Die Newcastle-Krankheit des Geflügels - eine veterinärhistorische Studie vor dem Hintergrund der Geschichte der Geflügelhaltung

(Autor)

Buch
735 Seiten
2015
VVB Laufersweiler Verlag
978-3-8359-6290-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Newcastle-Krankheit des Geflügels - eine veterinärhistorische Studie vor dem Hintergrund der Geschichte der Geflügelhaltung - Annette Oehler
49,80 inkl. MwSt
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Die Zielsetzung dieser Dissertation ist die Zusammenstellung und Bewertung der sehr umfangreichen Fachliteratur über alle Aspekte der Newcastle-Krankheit (NK). Nach einer Einleitung werden im zweiten Kapitel die international und national verbindlichen Definitionen der Tierseuche NK und der NK-Viren, das einschlägige Tierseuchenrecht, der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand der Ätiologie, das Wirtsspektrum nach natürlicher Infektion, die Methoden der Virusnachweise, die klinisch hervortretenden Verlaufsformen, die Pathogenese, die Differenzialdiagnosen und die aktuellen Möglichkeiten einer wirkungsvollen Immunprophylaxe dargestellt. Im nächsten großen Kapitel (Kapitel 3) folgt an Hand zahlreicher Veröffentlichungen die retrospektive Darstellung der Geschichte der NK, von der Erstbeschreibung durch KRANEVELD (1926) und DOYLE (1927) bis hin zur Gegenwart. Weil ein enger Zusammenhang zwischen den fundamentalen Erkenntnissen über das Virus der NK und den historischen Entwicklungen der Geflügelzucht und -haltung besteht, wird auf deren wesentliche historische Etappen eingegangen. Der bedeutsame Aspekt der mannigfaltigen Interaktionen zwischen antiken und „modernen“ Haltungs- und Ernährungsformen, sowie der Häufigkeit und Schwere der bisherigen drei weltweiten Seuchenzüge wird erläutert. Klinisch, ätiologisch, ökologisch und ökonomisch ist die NK eine weltweit vorkommende, mit zentralnervösen, respiratorischen und enteralen Symptomen einhergehende, hochgradig kontagiöse, durch aviäres Paramyxovirus Typ 1 (APMV-1) ausgelöste Infektionskrankheit, die besonders in Hühner- und Putenbeständen zu massiven Verlusten führt. Infektions- und krankheitsempfänglich sind darüber hinaus Vögel zahlreicher Arten und in selteneren Fällen auch Säugetiere, einschließlich Menschen. Deshalb ist die NK von großer ökologischer und ökonomischer Wichtigkeit. Das Internationale Tierseuchenamt (OIE) hat die NK folgerichtig als eine der 15 bedeutenden Tierseuchen in der Liste A gelistet. Auf EU-Ebene gelten die aktualisierten Bestimmungen der RL 92/66 EWG und in Deutschland die Geflügelpest-VO. Aufgrund dieser Bestimmungen ist die NK eine anzeige- und bekämpfungspflichtige Tierseuche, wenn sie bei Hühnern und Puten festgestellt wurde. Allerdings unterliegen nur jene APMV-1 dem Tierseuchenrecht, wenn der in Hühnerküken bestimmte intrazerebrale Pathogenitätsindex (ICPI) = 0,7 ist. Gemäß den Empfehlungen des OIE sind auch molekularbiologische Methoden zur NKV-Charakterisierung zulässig. NKV-Isolate, die einen ICPI < 0,7 aufweisen, entsprechen nicht der EU- und der deutschen NKV-Definition und sind deshalb tierseuchenrechtlich nicht zu maßregeln, können aber als Lebendimpfstoffe zur Prophylaxe der NK eingesetzt werden. Alle Hühner und Puten, unabhängig von Herdengröße und Alter, müssen in Deutschland und einigen benachbarten, nicht aber in allen europäischen Ländern, gegen die NK so geimpft werden, dass alle Hühner und Puten einer Herde über eine solide Immunität verfügen. Ätiologisch wird die NK durch aviäre Paramyxoviren Typ 1 (APMV-1) verursacht, die taxonomisch der Ordnung der Mononegavirales, Familie Paramyxoviridae, Unterfamilie Paramyxovirinae, Genus Avulaviren zugeordnet werden. Das Genom dieser Viren liegt als einzelsträngige, nicht segmentierte RNA mit negativer Polarität vor. Neben dem APMV-1, zu dem das Virus der Newcastle-Krankheit (NKV) als Typspezies gehört, sind neun weitere Serotypen (APMV-2 bis APMV-10) identifiziert worden, die neuerdings als Spezies im Genus Avulavirus geführt werden. Alle zehn bislang bekannten Serotypen (= Spezies) können Vögel verschiedener Arten infizieren und bei diesen Vögeln klinische Symptome verursachen. APMV-2 bis -10 bedingen oftmals respiratorische Symptome, verlaufen aber häufig klinisch inapparent. Große wirtschaftliche Verluste sind nach Infektionen mit APMV-2 bis -10 kaum zu erwarten. Gänzlich anderes verlaufen Infektionen mit NK-Virus, da dessen virulente Stämme ein Krankheitsgeschehen mit hoher Morbiditäts- und Mortalitätsrate in Hühner- und Putenbeständen hervorrufen. Bereits HANSON und BRANDLY (1955) haben eine Unterteilung der NK-Viren in vier Pathotypen vorgenommen, die auch heute noch gültig ist. Diese Autoren unterscheiden velogene (hoch virulente), mesogene (mäßig virulente), lentogene (schwach virulente) und apathogene NKV-Stämme. Im elektronenmikroskopischen Bild erscheinen die Partikel aller APMVs in sphärischer Gestalt mit Durchmessern von 100 bis 350 nm. Bruchstücke der heringsgrätenartigen RNS und filoforme Viruspartikel werden ebenfalls beobachtet. Das virale Genom kodiert für sechs Strukturproteine, wobei das Fusionsprotein (F-Protein) und das Hämagglutinin-Neuramini-dase-Protein (HN-Protein) von besonderer diagnostischer Bedeutung sind. Beide Proteine sind spikeartig in der Hüllmembran, die das Nucleokapsid ummantelt, angeordnet. Nach Eindringen des Virus in eine empfängliche Zelle muss das F-Protein zunächst durch proteolytische Spaltung mittels trypsinhaltiger Wirtszellproteasen aus dem Vorläuferprotein F0 aktiviert werden. Dabei bestimmt die Aminosäuresequenz an der Spaltstelle des F0-Proteins die Virulenz des NKV-Stammes. Das HN-Protein führt nach Ankopplung an Neuraminidase-haltige Rezeptoren im befallenen Organismus zu einer Erythrozytenagglutination. Durch den Einsatz von HN-spezifischen Antikörpern wird diese Hämagglutinationsaktivität gehemmt, was zur Differenzierung der zehn APMV-Serotypen genutzt wird. Zur Klassifi-zierung und Differenzierung der APMV-Stämme wurden verschiedene Methoden etabliert. Praktisch relevant ist die Differenzierung auf Spezies- und Subspezies mit mono- und polyklonalen Antikörpern (mAK, pAK), wodurch eine Unterscheidung nach biologischen, antigenetischen und epidemiologischen Eigenschaften ermöglicht wird. Erkrankte und subklinisch infizierte Tiere scheiden Virus während längerer Zeiten aus, wobei dies via Nasen- und Rachensekret, sowie mit dem Kot, nur sehr selten mit dem Ei erfolgt. Die für die Epidemiologie wesentliche Übertragung von NK-Viren geschieht meist horizontal, besonders mit den Vektoren Staub und Luft. Daneben kommt unbelebten und belebten Vektoren, sowie der Erregerverschleppung durch unsachgemäßes, menschliches Handeln eine mitunter große Bedeutung zu. Die Tenazität der NK-Viren wird durch die Virulenz des Erregers und durch die besonderen physikalischen Eigenschaften der kontaminierten Substrate determiniert. Virulente NKVs zeigen im Vergleich zu mesogenen, lentogenen und avirulenten NKVs eine größere Thermostabilität und eine relativ höhere Stabilität der Infektiosität in feuchter