Die Bestie (eBook)
528 Seiten
Ludwig Buchverlag
978-3-641-30945-9 (ISBN)
Die Menschheitsgeschichte handelt von der Zähmung des Feuers. Im 21. Jahrhundert jedoch lässt sich diese Naturgewalt kaum mehr beherrschen. Dies ist die Geschichte eines verheerenden Brandes und der Bedingungen, die der Mensch dafür schuf.
»Die Bestie« - so nannten Einsatzkräfte den Waldbrand, der als eine der größten Naturkatastrophen in die Geschichte Kanadas einging, monatelang unkontrollierbar wütete und eine ganze Stadt dem Erdboden gleichmachte. Das Feuer schien sich just an einem Ort für die Zerstörung der Natur zu rächen, wo Ölkonzerne mit dem Abbau von Rohstoffen immense Vernichtungen des Ökosystems Wald anrichten - fast 100.000 Menschen mussten vor dem Brand fliehen...
Bestsellerautor John Vaillant vollzieht in seiner packenden Reportage nach, wie lange die Petro-Konzerne tatsächlich schon von den klimaschädlichen Auswirkungen ihres Geschäftsmodells wissen. Und wie die skrupellose Gier des Menschen nach fossilen Brennstoffen von den elementaren Kräften der Natur in die Schranken gewiesen wird: Denn mit dem Klimawandel wachsen sich Brände überall auf dem Planeten immer häufiger zu unaufhaltsamen Katastrophen aus. Eine Dokumentation über das neue Jahrhundert des Feuers, die sich wie ein Thriller liest.
- Ausgezeichnet mit dem Baillie Gifford Prize for Non-Fiction
- Mit exklusivem Vorwort des Autors für die deutsche Ausgabe.
John Vaillant, geboren 1962 in den USA, übersiedelte 1998 nach Kanada. Seine Reportagen über extreme Erfahrungen mit Phänomenen der Natur erschienen u.a. in National Geographic, The Atlantic und The New Yorker. Für sein erstes Sachbuch Am Ende der Wildnis erhielt er 2005 den renommierten Governor General's Award, 2010 veröffentlichte er den internationalen Bestseller Der Tiger. Mit dem Windham-Campbell Literature Prize wurde ihm 2014 der weltweit höchstdotierte Preis für Non-fiction verliehen. Sein aktuelles Buch Die Bestie - Wie das Feuer von unserem Planeten Besitz ergreift (2023) war für den National Book Award nominiert und wurde mit dem Baillie Gifford Prize ausgezeichnet. Vaillant lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Vancouver.
1
Wenn im Wald ein Feuer brennt und niemand sieht es …
In Kanada ist diese Vorstellung nicht nur eine philosophische. Zehn Prozent der weltweiten Wälder liegen in diesem Land, und ausgedehnte Bereiche davon sind unbewohnt. Aber »ausgedehnt« ist eine untaugliche Beschreibung, wenn es um Kanada, seine Wälder oder seine Brände geht. Will man die Größe dieses Landes begreifen, sollte man sich in Great Falls, Montana, in ein Auto setzen und auf der I-15 nach Sweetgrass an der kanadischen Grenze fahren. In Coutts, Alberta, angekommen, stelle man den Kilometerzähler zurück und fahre gen Norden. Nun richte man sich am besten auf mehrere Tage hinterm Steuer ein. Mit den Rocky Mountains unmittelbar zur Linken führt diese Route am westlichen Rand der Prärie entlang durch Lethbridge, Calgary und Red Deer – Weizen- und Rinderland. Hat man die nördliche Metropole Edmonton einmal hinter sich gelassen, ist man mehr oder weniger allein auf der Straße, umgeben von weiter und karger subarktischer Prärie – Feldern, die gefroren oder nahezu überschwemmt sind und kaum als Viehweiden taugen.
Auf der Hauptstraße, die inzwischen nicht mehr breiter ist als der Weg durch ein Wohngebiet, ziehen Weiler mit nur einem blinkenden Licht und einer Tankstelle vorbei, und erst fünfzig Meilen weiter taucht der nächste auf. Östlich und westlich verlaufen Schotterstraßen bis zum Fluchtpunkt, und von Menschenhand geschaffene Bauwerke wirken jetzt immer sonderbarer: Hier steht eine schulhausgroße ukrainische Kirche mit ihrer blechernen Zwiebelkuppel allein in einer windumtosten Einsamkeit, die so tief ist, dass sie an die russische Steppe erinnert. Dort stürzt eine Scheune asymmetrisch unter dem Gewicht von hundert schweren Jahren ein, die sie zur Hälfte in der geballten Faust des Winters verbracht hat, während die Menschen längst fort waren. Weiter geht es zu einem vier Hektar großen See, der so verblüffend blau ist, dass Reflexion, selbst die des Himmels von Alberta, als Erklärung nicht ausreicht. Irgendwo auf dem Weg überquert man eine unsichtbare Grenze, hinter der die Hirsche den Elchen, die Krähen den Raben und die Kojoten den Wölfen weichen. In North Star werden die weiten, offenen Flächen, für die Alberta berühmt ist, von niedrigen Mischwäldern und Moorlandschaften abgelöst, die stark an Sibirien erinnern. Legt man in einem einsamen Ort namens Indian Cabins schließlich eine Kaffeepause ein, ist bereits der nächste Tag angebrochen und man hat mittlerweile fast 1 000 Meilen zurückgelegt. Und noch immer befindet man sich in der Provinz Alberta.
