Blut - Der Fluss des Lebens (eBook)
320 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-29883-8 (ISBN)
Die Flüssigkeit, die uns am Leben hält: unser Blut - vom Autor des Longsellers 'Der Takt des Lebens'
Blut ist das rote Organ, das lautlos und geschmeidig in allen anderen Organen fließt, sie ausfüllt, ihnen Leben verleiht und sie verbindet. Es ist uraltes Merkmal weiblicher Fruchtbarkeit. Schiller sprach von der »Weisheit, welche Blut befiehlt« und hob es auf eine Stufe mit dem Bewusstsein. Es hat die Farbe der Liebe, wird verwendet für Kriegsbemalung und entlang der dünnen Membran zwischen Biologie und Mythologie zirkuliert es auch heute noch. Im Blut ist unser Anfang und unser Ende. Wir können mit Transfusionen Leben retten. Bei schweren Traumata verlässt es den Körper unwiederbringlich, und wir sterben. Wenn Blut fließt, blutet immer auch die Seele. Wird die Ursache eines Traumas nicht erkannt, schmerzen diese Wunden für immer. Blut ist eine zeitlose Währung und immergrünes Megageschäft. Blut ist flüssige Information: 70 Prozent aller Diagnosen werden anhand der Ergebnisse von Blutentnahmen gestellt. Der Herzchirurg und Autor des Longsellers »Der Takt des Lebens« Dr. Reinhard Friedl entführt uns in seinem neuesten Werk in die faszinierende Welt des Blutes und erzählt von seiner Entstehung, wozu wir es brauchen, wie es unsere Kultur und Geschichten seit Jahrhunderten prägt und warum es zu einem der größten Wirtschaftsfaktoren der Welt gehört.
Unser Herzschlag ist sein Beruf: Priv. Doz. Dr. med. Reinhard Friedl ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Er hielt schon viele tausend Herzen in den Händen. Er hat frühgeborene Babys operiert und bei hochbetagten Patienten Herzklappen repariert, er hat Kunstherz-Turbinen implantiert und Messerstichverletzungen am Herzen genäht. Blut war der tägliche Begleiter des Herzchirurgen, Intensivmediziners und Notarztes. Sein Fließen verbindet jede einzelne Zelle unseres Körpers mit dem Herzen. Eingehend setzt er sich mit den Ergebnissen der aktuellen Neuro- und Psychokardiologie auseinander, die immer mehr Geheimnisse der komplexen Verbindung zwischen Herz, Blut, Gehirn und Seele zutage fördern.
BlutBad
Es gibt Anblicke, die lassen selbst einem hartgesottenen Herzchirurgen das Blut in den Adern gefrieren: Dicht unterhalb der linken Brustwarze meines Patienten stak das helle Griffstück eines Fischmessers. Vermutlich eine Imitation von Perlmutt und in etwa sieben Zentimeter lang. Die Klinge war tief im Körper des Patienten Richtung Herz verschwunden. So weit war dieser Anblick für eine Messerstichverletzung noch erträglich. Auch der hellblaue Pullover, mittlerweile schwarz gefärbt und steif von geronnenem Blut, schockte mich nicht. Blut in allen Gerinnungsfaktoren ist sozusagen mein tägliches Brot. Es war das lautlose Tick-Tick, Tick-Tick, Tick-Tick, mit dem der Messergriff den Herzschlag im Inneren des Leibes außen sichtbar machte, das mir durch Mark und Bein ging. Kein Vibrieren oder Zittern, sondern eine feine und doch klar abgesetzte Bewegung. Als ob das Pendel einer Lebensuhr, das sonst unsichtbar in diesem Patienten schlug, plötzlich sichtbar würde. Ich schätzte die Herzfrequenz auf 120, und dass ich sie erfassen konnte, ohne den Puls des Patienten zu fühlen, ohne EKG, ohne dass ich den Brustkorb eröffnet hatte, ließ mich schaudern. Es kam mir vor, als sende mir dieses schwerstverletzte Herz geheime Morsezeichen, als funke es: Ich habe nicht mehr viel Zeit, mein Herzblut verlässt mich.
Kurz nach der Halbzeitpause hatte mein Telefon geklingelt. An der Nummer hatte ich die Zentrale der Klinik erkannt. O nein, dachte ich spontan, bitte nicht jetzt! Als Herzchirurg hatte ich dieses Wochenende an unserem Klinikum Dienst und bereits in der vorangegangenen Nacht operiert. Ich hatte heute auf eine Pause gehofft.