Umgebung. Rasch inaktivierend wirken Formalin, organische Säuren sowie oxidierende und chlorhaltige Desinfektionsmittel, aber auch quaternale Ammoniumverbindungen. Das NKV zeigt sich sehr sensibel gegenüber der Einwirkung von UV-Strahlung. Für eine sichere Abtötung des NKV sind unbedingt die von der DVG geprüften chemischen Desinfektionsmittel zu verwenden und bei deren Anwendung die empfohlenen Konzentrations-, Zeit- und Temperatur-Vorgaben zu beachten. Grundsätzlich gelten Vögel aller rezenten Arten für eine Infektion mit dem APMV-1 als empfänglich. Gemäß Literaturangaben sind mindestens 241 verschiedene Vogelspezies aus 27 Ordnungen auf natürlichem oder experimentellem Weg mit NKV infiziert worden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen NKV-Infektionen bei einheimischen und durchziehenden wild-lebenden Arten des Wassergeflügels, weil diese Vögel zwar infektionsempfänglich und Virusausscheider sind, aber oftmals keine klinischen Symptome entwickeln. Deshalb stellt NKV-infiziertes Wassergeflügel eine ernst zunehmende Bedrohung für das Wirtschafts-geflügel und für frei lebende Vögel dar. Neben Vögeln gelten auch (Labor-)Säugetiere, Arthropoden, Reptilien und Fische als grund-sätzlich NKV-empfänglich. Weiterhin besitzt das NKV zoonotisches Potential, wobei beim Menschen das klinische Bild einer Konjunktivitis dominiert. Eine Infektion mit velogenem NK-Virus verläuft beim Huhn meist perakut bis akut, oftmals mit unspezifischen Allgemeinsymptomen (Fieber, Apathie, Anorexie, Rückgang der Lege-leistung, Durchfall), gefolgt von nervalen Störungen (Tortikollis, Ataxie, Lähmungen der Flügel- und Beinmuskulatur). Die Morbidität und Mortalität kann 100 % erreichen. Nach einer Infektion mit mesogenem NK-Virus stehen hingegen respiratorische Symptome im Vordergrund, die Morbidität liegt bei 50 %, die Mortalität ist altersabhängig und liegt zwischen 5 und 50 %. Infektionen mit lentogenem und avirulentem NKV treten gemäß Definition klinisch oft nicht in Erscheinung. Grundsätzlich muss betont werden, dass es ein typisches und eindeutiges klinisches Bild der NK nicht gibt. Diese Aussage trifft auch für die pathologischen und histopathologischen Befunde zu. Nach einem chronischen Krankheitsverlauf sind oft Boutons (herdförmige Nekrosen) in der Mukosa von Jejunum und Ileum zu diagnostizieren. Histopathologisch liegt eine nicht-eitrige Enzephalitis und Myelitis vor. Keiner dieser Befunde gilt als pathogno-monisch, sodass zur zweifelsfreien Diagnosestellung auf Methoden des direkten und indirekten Virusnachweis zurückgegriffen werden muss. Zum direkten Virusnachweis ist in den OIE-Empfehlungen und in der amtlichen Methodensammlung des FLI die Virusisolierung in embryonierten Hühnereiern, oder in Zellkulturen festgelegt. Hämagglutinierende Isolate müssen FLI zur Bestätigung und zur Subtypbestimmung zugesandt werden. Wird der Befund virulentes NKV bestätigt, muss die zuständige Behörde umgehend benachrichtigt werden, die entsprechende Bekämpfungs-maßnahmen einleitet, kontrolliert und abschließend beurteilt. Außerdem wurden weitere Methoden etabliert: die Darstellung im Elektronenmikroskop, die Serotypisierung mit mAK oder pAK, der Nachweis von Gensegmenten mit der real time RT-PCR, oder der neueren DNA-se-SISPA-Methode. Ebenso haben sich Immunoassays zum direkten NKV-Nachweis, wie die Immunofluoreszenz- oder die Immunperoxidasetechnik bewährt. Als indirekter Erregernachweis hat sich insbesondere der HAH-Test als Standardmethode durchgesetzt, wobei auch die OIE-Empfehlungen und die