 Die Fragilität der Kundenwohlorientierung 108
5.1.3 Fazit 119
5.2 Die Orientierung am gesellschaftlichen Wohl 121
5.2.1 Kritik an der gesellschaftlichen Verantwortungslosigkeit des Finanzgeschäfts 122
5.2.2 Der »Exit« als Voraussetzung für die Realisierung gesellschaftsbezogener Ansprüche 129
5.2.3 Institutionelle Voraussetzungen und Grenzen der Verwirklichung gesellschaftsbezogener Ansprüche 131
5.2.4 Fazit 136
5.3 Die Orientierung am innerbetrieblichen Wohl 138
5.3.1 Kompromiss mit der Welt des Marktes 139
5.3.2 Die Fragilität des Kompromisses in der beruflichen Praxis 140
5.3.3 Fazit 144
5.4 Die Orientierung am persönlichen Wohl 145
5.4.1 Selbstbestätigung und Kurzfristorientierung als zentrale Sinnbezüge des beruflichen Handelns 145
5.4.2 Abspaltung sozialer Verantwortlichkeiten 151
5.4.3 Fazit 155
5.5 Zwischenbetrachtung 155
6. »Schurkenhändler« und »Kulturbotschafter«: Die Individualisierung sozialer Verantwortung im Banken- und Finanzwesen 163
6.1 Individuelles Fehlverhalten als Krisenursache 163
6.2 Imagearbeit statt Strukturwandel 170
6.3 Regulierungskritik 172
6.3.1 Der freie Markt als normative Leitidee 173
6.3.2 Der Homo oeconomicus als zentrale Deutungsfigur menschlichen Handelns 175
6.4 Fazit 177
7. »Kritischer Geist« und »notwendiges Übel«: Die Herausforderungen institutionalisierter
Selbstregulierung im Banken- und Finanzwesen 179
7.1 Berufliche Ansprüche und professionelles Selbstverständnis der Risikoarbeiter 181
7.2 Anerkennungs- und Machtdefizite 184
7.3 Interessenskonflikte 194
7.4 Wissensprobleme 196
7.4.1 Wissenskulturelle Differenzen 197
7.4.2 Bewertungsgrundlagen der Risikoarbeit 199
7.5 Fazit 207
8. Soziale Herkunft, Berufsmilieu und Kritik 211
8.1 Rekrutierungspraxis und soziale Schließung im Investmentbanking 212
8.2. Homogene Berufsmilieus im Investmentbanking 218
8.2.1 Habitus 218
8.2.2 Gruppenidentität als Leistungs- und Machtelite 221
8.3 Soziale Heterogenität und das »Narrativ des Zufalls« im Trading 226
8.4 Homogene Berufsmilieus aus Sicht der Finanzakteure 231
8.4.1 Binnenperspektive: Bestätigungs- und Anerkennungseffekt 231
8.4.2 Außenperspektive: Verhinderung einer kritischen Berufspraxis 233
8.5 Soziale Kontrasterfahrungen in heterogenen Sozialmilieus 237
8.5.1 Konfrontation mit Kritik 237
8.5.2 Kritische Selbstkorrekturen 238
8.6 Konformitätsdruck und Kritikvermeidung: Die Kultur des Schweigens 244
9. Schluss 253
9.1 Die Berufsmoral der Banker 253
9.2 Potentiale und Grenzen finanzwirtschaftlicher Selbstregulierung 262
Glossar 271
Literatur 273

»Bei der von Claudia Czingon vorgelegten Studie zur ›Berufsmoral der Banker‹ handelt es sich um eine theoretisch ambitionierte wie empirisch überzeugende Dissertationsschrift. Mit der übersichtlich gegliederten Arbeit gelingt es ihr, eine Leerstelle der Forschung zu identifizieren und produktiv zu schließen.« Dietmar Wetzel, Soziopolis, 29.10.2019

»Die Arbeit gibt einen spannenden und wichtigen Impuls in die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzmarktsoziologie.« Andreas Langenohl, Soziologische Revue, 3.2021

Vorwort Die Studie von Claudia Czingon lässt sich als eine Aktualisierung und Weiterentwicklung der klassischen Überlegungen Émile Durkheims zu einer soziologischen Wissenschaft der Moral, insbesondere zur Moral von Berufsgruppen verstehen. Sie fragt im Kontext der branchenspezifischen Bewältigungsversuche der Finanzkrise von 2008 nach der Moral von Professionals im Banken- und Finanzwesen sowie nach den strukturellen Bedingungen ihrer Ermöglichung oder Behinderung. Hatte die Kritische Theorie im Durkheimschen Denken vornehmlich eine Tendenz zur