Hier oben in der landumschlossenen Subarktis scheinen die Dinge überdimensionale Ausmaße anzunehmen: Seen können von der Größe her mit Binnenmeeren konkurrieren und die darin lebenden Forellen an die 50 Kilo wiegen; große Wildtiere, darunter die größte Bison-Art des Kontinents, sind zahlreicher vertreten als Menschen. Im Wood Buffalo National Park, dem zweitgrößten Nationalpark der Welt, stößt man auf den größten bekannten Biberdamm der Welt. Der 2007 mithilfe eines Satelliten entdeckte Damm ist mehr als doppelt so lang wie der Hoover-Damm und scheint noch zu wachsen. Im Jahr 2010 machte sich ein abenteuerlustiger Mann namens Rob Mark aus New Jersey auf, ihn zu besuchen. Er war angeblich der erste Mensch, dem dies gelang, aber es war ein schwieriges Unterfangen. »Das Laub ist so dicht«, berichtete Mark der CBC, »dass man nicht sehr weit sehen kann … und im Sumpfland, das folgt, fällt das Gehen unheimlich schwer. Schließlich steckt man total im Morast.« Das erklärt, warum sich in den wärmeren Monaten so wenige Fremde hierher verirren und warum der Winter die bevorzugte Jahreszeit für Überlandfahrten ist. »Die Moskitos«, ergänzte Mark, »sind die reine Pest.«[1]
Eine Ausnahme vom allgemeinen Gigantismus bilden die Bäume, die selten höher als zwanzig Meter oder älter als hundert Jahre sind. Diese Wälder, eine wechselnde Mischung aus Kiefern, Fichten, Espen, Pappeln und Birken, sind als boreale Wälder bekannt, und was ihnen an individueller Größe fehlen mag, machen sie durch ihre schiere Anzahl wieder wett. Der boreale Wald, der die nördliche Hemisphäre in einem zirkumpolaren Band umgibt, ist das größte terrestrische Ökosystem und umfasst fast ein Drittel der gesamten Waldfläche der Erde (mehr als fünfzehn Millionen Quadratkilometer – eine Fläche, die größer ist als alle fünfzig US-Bundesstaaten zusammen).[2] Ein volles Drittel Kanadas ist von borealen Wäldern bedeckt, dazu zählt die Hälfte Albertas. Weiter westlich, über die Rocky Mountains, durch British Columbia, den Yukon, Alaska und über die Beringstraße nach Russland (wo er als Taiga bekannt ist), erstreckt sich der boreale Wald bis nach Skandinavien. Unbeeindruckt vom Atlantischen Ozean, erobert er Teile Islands, bevor er in Neufundland erneut Fuß fasst und sich westwärts fortsetzt, um den Kreis zu vollenden: ein grüner Kranz, der den Globus krönt.
So dicht die borealen Wälder vom Straßenrand aus auch erscheinen mögen, in ihrem Inneren erstrecken sich Feuchtgebiete mit mehr Süßwasserquellen als in jedem anderen Biom. In diesem Sinne ähnelt der boreale Wald einer Art hemisphärischem Schwamm, der von Bäumen bedeckt ist, deren Milliarden Kilometer lange Wurzeln die Kontinente in einem unterirdischen Gewebe aus Kett- und Schussfäden miteinander verbinden. Wenngleich nicht so eindeutig als Gewässer erkennbar wie Floridas Everglades, erfüllen die zahllosen Seen, Teiche, Moore, Flüsse und Bäche der borealen Zone doch eine ähnliche Funktion: Sie sammeln, speichern, filtern und spülen frisches Wasser. Milliarden von Vögeln, die Hunderte von Arten repräsentieren, leben in diesem Ökosystem und durchwandern es.