Methodensammlung des FLI die Vorgabe für die Testdurchführung liefern. Zur Kontrolle des Impferfolges können auch verschiedene Modifikationen des enzyme-linked immunosorbent assay (ELISA) zur Bestim-mung der Antikörper-Titer bei großem Probenmengen dienlich sein. Aufgrund der unspezifischen Krankheitssymptome ist die Liste der möglichen Differenzial-diagnosen sehr lang. Grundsätzlich kommen neben vielen virus- und bakteriellbedingten Infektionskrankheiten, auch Parasitosen und eine Vielzahl von Vergiftungen in Frage. Besonders sind jedoch die Aviäre Influenza, die Geflügelcholera und die Psittakose hervorzuheben, da es vor allem in der Phase der Erstbeschreibungen der NK häufig zu Ver-wechslungen und Fehldiagnosen kam. In Deutschland gilt für Hühner und Puten die Impfpflicht. Deshalb wird im Kapitel 3 die historische Entwicklung der verschiedenen Impfstoffe detailliert geschildert. Der erste wirksame und relativ verträgliche Adsorbatimpfstoff gegen die NK wurde von ERICH TRAUB in gemeinsamer Arbeit mit KARL BELLER schon 1943 in Gießen entwickelt, der 1944 zugelassen wurde und mit gutem Erfolg zum Einsatz kam. In den folgenden Jahren wurde der Traubsche Adsorbatimpfstoff durch verschiedene Zusatzstoffe modifiziert und verbessert. Im Jahr 1976 wurde die erste Ölemulsionsvakzine in Deutschland zugelassen, die als Adjuvans mit einem Mineralölkomplex angereichert wurde und eine im Vergleich zur Adsorbatvakzine potentere Immunantwort erzeugte. Auch die Entwicklung von Lebensvirusimpfungen wurde seit den späten 1940er Jahren vorangetrieben, sodass sich bald verschiedene Lebendvirusimpfstoffe auf Grundlage von mesogenen, lentogenen, und apathogenen NKV-Stämmen etablieren konnten. Ein besonderer Meilenstein in der erfolgreichen Bekämpfung der NK war die Lebendvirusvakzine Hitchner B1, die in Deutschland 1960 zugelassen wurde. Einige Jahre später wurde auch das LaSota- Virus als Lebendvirusimpfstoff zugelassen. Heute sind zahlreiche verschiedene Vakzinen vom PEI zugelassen und auf dem internationalen und deutschen Markt. Auch Kombinationsimpfstoffe, die zusätzlich zum lentogenen NKV inaktivierte Viren der Infektiösen Bronchitis, Bursitis oder Egg-drop-Syndrom-Virus enthalten. Neuerdings wird von Seiten der Wissenschaft der Fokus vermehrt auf gentechnisch hergestellte Impfstoffe gelegt. Hierunter fallen die Subunit- und Rekombinant-Impfstoffe. Für diese Impfstoffe werden die Genome der antigenwirksamen Strukturproteine (HN- und F-Protein) isoliert und in Bakterien oder in anderen Viren (z. B. in Geflügelpockenviren), die als Vektor dienen, eingepflanzt. Hierdurch ist die Produktion multivalenter und wirksamer Impfstoffe möglich, die vermutlich in Zukunft – bisher aber noch nicht in Deutschland – eine bedeutende Rolle in der NK-Prophylaxe spielen werden. Ein weiterer aktueller Fokus der Wissenschaft ist der Einsatz von NK-Viren in der humanen Krebstherapie. NK-Viren haben ein hohes Replikationsvermögen in tumorös entarteten Zellen. Die onkolytische Wirkung beruht auf einer Stimulation der spezifischen und nicht-spezifischen Immunabwehr: beispielsweise durch Induktion der Apoptose oder durch Sensibilitätserhöhung von befallenen Tumorzellen für den Tumor-Nekrose-Faktor. Entsprechende Therapieansätze werden als Virotherapie bezeichnet und mit guten Erfolgen u.a. in der Behandlung von Prostatakarzinomen eingesetzt. Betrachtet man die NK-Seuchenzüge in direktem Bezug zur geschichtlichen Entwicklung der Geflügelhaltung, so ist festzuhalten, dass Geflügel bis in das Zeitalter der Industrialisierung