Sonderedition: Buchenleben (eBook)

Ein Baum erzählt seine Geschichte - SPIEGEL Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
358 Seiten
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
978-3-641-33523-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sonderedition: Buchenleben - Peter Wohlleben
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Erinnerungen einer Buche - Der Spiegel-Bestseller, jetzt als edle Sonderedition

Über 200 Jahre ist sie alt, jetzt blickt sie dem Ende ihres Lebens entgegen: eine alte Buche, zu deren Füßen ihre Sämlinge umsorgt und geschützt heranwachsen. Doch alles wird sich ändern, wenn die Buche stirbt. Wie kann sie die kleinen Bäume auf eine Zukunft vorbereiten, in der sie auf sich gestellt sind und in der nur überlebt, wer die Gesetze der Natur versteht? So beginnt sie zu erzählen, von ihrem fesselnden Leben voller Lebenslust und Neugier, Gefahr und Verlust ...

In diesem einzigartigen Roman - dem ersten seiner Art - inszeniert Peter Wohlleben die spannende und berührende Geschichte einer Buche, die unseren Blick auf die Natur für immer verändern wird.

Dieses Buch ist eine Sonderedition mit veredeltem Umschlag

Peter Wohlleben, Jahrgang 1964, wollte schon als kleines Kind Naturschützer werden. Er studierte Forstwirtschaft und war über zwanzig Jahre lang Beamter der Landesforstverwaltung. Heute arbeitet er in der von ihm gegründeten Waldakademie in der Eifel und setzt sich weltweit für die Rückkehr der Urwälder ein. Er ist Gast in zahlreichen TV-Sendungen, hält Vorträge und Seminare und ist Autor von Büchern zu Themen rund um den Wald und den Naturschutz, die sich allein im deutschsprachigen Raum 2,5 Millionen Mal verkauft haben. Für seine emotionale und unkonventionelle Wissensvermittlung wurde Peter Wohlleben 2019 die Bayerische Naturschutzmedaille verliehen. Seine Bücher sind in über 46 Ländern erschienen.

KAPITEL 7


EINE BITTERE LEKTION


Bevor ich auf die Ereignisse unseres siebenundfünfzigsten langen Schlafs eingehe, also der Zeit, in der wir allmählich die Kindheit hinter uns ließen und zu Halbstarken heranwuchsen, sollte ich euch erst einmal meine Freundinnen vorstellen.

Die ersten zwei Dutzend Sommer verbrachte ich mit der Krummen. Sie hatte den Schalk hinter den Blättern, war jederzeit zu einem kleinen Abenteuer bereit und trieb auch in den Stunden mit Tante Buckel ihren Schabernack. Mitten in einer langweiligen Abhandlung über das Sparen von Wasser im Frühjahr (»Trinkt nicht so viel! Der nächste Sommer könnte trocken sein!«) ließ die Krumme einen Hilferuf los und warnte uns vor dem braunen Tod. Sofort erstarrte die ganze Klasse, um gleich darauf in Verteidigungsbereitschaft zu gehen.

Unsere Blättchen füllten sich mit übel schmeckenden Stoffen, die den Angreifern den Appetit verderben sollten. Hektisch brach Tante Buckel den Unterricht ab und setzte schon an, die Botschaft unter den Erwachsenen zu verkünden, da breitete sich ein fröhlicher Duft aus, und die Krumme verriet, dass sie uns hereingelegt hatte. Bis sich alle wieder beruhigt hatten, war der Vormittag vorüber, sodass Tante Buckel nichts anderes übrig blieb, als missmutig den Schultag zu beenden.

Die Streiche blieben den Erwachsenen nicht lange verborgen. Meine Mutter warnte mich, die Krumme sei schlechte Gesellschaft und ich solle mir besser andere Freundinnen suchen, wie etwa die Schlanke. Diese Schülerin wuchs kerzengerade, mit akkurat seitlich abstehenden Zweigen, und warf sogar ihre Blätter gleichzeitig mit den Müttern ab. Sie verzichtete damit auf die einzige Möglichkeit, wenigstens einmal im Jahr ihren Hunger ordentlich zu stillen.

Eigentlich hätte sie deswegen kleiner als wir anderen bleiben müssen, doch merkwürdigerweise war sie eher ein wenig größer. Ich hatte den Verdacht, dass sie von ihrer Mutter, einer alten Buche mit völlig vernarbter Rinde, mehr als nötig zugesteckt bekam. Freundinnen hatte sie wenige, lediglich einen kleinen Kreis von Jasagerinnen, die allerdings trotzdem das rauschende Herbstfest mitfeierten. Die Schlanke schlief dann ja bereits zusammen mit den Erwachsenen und bekam von diesem kleinen Treuebruch nichts mit.