positivistischen Apologie des Bestehenden erkannt, gewinnt ihm Czingons Studie die Fähigkeit zur »immanenten Kritik« ab, die Adorno bei Durkheim gerade stillgestellt sah. Wie Durkheim geht sie davon aus, dass sich eine Berufsmoral stets nur in Relation zu den ökonomischen Strukturbedingungen entwickeln und erhalten kann. Gleichwohl trifft man bei Czingons empirischen Erkundungen in der Finanzwelt auf Akteure, die weniger verblendet als vielmehr in der Lage zu sein scheinen, die strukturellen Handlungsspielräume und systemischen Imperative, denen sie ausgesetzt sind, einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Gerade mit ihrem Durkheimschen Blick findet die Autorin in der gegenwärtigen Finanzwelt moralische Potentiale, die über sie hinausweisen, zugleich aber stößt sie auf eine Übermacht struktureller Handlungszwänge im Finanzsystem. Ohne selbst ein moralisierendes Vokabular zu benutzen, versteht sie ihre Analyse im Sinne einer »Soziologie der Kritik«, die bei den Finanzakteuren sowohl eine Strukturkritik des Bank- und Finanzwesens als auch eine Kulturkritik kapitalistischer Kundenorientierung diagnostiziert. Für ihre empirische Untersuchung, die auf einer Dissertation im Rahmen eines Forschungsprojekts am Exzellenzcluster »Normative Orders« der Goethe-Universität Frankfurt am Main beruht, hat Claudia Czingon 24 qualitative Leitfadeninterviews mit verschiedenen Akteuren und einigen wenigen Akteurinnen aus dem heterogenen Feld des Finanzsektors durchgeführt. Mit einer solchen Studie betritt die Verfasserin weitgehend Neuland, zumal sich bislang weder die Professions- noch die Wirtschafts- und Finanzsoziologie systematisch mit der Berufsmoral der untersuchten Branche befasst haben. Mit dem Ziel, die Potentiale und Grenzen der finanzwirtschaftlichen Selbstregulierung soziologisch zu bestimmen, analysiert die Autorin moralische Handlungsorientierungen und Sichtweisen einer Berufsgruppe, die sich seit dem Ausbruch der Finanzkrise vielfach der öffentlichen Kritik ausgesetzt sieht. Ausgehend von dieser Wahrnehmung stellt die Arbeit die Frage, inwiefern sich die Ereignisse der Finanzkrise in Veränderungen des beruflichen Selbstverständnisses von Finanzakteuren niedergeschlagen haben. In einer prägnanten Darstellung der Ursachen und Folgen der Finanzkrise von 2008 spezifiziert das erste Kapitel zunächst den historischen und ökonomischen Kontext der Untersuchung. Eine besondere Betonung erfahren dabei Maßnahmen der normativen Selbstregulierung wie etwa die Einrichtung von Integritätsausschüssen und Risikoabteilungen, die den »Kulturwandel« der Banken nach außen hin kommunizieren sollen. Ergänzend zu den politischen Regulierungsinstrumenten seien diese nicht nur auf die Stabilisierung des Finanzsystems ausgerichtet, sondern auch mit dem Ziel verbunden, verlorengegangenes Vertrauen der Kunden zurückzugewinnen. Der Autorin gelingt in diesem Kapitel eine sehr anschauliche Darstellung der Krisendynamiken und ihrer Folgen. Sie bildet den Hintergrund für ihre Frage, ob und inwiefern die Akteure und Akteurinnen im Banken- und Finanzwesen zu einer kritischen Selbstreflexion willens und in der Lage sind. Das zweite Kapitel verortet den Untersuchungsgegenstand im Kontext eines wirtschaftssoziologischen Verständnisses von Markt und Moral. Dabei grenzt die Verfasserin ihren Ansatz zunächst von der Perspektive der Wirtschaftswissenschaften ab, die moralische Entscheidungen auf individuelle Präferenzen und Nutzenkalküle sozial isolierter Akteure zurückführen. Entlang der Auseinandersetzung mit den Einbettungskonzeptionen Karl Polanyis und Mark Granovetters entwickelt die Autorin