Ein Grund, warum die Bäume nie sehr groß oder sehr alt werden, liegt darin, dass sie trotz des vielen Wassers regelmäßig abbrennen. Dazu sind sie bestimmt. So gesehen ist die boreale Waldlandschaft ein Phönix unter den Ökosystemen: Sie wird buchstäblich im Feuer wiedergeboren und muss verbrennen, um sich zu regenerieren. Das tut sie auf zufällige, patchworkähnliche Art alle fünfzig bis hundert Jahre. Dieser kolossale Lebensraum speichert ebenso viel, wenn nicht sogar mehr Kohlenstoff als alle tropischen Wälder zusammen, und wenn er brennt, explodiert er wie eine Kohlenstoffbombe. Das nordamerikanische Epizentrum dieser stratosphärischen Explosionen liegt in Nord-Alberta. Aus diesem Grund steht jede Stadt hier oben, ob groß oder klein, vor demselben Dilemma: Wo die Häuser aufhören, beginnt der Wald. Dort gibt es Bären, Wölfe, Elche und sogar Bisons, aber das Gefährlichste, das in diesen Wäldern lauert, ist Feuer. Unter den richtigen Bedingungen kann ein großes boreales Feuer wüten wie ein Weltuntergang, brüllend und unaufhaltsam. Diese Brände können Tausende von Quadratkilometern Wald samt allem, was sich darin befindet, in Flammen aufgehen lassen und sind nicht zu kontrollieren.
Der Chinchaga-Brand von 1950, das größte jemals in Nordamerika verzeichnete Feuer, trieb sein Unwesen fast im Verborgenen und wurde nur von einer Handvoll Menschen wahrgenommen. Er brach im Juni desselben Jahres an der Grenze zwischen British Columbia und Alberta aus und fraß sich mehr als vier Monate lang in östlicher Richtung durch Nord-Alberta. Dabei wurden etwa 1,6 Millionen Hektar (16 000 Quadratkilometer) Wald in Mitleidenschaft gezogen. (Diese Fläche ist etwa halb so groß wie Belgien.) Das Feuer erzeugte eine Rauchwolke, die so riesig war, dass sie an ein Sargtuch erinnerte und als »The Great Smoke Pall of 1950« bekannt wurde.[3] Sie stieg bis zu vierzigtausend Fuß in die Atmosphäre auf.[4] Ihr kolossaler Kernschatten senkte die Durchschnittstemperaturen um mehrere Grad und veranlasste Vögel, sich mittags zum Schlafen niederzulassen. Auf ihrem Weg um die nördliche Hemisphäre verursachte sie seltsame visuelle Effekte – so gab es zum Beispiel unzählige Berichte über lavendelfarbene Sonnen und blaue Monde.[5] Vor dem Chinchaga-Brand war über Effekte in diesem Ausmaß zuletzt nach dem Ausbruch des Krakatoa im Jahr 1883 berichtet worden.[6] Carl Sagan zeigte sich von den Auswirkungen des Chinchaga-Brands so beeindruckt, dass er fragte, ob sie denen eines nuklearen Winters ähneln könnten.[7]
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Die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) gibt in Zusammenarbeit mit Brandforschern aus Kanada und Mexiko jedes Jahr ein Dokument mit dem Titel North American Seasonal Fire Assessment and Outlook heraus, in dem sie die Wahrscheinlichkeit von Wildfeuern auf dem gesamten Kontinent vorherzusagen versucht. Dieser Outlook enthält für jeden Monat der Brandsaison Karten, die farblich gekennzeichnet sind, wobei Rot die Wahrscheinlichkeit einer erhöhten Feueraktivität und Grün die eines Rückgangs anzeigt.[8] Wie schon 2015 zeigten die Monatsdarstellungen für 2016 viel mehr Rot als Grün, und die Karte für Mai zeigte mehr Rot als alle anderen: Zusätzlich zu großen Teilen Mexikos, des Mittleren Westens der USA und ganz Hawaii bedeckte Rot einen Großteil des südlichen Kanadas – von den Großen Seen bis zu den Rocky Mountains. Es handelte sich um ein riesiges Gebiet, das den größten Teil der aktiven Erdölfelder in Alberta umfasste. In der Mitte dieser heißen Zone, umgeben von Wald, lag Fort McMurray.
Fort McMurray ist in Nordamerika eine Anomalie. Knapp eintausend Kilometer nördlich der US-Grenze und eintausend Kilometer südlich...
Erscheint lt. Verlag | 26.7.2023 |
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Übersetzer | Iris Hansen, Teja Schwaner |
Zusatzinfo | inkl. Abb. |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Fire Weather. The Making of A Beast |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | 2023 • baillie gifford preis • Die unbewohnbare Erde • eBooks • Erdöl • Fort McMurray • fossile Energie • Kanada • Klimawandel • national book award 2023 • Naturkatastrophe • Neuerscheinung • new york times best books 2023 • Ölkonzerne • Waldbrände |
ISBN-10 | 3-641-30945-X / 364130945X |
ISBN-13 | 978-3-641-30945-9 / 9783641309459 |
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