Luigi/Alois Negrelli (eBook)
242 Seiten
StudienVerlag
978-3-7065-6354-3 (ISBN)
Andrea Leonardi, ehemaliger ordentlicher Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Trient, ist derzeit Seniorprofessor an derselben Universität. Er war außerdem Gastprofessor an der Universität Innsbruck und der Katholischen Universität Mailand. Er hat die ökonomische Entwicklungspfade der alpinen Gebirgsregionen, mit besonderem Augenmerk auf den Tiroler Kontext und das Kooperationswesen, analysiert. Darüber hinaus hat er den wirtschaftlichen Modernisierungsprozess der Habsburgermonarchie, einschließlich der Entwicklung von Kommunikationsinfrastrukturen, untersucht. Seine jüngsten Studien sind der Finanzgeschichte des 20. Jh. sowie den wirtschaftlichen Auswirkungen des touristischen Aufschwungs in der alpinen Makroregion gewidmet. Er hat zahlreiche international ausgerichtete Konferenzen organisiert und mehr als 240 wissenschaftliche Publikationen, darunter zahlreiche Monographien, verfasst. Alice Riegler, hat an der Universität Florenz Wirtschaftsgeschichte studiert und anschließend am University College London einen Master und ein PhD abgeschlossen. Ab 2018 hat sie in einem von der Ingenieurkammer Trient finanzierten Projekt am Nachlaß von Luigi Negrelli gearbeitet. Von 2019 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Wirtschaft und Management der Universität Trient, wo sie zu technologischen Innovationen im Bereich des Transportwesen und der Energieproduktion im Alpenraum geforscht hat. Zusätzlich arbeitet sie an mehreren Transkriptions- und Übersetzungsprojekten aus der deutschen Kurrentschrift.
Andrea Leonardi, ehemaliger ordentlicher Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Trient, ist derzeit Seniorprofessor an derselben Universität. Er war außerdem Gastprofessor an der Universität Innsbruck und der Katholischen Universität Mailand. Er hat die ökonomische Entwicklungspfade der alpinen Gebirgsregionen, mit besonderem Augenmerk auf den Tiroler Kontext und das Kooperationswesen, analysiert. Darüber hinaus hat er den wirtschaftlichen Modernisierungsprozess der Habsburgermonarchie, einschließlich der Entwicklung von Kommunikationsinfrastrukturen, untersucht. Seine jüngsten Studien sind der Finanzgeschichte des 20. Jh. sowie den wirtschaftlichen Auswirkungen des touristischen Aufschwungs in der alpinen Makroregion gewidmet. Er hat zahlreiche international ausgerichtete Konferenzen organisiert und mehr als 240 wissenschaftliche Publikationen, darunter zahlreiche Monographien, verfasst. Alice Riegler, hat an der Universität Florenz Wirtschaftsgeschichte studiert und anschließend am University College London einen Master und ein PhD abgeschlossen. Ab 2018 hat sie in einem von der Ingenieurkammer Trient finanzierten Projekt am Nachlaß von Luigi Negrelli gearbeitet. Von 2019 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Wirtschaft und Management der Universität Trient, wo sie zu technologischen Innovationen im Bereich des Transportwesen und der Energieproduktion im Alpenraum geforscht hat. Zusätzlich arbeitet sie an mehreren Transkriptions- und Übersetzungsprojekten aus der deutschen Kurrentschrift.