ein substantielles Wirtschaftsverständnis, das die moralisch-kulturelle Dimension sozialer Einbettung hervorhebt. Generell einer handlungstheoretischen Perspektive folgend, plädiert sie in Anwendung einer Unterscheidung von Jens Beckert dafür, moralische Sinnmuster in Abhängigkeit zum jeweiligen Untersuchungsfeld als marktbegleitende Mischformen zu analysieren und nicht ausschließend als marktförderlich oder marktbegrenzend zu verstehen. Dabei werden der Leserschaft nicht nur die Schwächen der in den Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden individualistisch-rationalen Moralkonzeption deutlich vor Augen geführt. Claudia Czingon vermag auch die moralisch-kulturelle Dimension sozialer Einbettung, die sie ihrer Arbeit zugrunde legt, in überaus überzeugender Weise herzuleiten. Eine theoretische Schärfung des Begriffs der Berufsmoral nimmt das dritte Kapitel vor, indem es zwei zentrale Bestimmungskriterien präsentiert. Mit dem Ziel, sowohl einem individualistischen als auch einem normativistischen Moralverständnis zu entgehen, entwickelt die Autorin in Anlehnung an Durkheim zunächst ein sozialkonstruktivistisches Moralkonzept. Dieses definiert Moral nicht als universellen ethischen Standard, sondern erklärt sie als soziale Tatsache zum Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, wodurch unterschiedliche Handlungsorientierungen der Akteure und ihre wechselseitigen Verhaltenserwartungen kenntlich gemacht werden können. Ein zweites Bestimmungsmerkmal von Berufsmoral besteht in den Legitimitätsvorstellungen der Finanzakteure, die sich durch die Analyse von Rechtfertigungsmustern der beruflichen Praxis erfassen ließen. Dabei folgt die Autorin der grundlegenden Annahme einer Soziologie der Kritik, wonach Akteure über reflexive Fähigkeiten verfügen, die eigene berufliche Praxis gegenüber Einwänden rechtfertigen zu können. Das vierte Kapitel gibt Auskunft über das methodische Vorgehen der Untersuchung, die unterschiedliche Bereiche des Finanzwesens umfasste, um auch die zum Teil konkurrierenden Handlungsorientierungen der Akteurinnen und Akteure in den Blick nehmen zu können. Die Autorin sah sich dabei mit einem äußerst schwierigen Feldzugang konfrontiert, was sich als Reaktion auf die massive öffentliche Kritik an der Finanzbranche erklären lässt. Einen interessanten Hinweis auf die Sensibilität des Themas bietet die Situationsschilderung eines Interviews, das beinahe zum Abbruch des Gesprächs führte, da sich der Interviewte seiner Anonymität nicht mehr sicher fühlte und zunächst darauf bestand, die Audioaufzeichnung zu löschen. Umso beeindruckender ist, dass es Claudia Czingon unter diesen Umständen gelungen ist, empirisches Material zu erheben, das einen so tiefen Einblick in das Innenleben der Finanzwelt gewährt. Auf überzeugende Weise begründet sie auch ihr verschiedene Sparten des Bank- und Finanzwesens umfassendes Sample. In den Kapiteln fünf bis acht werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung präsentiert. Der Frage, wie die Finanzakteure ihre beruflichen Tätigkeiten legitimieren, begegnet das fünfte Kapitel zunächst mit einer Typologie berufsmoralischer Rechtfertigungsmuster. Als zentrale Legitimationsfigur identifiziert Claudia Czingon die Orientierung am Kundenwohl, der die Akteure und Akteurinnen in der Praxis jedoch häufig nicht gerecht werden könnten. Die Fragilität der Kundenwohlorientierung rechtfertigen die Interviewpartner und -partnerinnen in erster Linie mit der »Gier der Kunden«, die riskante Anlagestrategien und eine Verharmlosung möglicher Risiken notwendig machten. Institutionelle Faktoren der