Fakten sind auch nur Meinungen (eBook)
272 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-29391-1 (ISBN)
Dr. Jens Foell ist promovierter Neuropsychologe und hat als Hirnforscher in Deutschland und den USA gearbeitet. Neben der Forschung gilt seine Leidenschaft der Wissenschaftskommunikation. So hielt er bereits er einen TEDx Talk zu Phantomempfindungen und gründete den erfolgreichen Wissenschafts-Account Real Scientists DE auf Twitter. Seit 2020 ist er Teil des Teams von Dr. Mai Thi Nguyen-Kim und taucht regelmäßig bei MAITHINK X (ZDFneo) auf, für seine Arbeit dort wurde er 2022 für den Grimme-Preis nominiert. Sein 2023 bei Droemer erschienenes Buch Foellig nerdiges Wissen stand mehrere Wochen auf der Bestsellerliste.
Dr. Jens Foell ist promovierter Neuropsychologe und hat als Hirnforscher in Deutschland und den USA gearbeitet. Neben der Forschung gilt seine Leidenschaft der Wissenschaftskommunikation. So hielt er bereits er einen TEDx Talk zu Phantomempfindungen und gründete den erfolgreichen Wissenschafts-Account Real Scientists DE auf Twitter. Seit 2020 ist er Teil des Teams von Dr. Mai Thi Nguyen-Kim und taucht regelmäßig bei MAITHINK X (ZDFneo) auf, für seine Arbeit dort wurde er 2022 für den Grimme-Preis nominiert. Sein 2023 bei Droemer erschienenes Buch Foellig nerdiges Wissen stand mehrere Wochen auf der Bestsellerliste.
Problem 2. Spaghetti bolognese, oder: Wir beobachten und erinnern schlecht
Zur Erläuterung dieses Problems, also unserer grundlegend fehlerbehafteten Wahrnehmung der Welt, habe ich Freddy eine kleine Aufgabe gestellt, die ich wie folgt wiedergeben will:
Stellt euch vor, ich erzähle euch, was ich letzte Woche am Dienstagabend getan habe. Es ist eine recht langweilige Geschichte. Spannend wird sie nur dadurch, dass euch die Polizei später fragt, ob ihr wisst, womit ich zu dieser Zeit beschäftigt war, weil zur gleichen Zeit ein Verbrechen geschehen ist. Was für ein Verbrechen das war, oder ob ich es begangen habe, ist hierfür irrelevant. Ihr sollt nur genau zuhören, was ich erzähle, damit ihr einige Wochen später im Gericht darüber aussagen könnt. Fertig? Und los geht’s:
»Am Dienstag war ich in einem italienischen Restaurant, nicht weit von mir. Um Punkt neunzehn Uhr kam ich dort an. Ein schöner Laden, nur etwas teuer. Ich bestellte das Tagesgericht, das waren die Spaghetti bolognese, und trank zwei Cola Zero. So etwa um einundzwanzig Uhr dreißig bezahlte ich, gab ein sehr großzügiges Trinkgeld und ging von da aus direkt nach Hause.«
So weit alles klar? Lest den Abschnitt ruhig noch einmal. Merkt euch alles möglichst genau, gleich nachher werde ich euch eine Detailfrage dazu stellen.
Bei dem Punkt, den ich hier machen möchte (und den Freddy nach diesem Beispiel auch eingesehen hat), geht es um Augenzeugenberichte. Und wenn wir über die Psychologie von Augenzeugenberichten sprechen, dann müssen wir bei Elizabeth Loftus anfangen. Die US-Psychologin, deren Untersuchungen zum Thema Gedächtnis schon seit Jahrzehnten legendär sind, unterrichtet noch immer in Kalifornien. Und wie so viele Legenden ist sie irgendwann übers Ziel hinausgeschossen. Aber fangen wir vorn an.