Kapitel 1
Primiero und die Familie Negrelli
Um Negrelli zu verstehen, ist dem Umfeld, in dem sein Charakter geformt wurde, besondere Aufmerksamkeit zu widmen: Der familiäre Kontext, in dem seine Weltanschauung reifte, das Gebiet, in dem er seine ersten Schritte machte und in dem er von den Prinzipien, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten sollten, bestimmt wurde. Negrelli blieb seiner kleinen Heimat immer verbunden, auch als sein Ingenieursberuf ihn in andere, weit entfernte Regionen Europas führte.22 Als Grenzgebiet zwischen dem historischen Tirol und der Republik Venedig hatte Primiero (Primör) im Laufe der Zeit eine ausgeprägte Autonomie entwickelt. Mehrere Studien haben veranschaulicht, wie die Bevölkerung dieser Alpenregion bewusst und konsequent den Geist der Selbstständigkeit gepflegt hat und somit im Laufe der Zeit eine beachtliche Fähigkeit zur Selbstverwaltung entwickeln konnte.23
Die autonome Struktur Tirols sowie die des gesamten Alpenraumes stand unter dem starken Einfluss wirtschaftlicher Bedingungen,24 die oft bestimmten, wie sich die lokalen Gemeinschaften in den verschiedenen Konjunkturphasen mit Mitteln zur Selbstverwaltung versahen.25 Das Gebiet Tirol-Trentino ist nämlich seit jeher durch ein schwieriges Verhältnis zwischen den verfügbaren Ressourcen und der Bevölkerung bestimmt. Diese Struktur beruht auf einer eindeutig dominierenden Agrar-, Forst- und Viehwirtschaft, die von einer Reihe nicht unbedeutender sekundärer und tertiärer Aktivitäten unterstützt wird. Tirol ist seit dem Mittelalter eine Passregion, eine Verbindung zwischen Mitteleuropa und Norditalien, in der die steten wirtschaftlichen Beziehungen zu den umliegenden Gebieten die Bildung von Zentren für die Organisation von Handel und Produktion ermöglichten.26
Durch den Blick auf die Erfahrungen der Nachbarregionen, mit denen auch ein ständiger Vergleich im Gange war, hat das Trentiner-Tiroler Gebiet im Laufe der Zeit die Fähigkeit entwickelt, den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu handeln und passende Überlebensstrategien zu entwickeln. Dies geschah nicht nur durch die Anpassung an die gegebenen Umweltbedingungen, sondern auch durch die Übernahme verschiedener Formen der Arbeitsteilung, die sich in den lokalen Produktionsmethoden widerspiegelten. Im Laufe der Zeit vollzog sich ein anhaltender Prozess der Umverteilung von Ressourcen und Produktionsfaktoren. Es wurden dabei Organisationsformen entwickelt und privat-kollektive Einrichtungen, die in einem begrenzten und komplexen Gebiet die bestmögliche Nutzung der verfügbaren Ressourcen boten, geschaffen.27
In diesem Zusammenhang war Primiero ein emblematisches Beispiel dafür, wie Gemeinschaften und soziale Organisationen entlang des Alpenkamms oftmals exklusive Rechte an ihrem Naturraum besaßen.28
Primiero gehörte zur Zeit der Langobarden der Grafschaft Feltre an und gelangte nach der Aufeinanderfolge verschiedener Herrschaften 1401 unter die Hoheit der Herzöge von Österreich, die es mit der Grafschaft Tirol vereinigten und es als Lehen und Gerichtsgebiet an die Welser übergaben. Dies war der erste Kern der so genannten „Welschen Konfinen“, das Gebiet der Fürstlichen Grafschaft Tirol, das später auch das untere Suganertal sowie einen großen Teil des südlichen Trentino mit der Stadt Rovereto und ihrem Amtsgericht umfassen sollte: praktisch das gesamte Grenzgebiet zur Republik Venedig.29 Wie im ganzen Fürstbistum Trient wurden auch in Primiero weitreichende Formen der Selbstverwaltung und der familiären und kollektiven Verantwortung eingeführt. Die Strategien und der Modus der Nutzung der kollektiven Ressourcen wurden in den carte di regola festgehalten, Verordnungen, die alle Bewohner eines bestimmten Gebiets verpflichteten.30 Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sich die neue Staatsorganisation wie im übrigen Alpenraum konsolidierte, veränderte sich das traditionelle Gemeindesystem tiefgreifend.31 Das Zeitalter der Aufklärung löste in der Tat eine Reihe von Veränderungen aus, die das Feuer der Französischen Revolution schüren und epochale Umbrüche bewirken sollten. Diese Veränderungen betrafen nicht nur die Städte, sondern verursachten auch in der gemeinschaftlichen Organisation des Alpengebiets einen tiefen Umbruch. Der lokalen Gesellschaft wurden somit neue Horizonte eröffnet, und obwohl diese vor allem in der napoleonischen Zeit als traumatisch empfunden wurden, schufen sie die Voraussetzungen für eine Modernisierung der alpinen Gesellschaft.32
Genau in dieser heiklen Phase des Wandels zog 1761 ein Mitglied der Familie Negrelli nach Primiero. Nicolò emigrierte aus Valstagna, einem Dorf im Brenta-Tal vor den Toren Bassanos, um seiner Tätigkeit als Holzhändler nachzugehen. „Wie viele seiner Landsleute vor ihm, verließ auch Nicolò Negrelli Valstagna. Primiero war im späten 16. Jahrhundert, sowohl was die Einkünfte aus dem Verkauf der Holzfällerlizenzen als auch die Exportzölle anging, zu einem der einträglichsten Forstämter der Tiroler Grafschaft geworden war. Seine geografische Lage an der Schwelle zu Venedig zog zahlreiche Unternehmer, Land- und Forstwirte aus dem Gebiet der Republik an. Sie nutzten die Möglichkeiten des Handels auf den Wasserwegen des Cismon und des Brenta, um das Holz rasch und auf konkurrenzfähige Weise auf die städtischen Märkte zu bringen“.33 Der Holzhändler Nicolò Negrelli nahm Anna Ceccato, verwitwete Romagna, Betreiberin eines Gasthauses in Fiera di Primiero zur Frau.34 Aus dieser Verbindung ging zunächst Caterina und 1764 schließlich Angelo Michele hervor. Dieser trat wiederum in die Fußstapfen des Vaters und übte verschiedene Arbeiten in der Holzwirtschaft aus, unter anderem im Dienst von Giovanni de Bosio, einem der bedeutendsten Holzhändler Primieros.35 Die Figur des Angelo Michele und seiner Familie, die trotz finanzieller Höhen und Tiefen der wohlhabenden Mittelschicht zugerechnet werden kann, ist für die vorliegende Analyse von großer Bedeutung. Angelo Michele ist aus zwei Gründen relevant: zum einen, weil er – wie wir sehen werden – Luigis Vater war und zum anderen, weil er in einem autobiographischen Bericht seine interessanten, manchmal dramatischen Lebensereignisse rekonstruiert und somit eine außerordentlich reiche Beschreibung des Alltags eines Grenzgebiets in einer historisch ereignisvollen Phase hinterlassen hat.