Mir war die Krumme als Freundin wesentlich lieber, auch wenn ich nicht jeden ihrer Streiche mitmachte. So wurden wir alle von Tante Buckel angehalten, absolut gerade zu wachsen. Das sei der beste Garant zur Vermeidung von Knochenbrüchen. Wir Kinder hatten so etwas zum Glück noch nicht erlebt, doch über das Netzwerk der Haarwesen schon von solchen Unglücksfällen erfahren. Die Krumme gab auf diese Ratschläge nichts und schlenkerte im Wachstum mit ihrem Stamm hin und her, sodass er sich fröhlich in die verschiedensten Richtungen bog.

So etwas hätte ich mich nicht getraut, denn diesen Regelverstoß konnte man nicht verbergen – einmal krummer Stamm, immer krummer Stamm. Ihre Mutter versuchte das gegenüber Tante Buckel damit zu entschuldigen, dass die Krumme kurz nach der Geburt vom braunen Tod angefressen worden sei. Statt des beschädigten Haupttriebs habe nun ein Seitenast die Aufgabe übernommen, sich nach oben zu recken und einst die Krone zu tragen. Dass diese zweitbeste Lösung zu solchen Missbildungen führe, sei schließlich bekannt. Doch eine Attacke auf meine Nachbarin wäre mir nicht entgangen. Nein, es war ihr purer Übermut, der mir den trüben Vormittag mehr als einmal versüßte.

Unsere Wurzeln wuchsen zusammen und verstärkten das Band der Freundschaft. Wir teilten die Nahrung, die unsere Mütter uns gaben, schwesterlich untereinander, ebenso die gelegentlichen Zuckergaben der Haarwesen. Im Rückblick denke ich, dass die Krumme ihr Schicksal schon wesentlich früher ereilt hätte, wenn sie auf sich alleine gestellt gewesen wäre. Durch ihre Kapriolen vergeudete sie nämlich ihre Kraft und fiel im Wachstum immer weiter hinter die anderen Mitschülerinnen zurück – zurück in noch mehr Dunkelheit, in den Schatten der gesamten Klasse.

Mit der Zeit empfand ich das Teilen der Rationen zunehmend als ungerecht. Die Krumme trug immer weniger zur Nahrungsbeschaffung bei, und ihre Scherze im Unterricht bekamen den schalen Beigeschmack, meinen Hunger zu verstärken. Immer häufiger dachte ich darüber nach, ihr die Freundschaft zu kündigen, doch jedes Mal verließ mich kurz vor dem entscheidenden Signal der Mut.

Der nächste Herbst ließ die trüben Gedanken verfliegen, weil wir wieder unser rauschendes Zuckerfest unter den schlafenden Müttern feierten – unser letztes. Mit den ersten scharfen Frösten fielen wir alle in einen tiefen Schlaf.

Ich hatte einen furchtbaren Albtraum. Rings um mich herum knackte und stöhnte es, und mein Inneres durchzog ein kaum zu ertragendes Reißen. Panik durchflutete den Boden, und die Haarwesen spielten schier verrückt vor lauter Nachrichten von Pein und Not. Solche Schmerzen! »Das ist nur ein Traum. Wach endlich auf!« Doch es gelang mir nicht.

Das verschwommene erste Licht des Frühlings drang durch die Knospen, aber als der typische Durst einsetzte, mein Körper sich mit Wasser füllte und sich schließlich die ersten Blättchen entfalteten, wurde mir klar, dass dies kein Traum war. Die Schmerzen krochen aus meinen Knochen und durchzogen den ganzen Körper. Es war kaum auszuhalten, und selbst der erste Zuckerstrom in meinen Adern vermochte mich nicht abzulenken.

Ich duftete verzweifelt um Hilfe, doch niemand antwortete. Die Mütter schliefen noch, aber was war mit der Krummen? Ich riss mich zusammen und blickte zu ihr hinüber. Sie lag auf der Erde, das dünne, gebogene Stämmchen kurz über dem Boden zerfasert abgebrochen. Noch war schwaches Leben in ihr, wie eine kurze Prüfung ihrer Wurzeln zeigte, aber sie reagierte nicht auf mein Tasten. War der braune Tod unter uns? Hastig schaute ich zu den anderen Bäumchen, doch ich entdeckte keine Spur von den vierbeinigen Räubern.