Nach eigenen Angaben ließ sich Loftus von einem Konzept Immanuel Kants inspirieren: Seine Ideen zur Wahrnehmung brachten sie dazu, sich zu überlegen, ob unsere Erinnerung an Ereignisse nicht durch Dinge geändert werden könnte, die wir erst nach dem eigentlichen Ereignis erfahren. (Zwanzig Jahre später wäre sie vielleicht eher von einem Zitat aus dem David-Lynch-Film Lost Highway darauf gekommen, wo der Hauptcharakter Fred Madison den Einsatz einer Überwachungskamera ablehnt: »Ich erinnere mich lieber auf meine Art an Dinge. So, wie ich mich an sie erinnere, nicht unbedingt so, wie sie passiert sind.«)
Um das empirisch zu testen, zeigte Loftus ihren Versuchspersonen zum Beispiel eine Reihe von Fotos, die in ihrer Abfolge einen Autounfall darstellen: Einmal stand ein roter Datsun an einem Stoppschild und überfuhr kurz darauf einen Fußgänger. Später sollten die Teilnehmenden einen Fragebogen zu den Vorgängen beantworten. So weit, so gut. Allerdings war eine Frage in dem Fragebogen: »Fuhr ein anderes Auto an dem roten Datsun vorbei, als er am ›Vorfahrt gewähren‹-Schild stand?« Es wurde also nach dem falschen Schild gefragt. Wissenschaftlich korrekt wurde das dann auch variiert, also dass für andere Proband:innen auf dem Bild ein ›Vorfahrt gewähren‹-Schild zu sehen war, aber im Fragebogen nach einem Stoppschild gefragt wurde. Anschließend wurden weitere Fragen gestellt; unter anderem sollten die Leute auswählen, ob sie auf dem Foto ein Stoppschild oder ein ›Vorfahrt gewähren‹-Schild gesehen hatten. Das Ergebnis passt zu dem, was auch Immanuel Kant oder David Lynch erwartet hätten: Über die Hälfte der Leute ließ sich dazu verleiten, sich an das falsche Schild zu erinnern.
Das ist natürlich erst mal sehr schlecht: Man stelle sich vor, jemand macht im Gerichtssaal eine Aussage, und die Staatsanwältin oder der Verteidiger, der die Fragen stellt, lässt in die Frage selbst eine falsche Information einfließen, egal ob aus Versehen oder absichtlich. Könnte das dann verändern, woran sich die befragte Person erinnert? Die Antwort lautet: Ja, je nach genauer Situation. Eine bombenfeste, zentrale Erinnerung wird sich dadurch nicht umschubsen lassen, vielleicht aber ein Detail, das der beobachteten Person unwichtig vorkam, für den Fall dennoch eine große Rolle spielt.
Und auch die Zeit, die seit dem Ereignis vergangen ist, spielt eine Rolle: Im Versuch von Loftus wurde stark variiert, wie lange sich die Leute das Beobachtete merken mussten, von null Minuten (also direkte Befragung hinterher) zu zwanzig Minuten, einen Tag, zwei Tage oder eine Woche. Die fehlerhafte Information kam dabei entweder direkt nach der Beobachtung oder kurz vor der letzten Befragung. Am schlechtesten schnitten die Leute ab, wenn sie sich über längere Zeit erinnern mussten und erst kurz vor der Befragung durcheinandergebracht wurden. Also genau so, wie es bei einem Gerichtsfall wäre: Man muss sich über lange Zeit an etwas erinnern und ist dann von der Art der Befragung abhängig.
In der Praxis ist dieses Ergebnis besorgniserregend, aber psychologisch überrascht es zunächst überhaupt nicht, denn: Unser Gedächtnis funktioniert nicht wie der Abruf von einer Festplatte, wo man die gesuchten Daten entweder in ihrer Gesamtheit findet oder nicht und die Informationen, die man sucht, beim Abruf unverändert bleiben. So kommt es uns zwar vor, aber ich würde den Abruf aus dem Gedächtnis eher mit dem Bauen eines Lego-Modells vergleichen. Sich zu erinnern ist ein aktiver Prozess, an dem mehrere Teile des Gehirns beteiligt sind. Werden wir gefragt, wie ein roter Datsun eigentlich aussieht oder wie der oben erwähnte David-Lynch-Film noch mal hieß, dann sucht unser Gehirn zunächst die relevanten Teile zusammen und vielleicht sogar ein paar irrelevante (zum Beispiel ein rotes Auto einer anderen Marke oder den Titel eines anderen Films des Regisseurs). Die letztendliche Erinnerung ist dann wie das Lego-Set: aus Einzelteilen zusammengesetzt und hoffentlich möglichst vollständig. Wenn uns dabei aber jemand einen falschen Stein unterjubelt, dann besteht die Gefahr, dass er trotzdem ins Modell eingebaut wird – und wir uns falsch erinnern. Oft spielt das keine Rolle, aber im Gerichtssaal eben schon.