Angelo Michele schrieb und diktierte zwischen 1844 und 1851 sechzehn Mappen, in denen er die Chronik eines langen Lebens (1764–1851)36 in Form einer Ereignisgeschichte nachzeichnete und die Rolle des Zeitzeugen einer Umbruchsepoche übernahm.37 Es ist ein außerordentlich wichtiges Dokument, um das familiäre Umfeld, in dem Luigi Negrelli geboren wurde, zu erfassen und die grundlegenden Elemente einer Weltanschauung, die seine Lebensentscheidungen dauernd prägen sollte, zu verstehen. Angelo Michele kann nicht als typischer Einwohner Primieros bezeichnet werden. Nach dem Untergang des Bergbaus, der in jener Gegend seit dem 15. Jahrhundert besonders intensiv betrieben wurde,38 widmete sich die Bevölkerung fast ausschließlich der Land-, Wald- und Viehwirtschaft. Angelo Michele verstand sich aber als Vertreter einer dynamischen Kaufmannsschicht. Wie seine Büchersammlung zeigt, war er ein gebildeter Mann,39 trotz der Tatsache, dass seine Erziehung nicht auf hohem Niveau stattgefunden hatte.40 Er war zweifellos unternehmungslustig, knüpfte auch außerhalb seines sozialen Umfelds leicht Beziehungen und hatte keine Skrupel, sich mit „mächtigen“ Männern anzulegen.41 Kaufleute reisten damals eher aus Notwendigkeit als aus Vergnügen. Angelo Michele setzte das Reisen jedoch mit Leben, Verstehen der Welt und Erwerb von neuen Kenntnissen und Prestige gleich. Seine Memoiren beschreiben nicht weniger als 70 Reisen, die er sowohl aus Arbeitsgründen unternahm, als auch um fremde Länder und Kulturen zu erleben.42
Im Laufe seines langen Lebens erfuhren das Gebiet und die Gesellschaft, in denen Angelo Michele Negrelli lebte, tiefgreifende Veränderungen. In weniger als 20 Jahren folgten, zumindest im südlichen Teil Tirols, zehn verschiedene Regierungssysteme aufeinander. Das Ende der bischöflichen Fürstentümer Trient und Brixen wurde 1801 durch den Frieden von Lunéville beschlossen und vom Reichstag von Regensburg 1803 ratifiziert, der die Gebiete den Habsburgern zuwies. Zwischen September 1796 und November 1802 wechselten sich drei französische und drei österreichische Besetzungen ab und zwischen 1805 und 1809 erfolgte die Machtübergabe an die bayerische Regierung. Der provisorischen Regierung Hofers von 1809 folgten zwischen 1810 und 1813 der Anschluss an das napoleonische Königreich Italien und die anschließende Wiederherstellung der habsburgischen Souveränität.43 Es wäre naiv zu glauben, dass diese Umbrüche auf das Leben eines Geschäftsmannes und seiner Angehörigen keinen Einfluss nahmen: da Angelo Michele als dynamischer, unternehmungslustiger und zuverlässiger Mann auch innerhalb der Gemeindeverwaltung Verantwortungspositionen übernommen hatte, führten sie nicht nur zu zwischenmenschlichen, sondern auch zu finanziellen Problemen.
Wie das gesamte Tiroler Gebiet hatte auch Primiero mit...
Erscheint lt. Verlag | 23.11.2023 |
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Übersetzer | Alice Riegler |
Verlagsort | Innsbruck |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Technik ► Bauwesen |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Alois Negrelli • Bautechnik • Eisenbahn • Geschichtsschreibung • Straßenbau • Sueskanal • Verkehrswesen • Wasserbauten |
ISBN-10 | 3-7065-6354-1 / 3706563541 |
ISBN-13 | 978-3-7065-6354-3 / 9783706563543 |
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