Dennoch gefror mir das Wasser in den Wurzeln bei dem, was ich sah: Mehr als die Hälfte der fröhlichen Schar hatte das gleiche Schicksal ereilt wie die Krumme. Abgebrochene Gliedmaßen oder bis zur Unkenntlichkeit verbogene Stämmchen hatten aus unserer Schule einen Ort des Schreckens gemacht – zwei Drittel meiner Mitschülerinnen waren schwer verletzt. Ich fühlte in mich und erforschte trotz der Schmerzen jedes einzelne Körperteil. Nichts war gebrochen, alles schien zumindest äußerlich intakt.

Die Krumme verstarb noch im Frühjahr, ohne noch einmal mit mir gesprochen zu haben. Ihr fehlte offenbar die Kraft, aus dem gebrochenen kleinen Stumpf ein weiteres Mal auszutreiben. Ihre Wurzelspitzen verloren den Kontakt zu mir, weil sie verfaulten, und so konnte ich ihr nicht mehr helfen, selbst wenn ich genügend Zucker zur Verfügung gehabt hätte.

Meine inneren Verletzungen hingegen schienen im Laufe des Sommers zu verheilen, und mein Körper fühlte sich wieder völlig intakt an und tat nicht mehr weh. Trotzdem fühlte ich mich sehr einsam, was auch an dem abgekühlten Verhältnis zu meiner Mutter lag, die meiner Meinung nach sehr ungerecht handelte. Wieso wurde Tante Buckel von ihr gepäppelt, während meine Freundin, ebenfalls ohne Stamm, unversorgt sterben musste?

Doch sooft ich auch nachfragte, eine Antwort erhielt ich nicht. Dafür erklärte mir meine Mutter, wer das Massaker verursacht hatte: Es seien vermutlich besonders viele weiße Flocken während des langen Schlafs gefallen. Die kleinen brauen Blätter, die wir Jungen im Gegensatz zu den Alten wegen des Zuckerfests an den Zweigen behielten, boten den Flocken ausreichend Platz, um sich darauf niederzulassen. Das habe sie, so Mutter, auch schon im Frühling bei sehr späten kalten Tagen beobachtet, wenn die jungen Blättchen bereits an den Zweigen seien und den weißen Flocken eine große Auflagefläche böten. Hätten wir also die Ermahnungen der Mütter ernst genommen und zusammen mit ihnen das Laub abgeworfen, wäre nichts Schlimmes passiert.

Nachdem sich diese Botschaft unter uns Jungbäumen verbreitet hatte (es gab auch einige Glückliche, die es nicht erwischt hatte), verstand es sich von selbst, dass wir fortan diese letzte Möglichkeit, einmal richtig satt zu werden, für den Rest unseres Lebens nicht mehr nutzten.

Lange mieden mich die anderen Schülerinnen, weil sie mich auch für ihr eigenes Schicksal verantwortlich machten. Die Krumme sei schließlich der Mittelpunkt der Klasse gewesen und hätte mit ihrem sorglosen, ja frechen Verhalten alle anderen in einen unheilvollen Sog gezogen. Ich als ihre Freundin hätte sie in diesem Treiben bestärkt, so lautete nun die einhellige Meinung. Dass das Herbstfest eine gemeinschaftliche Entscheidung gewesen war, davon wollte nun niemand mehr etwas wissen.

Dermaßen geläutert war klar, wer fortan die unausgesprochene Führung übernehmen würde. Es war die Schlanke, die jetzt alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Völlig unbeschadet durch den Winter gekommen, war sie die stammgewordene Tugendhaftigkeit. Ihr gerader, dürrer, aber sehr langer Körper zeigte geradezu penetrant, wie man auszusehen hatte, wenn das Leben keinen Spaß machen durfte. Sie wiederholte alle Botschaften von Tante Buckel auch noch nachmittags, lehnte die zusätzlichen Zuckertröpfchen aus dem Wattegeflecht kategorisch ab und war, logisch, der Liebling aller Mütter.

Ja, es war bitter, aber auch meine Mutter gemahnte mich, doch mehr Kontakt zur Schlanken zu suchen. Ich hatte den Verdacht, dass dieses hochnäsige Wesen von den Alten hier und da eine Extraportion Zucker zugesteckt bekam, denn klammheimlich schob sie sich Sommer für Sommer mehr in die Höhe, sodass...

Erscheint lt. Verlag 20.12.2024
Illustrationen Mascha Greune
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik
Technik
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ISBN-10 3-641-33523-X / 364133523X
ISBN-13 978-3-641-33523-6 / 9783641335236
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