Das ganze Ausmaß dieses Problems wird deutlich, wenn man sich die Zahlen anschaut, die das US-amerikanische Innocence Project gesammelt hat. Diese Non-Profit-Organisation hat das Ziel, zu Unrecht Verurteilte zu unterstützen. Dabei zweifelt niemand an, dass die allermeisten Verurteilten auch schuldig sind. Und natürlich haben manche Verurteilten etwas davon, so zu tun, als seien sie zu Unrecht inhaftiert. Dennoch gibt es eine schockierend hohe Zahl an Fällen, bei denen das Innocence Project jemandem erfolgreich zur Freiheit verholfen hat, indem es nachweisen konnte, dass ein juristisches Fehlurteil stattgefunden hatte. Und da wir von einem Land sprechen, in dem es die Todesstrafe gibt, gibt es auch manche, die zu dem Zeitpunkt auf ihre Exekution warteten. Eine gruselige Vorstellung, unschuldig in der Death Row zu landen.
Ein riesiger Faktor für die Arbeit des Innocence Project war der Fortschritt bei DNA-Analysen in den letzten Jahrzehnten. Oft lagen (und liegen) DNA-Spuren jahrelang herum, ohne ausgewertet zu werden. Denn DNA-Spuren – zum Beispiel in Form von Haaren oder Körperflüssigkeiten, die an einem Tatort gefunden werden – sind schnell gesammelt und gespeichert, aber das Auswerten kostet Zeit und Geld. Für den sogenannten genetischen Fingerabdruck, mit dem eine Gewebeprobe einer bestimmten Person zugeordnet werden soll, verwendet man einen PCR-Test. Wer sich noch an die genauen Umstände während der Pandemie erinnert, weiß, dass das kein Verfahren für einen Schnelltest ist, sondern man braucht dafür einen Moment im Labor. Aber in der letzten Zeit wurde die Technik schneller und günstiger, sodass es sich lohnen kann, eine alte Probe abzustauben und endlich zu analysieren.
Dabei zeigen sich Überraschungen: Bereits 1989 wurde jemand mithilfe eines DNA-Tests freigesprochen. Seither ist das nach Angaben des Innocence Projects allein in den USA noch weitere 374 Mal vorgekommen. In all diesen Fällen konnte mithilfe von Gewebeproben gezeigt werden, dass die verurteilte Person nicht an dem Verbrechen beteiligt war, oder es konnte damit sogar ein anderer Täter identifiziert werden. DNA-Analysen haben ihre eigenen Tücken (dazu später mehr), aber zumindest in diesen mehreren Hundert Fällen waren sie offenbar notwendig, um schwammigen Augenzeugenberichten einen harten Datenpunkt entgegenzusetzen.
Die falschen Verurteilungen lagen zum Teil auch an falschen Geständnissen oder Falschaussagen von Informant:innen, aber in mehr als zwei Drittel der Fälle waren tatsächlich Aussagen von Augenzeugen daran schuld. Die gute Nachricht ist: Das können wir in Zukunft besser machen! Eine Studie von vor wenigen Jahren besteht darauf, forensische Augenzeugenberichte hätten einen zu schlechten Ruf, denn mit der richtigen Methode seien sie eigentlich sehr verlässlich. Das Personal, das den Augenzeugenbericht aufnimmt, muss dafür allerdings besonders geschult sein: Wie aus der Loftus-Studie zu schließen ist, dürfen die Fragesteller:innen nicht aus Versehen Fehlinformationen einstreuen. Ebenso müssen sie sich schwer davor hüten, Suggestivfragen zu stellen, da sie die Antwort zu kennen glauben (»Kann es nicht doch der andere Herr gewesen sein …?«). Ein weiterer wichtiger Punkt dabei ist, zu erkennen, bei welchen Angaben sich...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | alternative Fakten • Argumentation • Chemie • Erkenntnistheorie • Experimente • Fakten und Meinungen • fakten und meinungen unterscheiden • Fakt gegen Fiktion • Foellig Nerdiges Wissen • Forschung • Forschung Ethik • Jens Foell • Kognitive Psychologie • Kritische Denken • langsames Denken • Lernen • mai thi nguyen-kim • Mathematik • Naturwissenschaft • Naturwissenschaftsbücher • Philosophie • Physik • Sachbuch Wissenschaft • Schnelles Denken • Statistische Analyse • Theoretische Physik • was sind fakten • wissenschaft buch • Wissenschaftliche Entdeckungen • Wissenschaftliche Theorie • Wissenschaftsgeschichte • Wissenschaftskommunikation • Wissenschaft und Glaube |
ISBN-10 | 3-426-29391-9 / 3426293919 |
ISBN-13 | 978-3-426-29391-1 / 9783426293911 |
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