Erfolgsmessung wie Benchmarks, Provisionen und Boni werden hingegen kaum als Ursachen für riskante Anlagestrategien genannt. Das zweite Rechtfertigungsmuster rekurriert auf das gesellschaftliche Wohl und definiert die Finanzpraxis über einen allgemeinen Nutzen, der sich etwa durch Kredite an nachhaltigkeitsorientierte Unternehmen verwirklichen ließe. Auch diese Legitimation sei mit den meisten Bereichen des Finanzwesens wenig kompatibel, weshalb sie in erster Linie von Branchenaussteigerinnen und Branchenaussteigern vertreten werde. Insbesondere die Ausrichtung des Fonds- und Assetmanagements auf kurzfristige Ertragssteigerungen führe zu einer weitgehenden Entkopplung von realwirtschaftlichen Grundlagen und konterkariere die außerhalb des Finanzsektors liegenden gesellschaftlichen Zwecke. Ein besserer Kompromiss zwischen der Welt des Marktes und den eigenen berufsmoralischen Ansprüchen gelinge hingegen im Rechtfertigungsmuster des innerbetrieblichen Wohls. Dieses reduziere den normativen Bezugsrahmen des beruflichen Handelns auf den unmittelbaren Interaktionsradius in Unternehmen und adressiere sich vornehmlich an das Wohlergehen der Mitarbeiter und Vorgesetzten. Stehe der Anspruch, die Zufriedenheit der Beschäftigten zu erhöhen, im Einklang damit, ihre Leistungsfähigkeit zu steigern, erweise sich der Kompromiss mit der Gewinnorientierung in der Praxis jedoch als durchaus konfliktreich. Individueller Leistungsdruck und das kompetitive Umfeld in der Finanzbranche reduzierten die Spielräume für die Kooperation und das soziale Klima in der Mitarbeiterinnenschaft, was aufgrund der starken Identifikation der Akteurinnen und Akteure mit ihren Unternehmen jedoch als unvermeidlich hingenommen werde. Ein letztes Rechtfertigungsmuster ist schließlich die Orientierung am persönlichen Wohl. Gemäß diesem Rechtfertigungsmuster bemisst sich die Bewertung einer Finanzpraxis am Wohlergehen der eigenen Person. Eine solche Orientierung gehe mit einem starken Bedürfnis nach Selbstbestätigung einher, dem die kurzfristigen Feedbackschleifen und Erfolgsmöglichkeiten auf Finanzmärkten besonders entgegenkämen. Den Markt nähmen die Akteurinnen und Akteure dabei entweder als »größten Konkurrenten« oder »besten Freund« wahr, der ihnen scheinbar übermächtig gegenüberstehe. Diese Wahrnehmung erfordere nicht nur eine starke emotionale Selbstkontrolle, sondern führe auch zu einer Abspaltung sozialer Verantwortlichkeiten: Der gute Umgang mit den Kundinnen und Kunden werde nicht als Aufgabe der Bankerin und des Bankers, sondern als Angelegenheit des Marktes verstanden, dem entlang neoklassischer Annahmen die Fähigkeit zugeschrieben wird, sich selbst zu regulieren und faire Preise zu generieren. Insgesamt zeigt die von Claudia Czingon entwickelte Typologie anschaulich und in präziser Weise auf, wie die berufsmoralischen Rechtfertigungsmuster der Finanzakteure mit der Welt des Marktes konfligieren. Immer wieder verweist sie überdies auf die stark differierenden Realisierungschancen der rekonstruierten Legitimationsprinzipien in den verschiedenen Segmenten des Finanzsektors, der ja nicht nur aus dem Investmentbanking besteht. Die bereits im fünften Kapitel angedeutete Individualisierungskultur des Finanzwesens wird im sechsten Kapitel systematisch erörtert. Gemeint ist damit die Beobachtung, dass die Finanzakteurinnen und -akteure Konflikte, Probleme und Krisen als subjektives Versagen deuten. Die Branche sieht ihre Aufgabe denn auch weniger darin, problematische Geschäftsmodelle auf den Prüfstand zu stellen. Das angekratzte Image der Finanzindustrie werde stattdessen aufpoliert, um die Öffentlichkeit