fast ausschließlich zur Deckung des Eigenbedarfs und nur auf extensivem Niveau gehalten wurde. Frühe Berichte aus der griechischen und römischen Antike geben Aufschluss, dass Hühner zu jener Zeit in kleinen Gruppen mit einem Hahn wohl eher aus religiösen (Opfer) und kultischen Gründen gehalten wurden (Grabbeigaben). In der Zeit der römischen Antike wandelte sich die Nutzung des Geflügels: es wurde zum Decken des Eigenbedarfs an Fleisch, Eiern, Fett und Federn gehalten. Der römische Agrarschriftsteller Columella gibt explizite Haltungsanweisungen speziell für Geflügel, die von einer erstaunlichen Sachkenntnis zeugen. Diese private und bescheidene Nutzung des Hausgeflügels blieb bis zur Industrialisierung nahezu unverändert bestehen. Neue Erkenntnisse in der Vererbungs- und Ernährungslehre, sowie technische Errungen-schaften (künstliches Licht, Brutschränke) führten zu einem nachhaltigem Wandel in der Geflügelhaltung: die Größen der Bestände wuchsen, durch Zukauf fremder Rassen begann eine Selektion auf bestimmte Leistungsmerkmale, der nationale – bald auch internationale – Handel mit Geflügel und Geflügelprodukten bekam eine neue Dimension. Nach Ende der 1920er Jahre hatte sich in Deutschland die Geflügelhaltung zu einem eigenständigen und lukrativen Erwerbszweig entwickelt. Vermutlich ist es auch vor der Erstbeschreibung der NK schon zu einzelnen kleineren Ausbrüchen gekommen, die damals aufgrund mangelnder Kenntnis noch der Klassischen Geflügelpest (aviäre Influenza A) oder der Geflügelcholera (Pasteurella multocida) zugeschrieben wurden, oder ätiologisch gänzlich ungeklärt blieben. In Deutschland wird die „Kriegstierseuche“ erstmals im Jahr 1941 durch Prof. Kurt Wagener beschrieben und war seit dem bis in die 1970er Jahre endemisch verbreitet. Zeitgleich mit dem Auftreten der ersten Seuchenfälle beginnt die erste weltweite Pandemie, die bis in die frühen 1950er Jahre anberaumt wird. So waren früher oder später nahezu alle Länder in unterschiedlicher Ausprägung von der NK betroffen. Charakteristisch für die erste Pandemie ist eine sehr langsame Ausbreitungstendenz, was u.a. mit den Wirrnissen des Zweiten Weltkrieges und die dadurch beschränkten Handelsmöglich-keiten begründet werden kann. Fast alle isolierten NKV-Stämme der frühen Jahre waren von velogenem Charakter, so dass die NK-Seuchenzüge von hoher Morbidität und Mortalität geprägt waren. In den späten Jahren der ersten Pandemie häuften sich Berichte aus einigen europäischen Ländern, darunter auch aus Deutschland, über deutlich mildere Verlaufsformen der NK. Grund dafür war eine signifikante Virulenzabnahme der NKV-Stämme in den 1950er Jahren, die nun von lento- oder mesogenem Charakter waren. Betrachtet man die Entwicklung der Geflügelhaltung, so hat sich in Deutschland – wie vermutlich auch in allen anderen Industrienationen – die Haltung von Geflügel nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig zu intensiv geführten Massenbetrieben gewandelt, wodurch die Einschleppung und Verbreitung von hochkontagiösen Seuchen wie der NK in größtem Maße begünstigt wurde. Die zweite Pandemie der NK wird von den späten 1960er Jahren bis 1974/75 angesetzt, die sich typischerweise sehr schnell ausbreitete, so dass 1973 nahezu alle Länder weltweit betroffen waren. Ursächlich wird der Import wildgefangener und NK-infizierter Psittaziden verantwortlich gemacht. Die dritte Pandemie wird auf den Zeitraum von den späten 1970er Jahren bis in die frühen 1980er Jahre datiert. Sie wurde ausgelöst durch Tauben, die mit dem