Mein Blick folgte dem blonden Schopf meines kleinen Sohnes, der an diesem diesigen Frühherbstnachmittag im gelben Fußballtrikot übers Spielfeld sauste. Die kurze Hose war ihm noch etwas zu groß, endete unterhalb seiner Knie und behinderte ihn fast mehr als der gegnerische Verteidiger, den er gerade mit einem gewagten Haken auszuspielen versuchte. Ich war sein größter Fan und konnte meinen Blick nicht abwenden. Was ich nun aber musste, als ich den Notruf aus der Klinik annahm.
»Guten Tag, Dr. Friedl, ich verbinde Sie mit dem Schockraum.«
Schockraum, in diesem Wort rauscht reines Adrenalin. Es ist der Ort, an dem man um ein Leben kämpft, sein eigenes oder das eines anderen, je nachdem, auf welcher Seite des Skalpells man sich befindet, am Handgriff oder unter der Klinge. Ein Ort, an dem das Leben buchstäblich auf Messers Schneide steht. Und so war es auch jetzt. Ein Kollege informierte mich: »Wir kriegen eine Messerstichverletzung rein. Laut Notarzt steckt das Messer noch im Brustkorb. Sie kommen bodengebunden mit dem Notarztwagen von irgendwo aus der Pampa. Zu viel Nebel zum Fliegen heute. Der Patient ist im schweren hämorrhagischen Schock1, der Notarzt hofft, dass sie es zu uns schaffen!«
»Bin unterwegs«, sagte ich. »Falls der Patient lebend ankommt, bringt ihn bitte sofort in den Herz-OP.«
Für eine umfassende Diagnostik mit Computertomographie im Schockraum ist bei solchen Patienten keine Zeit. Sie brauchen Behandlung, nicht Untersuchung, sonst verbluten sie. Sie benötigen einen Chirurgen, der das tödliche Ausbluten stoppt. In diesem Fall mich und mein Team.
»Ruft auch die Kardiotechniker an«, fügte ich sicherheitshalber hinzu, »falls wir die Herz-Lungen-Maschine einsetzen müssen.«
Schlagartig hatte sich meine Welt verändert. Alle Pläne für diesen Tag existierten nicht mehr. Kurz winkte ich meinem Sohn, aber er sah mich im Spieleifer nicht. Ich bat den Vater seines Kumpels, ihn später mit nach Hause zu nehmen, und fuhr in die Klinik. Auf dem Weg rekapitulierte ich meine Erinnerungen zu Messerstichverletzungen. Solche Traumata sind in Deutschland nicht alltäglich, anders als in Südafrika oder in New York. Doch ich hatte schon einige davon unter dem Skalpell und Erfahrung mit derartigen lebensbedrohlichen Verletzungen. Die Mechanismen und die Komplexität der Verletzungen sind jedes Mal anders, unvorhersehbar und können eine große Herausforderung sein.
Adrenalin
Etwa zeitgleich mit dem Patienten traf ich in der Klinik ein. Der junge, dunkelhaarige Mann war noch bei Bewusstsein. Während er auf den OP-Tisch gehoben wurde, redete er ohne Unterlass: »Es tut mir so leid, es tut mir so leid, es tut mir so leid«, wiederholte er ein ums andere Mal. Was meinte er damit? Was tat ihm leid? Gab es ein zweites Opfer? Wo? Tot? Viele Fragen, keine Antworten. Er redete, als ginge es um etwas sehr Wichtiges. Und damit hatte er recht. Er redete um sein Leben, das mit jedem Blutstropfen aus ihm heraussickerte – oder auch – strömte. Wie viel es war, wusste ich im Augenblick noch nicht.
Sein Gesicht war leichenblass, sein Körper weiß marmoriert wie eine Statue. Die Lippen blau, der ganze Mann, den ich auf Mitte zwanzig schätzte, schweißgebadet. Er klapperte entsetzlich mit den Zähnen, und immer wieder schüttelte ihn kalter Schauer. Blut transportiert nicht nur Sauerstoff, sondern verteilt auch die Lebenswärme. Zusammen mit dem Blut verließ sie seinen Körper, der erste Schritt einer tödlichen Abwärtsspirale. Ist die Körpertemperatur zu niedrig, beginnt die Muskulatur mit Wärmeproduktion durch ein unkontrollierbares Muskelzittern. Gut informierte Selbstmörder setzen sich deshalb in die warme Badewanne, bevor sie sich die Pulsadern aufschneiden. Ein Selbstmord durch einen Messerstich ins eigene Herz ist eher die Ausnahme, das bringen auch die verzweifeltsten Menschen dann doch nicht fertig.