vom gesellschaftlichen Nutzen des Finanzsystems zu überzeugen. Diese Vorgehensweise werde durch eine Kritik an den politischen Regulierungsmaßnahmen orchestriert, die aus Sicht der Bankerinnen und Banker einen Angriff auf die normative Leitidee des freien Marktes darstellten. Das Ziel des siebten Kapitels besteht darin, die Grenzen und Widersprüche finanzwirtschaftlicher Selbstregulierung offenzulegen. Bilden Investmentbanker, Trader und Fondsmanager gewissermaßen die professionelle Speerspitze des Finanzmarktkapitalismus, so richtet dieses Kapitel das Augenmerk auf die »Risikoarbeiter«, die in den Rechts-, Compliance- und Nachhaltigkeitsabteilungen der Finanzinstitute sitzen. Auf der vermeintlich »guten Seite« der Branche stehend, besteht ihre Aufgabe darin, soziale, ökologische und ökonomische Risiken zu berechnen und von Transaktionen abzuraten, wenn etwa Nachhaltigkeitsbelange negativ betroffen sind. Wie Czingons Ergebnisse zeigen, stoßen die Risikoarbeiter jedoch häufig auf die Ablehnung ihrer Kollegen, weshalb sie mit Anerkennungsdefiziten zu kämpfen haben. Zudem gelinge es ihnen kaum, den normativen Bezugsrahmen der ökonomischen Verwertungslogik zu verlassen, seien sie als Mitarbeiter doch von den ökonomischen Erfolgen des eigenen Unternehmens abhängig und daher kaum in der Lage, dessen Praktiken in Frage zu stellen. Mit den vorhandenen Instrumenten der Risikoanalyse ließen sich die Entstehungsvoraussetzungen von Risiken zudem kaum adäquat einschätzen; eine weitere Grenze der Selbstregulierung könne daher in einem strukturellen Wissensdefizit der Akteure identifiziert werden. Betont die Arbeit an mehreren Stellen die Reflexivitätsdefizite der Finanzakteure, werden nun im achten Kapitel die sozialen Bedingungen beleuchtet, die einen kritischen Umgang mit der eigenen beruflichen Praxis strukturell erschweren. Im Mittelpunkt der Analyse stehen hier die soziale Herkunft und die Ausbildung der Finanzakteure. Im Anschluss an Robin Celikates’ Überlegungen zu den sozialen Voraussetzungen für die Entstehung und Ausübung der Fähigkeit zur Kritik argumentiert die Autorin, dass sich ein strukturelles Reflexivitätsdefizit als Folge spezifischer Rekrutierungsprozesse an Business Schools und Eliteuniversitäten ausbilde, welches sich in der alltäglichen Lebensführung der Finanzakteure reproduziere. Das homogene Berufsmilieu der Bankerinnen und Banker entziehe sich weitestgehend der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen beruflichen Praxis. Die Folge sei ein gesteigerter Konformitätsdruck, da das ausgeprägte Anerkennungsbedürfnis nur innerhalb der eigenen sozialen Gruppe gestillt werden könne. Die Homogenität der Berufsbranche manifestiere sich in einer »Kultur des Schweigens«, in der Kritik vermieden und abweichendes Verhalten sanktioniert werde. Der Ertrag dieses Abschnitts besteht insbesondere darin, die »weichen« Kontrollmechanismen aufzuzeigen, die kritisches Verhalten in der Finanzbranche etwa durch Anerkennungsentzug innerhalb der eigenen Gruppe unterbinden.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie ; 29
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 371 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Mikrosoziologie
Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Betriebswirtschaft / Management Spezielle Betriebswirtschaftslehre Bankbetriebslehre
Schlagworte Bank • Banker • Einstellung • Finanzmarkt • Finanzwesen • Kapitalismus • Moral • Soziologie • Überzeigung
ISBN-10 3-593-51020-0 / 3593510200
ISBN-13 978-3-593-51020-0 / 9783593510200
Zustand Neuware
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