sog. Paramyxovirus-1 des Taubentyps (PPMV-1) infiziert waren. Bald griff dieser Erreger durch horizontale Ausbreitung auch auf Hühner- und Putenbestände über. Weil die örtlichen und zeitlichen Übergänge fließend waren, ist eine exakte Begrenzung der drei Pandemien nicht zuverlässig möglich. Analog zu den weltweiten Pandemien ist es auch in Deutschland zu landesweiten NK-Epidemien gekommen. Erst gegen Ende der 1960er Jahre konnten die NK-Ausbrüche auf ein dauerhaft niedriges Niveau gedrückt werden, was auf die Zulassung und den regelmäßigen Einsatz der Hitchner B1-Lebendvirusvakzine ab 1960 zurückgeführt wird. Gänzlich getilgt konnte die NK in Deutschland erst in den späten 1970er Jahren werden. Dies ist zum einen auf die „Geflügelpest-VO“ von 1972 zurück-zuführen, wonach Hühner ab einer Herdengröße von 200 Tieren geimpft werden mussten. Außerdem wurde 1976 die erste Ölemulsionsvakzine zugelassen, wodurch ein potenterer Impfschutz gegeben war. In den Jahren 1993 und 1994 ist die Seuche durch einen bisher unbekannten Genotyp des NKV in den Niederlanden, Belgien und Deutschland nochmals kurz aufgeflammt, fast ausnahmslos jedoch nur in Klein- und Kleinstbeständen, die bis dato nicht der Impfpflicht unterlagen. Als Reaktion darauf wurde im Dezember 1994 durch eine Neufassung der Geflügelpest-VO die Impfpflicht auf alle Hühner- und Putenbestände, ohne Begrenzung auf eine Herdengröße ausgeweitet. Problematisch gestaltet sich die NK-Situation auch heute noch in nahezu allen Entwicklungs- und Schwellenländern. Vor allem in den ländlichen Regionen, wo Hühner nur extensiv zur Eigennutzung gehalten werden, ist die NK oftmals endemisch verbreitet und geht regelmäßig mit hohen Verlusten einher. Impfungen sind dort aufgrund der materiellen Not nur bedingt möglich, zudem spielen soziokulturelle und religiöse Aspekte bei der oftmals mangelnden Impfbereitschaft der dortigen Landbevölkerung eine wesentliche Rolle. Betrachtet man die Implikationen der NK in ihrer Gesamtheit, so lässt sich festhalten, dass diese Seuche nicht nur ein wesentliches Problem für Gesundheit und Leistung des Hausgeflügels und der Wildvögel, aber auch des Menschen ist, sondern zugleich drastische Auswirkungen auf den nationalen und internationalen Handel und auf die Ernährung der Weltbevölkerung besitzt. Die Umgestaltung der Geflügelerzeugung vom extensiven, kleinbäuerlichen Nebenerwerb zur industriemäßigen Großproduktion von Eiern und Fleisch bewirkte einerseits eine effiziente und kostengünstige Lebensmittelversorgung der Bevölkerung und andererseits eine fast ausschließlich auf Technisierung, Automatisierung und Spezialisierung aufgebaute Produktion zu Lasten des Tierwohls. Die Rückbesinnung auf tradierte, in früheren Jahrhunderten übliche Formen der Boden- und Auslaufhaltung, mögen den natürlichen Ansprüchen des Geflügels eher entsprechen. Es muss aber auch bei artgerechteren Haltungsformen mit erhöhten Risiken für die Tiergesundheit, in Folge von NKV- und vielen anderen Infektionen, gerechnet werden. Für die Tierärzteschaft ist es eine wichtige Aufgabe, die weitere Entwicklung der Gesundheitsprophylaxe und den damit verknüpften Haltungsformen nicht nur abzuwarten, sondern darin eine aktive Gestalterrolle zu übernehmen.
Reihe/Serie Edition Scientifique
Sprache deutsch
Maße 146 x 210 mm
Einbandart Paperback
Themenwelt Veterinärmedizin
Schlagworte Doktorarbeit • Uni • Wissenschaft
ISBN-10 3-8359-6290-6 / 3835962906
ISBN-13 978-3-8359-6290-3 / 9783835962903
Zustand Neuware
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