Keine Frage, dieser Patient hatte großes Glück gehabt, es bis zu uns in die Klinik geschafft zu haben. Doch wie lange würde sein Glück währen? Wie viel Blut floss noch in seinen Adern? Zwischen vier und sechs Liter sind es normalerweise in einem erwachsenen menschlichen Körper. Wenn wir die Hälfte davon verlieren, befinden wir uns, je nach Konstitution und Umständen, in Todesnähe, oft schon vorher.
Das Leben dieses Patienten floss nur noch als kümmerliches Rinnsal. Noch schlug das Herz in rasendem Tempo, noch atmete er, flach und hastig. Und er redete ohne Unterlass, als verhandle er mit dem Tod. In der Klinik in den USA, wo ich einen Teil meines Studiums verbracht hatte, wurden Schwerstverletzte wie er als »Talk and Die« bezeichnet, die reden, bis sie sterben. Ein Arzt darf sich davon nicht täuschen lassen. Dieses Reden ist keineswegs ein gutes Zeichen, im Sinne von »nicht so schlimm, er redet ja noch«. Für Traumaspezialisten und Notärzte, die dieses Zeichen zu deuten wissen, ist es ein Warnsignal für den unmittelbar bevorstehenden Absturz der Körpersysteme. Im Stadium des fortgeschrittenen Schocks spüren Verblutende, meistens Opfer von schweren Unfällen und Gewaltverbrechen, dass das Leben aus ihnen weicht. Jeder Tropfen des Schockhormons Adrenalin, den sie noch irgendwo zur Verfügung haben, wird ausgeschüttet. Seine Aufgabe ist es, mit dem noch vorhandenen Blutrest bis zuletzt einen minimalen zentralen Notkreislauf für Herz und Gehirn aufrechtzuerhalten, auf Kosten der Durchblutung aller anderen Organe. Adrenalin sorgt dafür, dass deren Blutzufuhr durch Engstellung der Blutgefäße minimiert wird. Im Extremfall werden sie gar nicht mehr durchblutet und stellen in der Folge sukzessive ihre Funktion ein. Unser größtes Organ, die Haut, trifft es zuerst: Sie erkaltet und wird weiß wie Schnee, der Schweiß zu Eiswasser. Der Notkreislauf ins Gehirn sorgt dafür, dass wir bis zum Ende denken können. Solange wir bewusst sind, haben wir noch einen Rest Autonomie, den Glauben an unsere Handlungsfähigkeit. Verblutende reden einem inneren Antrieb folgend immer weiter, denn solange sie reden, haben sie nicht aufgegeben. Ihre Lippen formen flüsternd Worte, sie hören ihre Stimme, und das gibt ihnen die Gewissheit, nicht tot zu sein – »noch« nicht tot, müsste man eigentlich sagen.
Auf einmal schaute mich der Patient mit weit geöffneten Augen an. »Werde ich sterben?«, fragte er.
»Wir tun alles, was wir können.«
»Ich heiße Hamid.«
»Ich bin Dr. Friedl«, sagte ich.
Er nickte schwach und suchte meine Hand. Ich hielt seine eiskalte schweißnasse Hand für einen Moment, drückte sie sachte. »Wir schaffen das.«
Und das meinte ich auch so. Denn wenn man glaubt, es sei sinnlos und zu spät, sollte man auch nicht mehr operieren. In traumatischen Notfallsituationen, wenn der Fluss des Lebens versiegen will, ist Ehrlichkeit Menschlichkeit. Man kann einem Menschen in seiner letzten Minute auch die Hand halten und bei ihm sein, anstatt in blindem Aktionismus vor einer solchen Anteilnahme wegzulaufen.
Die Anästhesistin spritzte Narkosemittel und wechselte die Sauerstoffmaske auf dem leichenblassen Gesicht gegen eine Beatmungsmaske. Mir zur Seite stand ein überaus erfahrenes Notfallteam, das den Patienten bisher »geschaukelt« hatte, wie wir im OP-Jargon sagen. Es hatte Organfunktionen und Vitalparameter halbwegs stabil gehalten. Den Kommandostand der Anästhesistin am Kopfende des Patienten säumten Kabel und Monitore und das Beatmungsgerät mit seinen Schläuchen und Digitalanzeigen. Auf einer Ablage sammelte sich eine ganze Batterie von kleinen Spritzen. Von Zeit zu Zeit griff sie sich eine und applizierte vorsichtig einen halben Milliliter dieser oder jener Substanz. Anästhesisten können, wie Zauberer, einen Patienten schlafen lassen, den Schmerz nehmen, das Herz ein bisschen schneller schlagen lassen oder auch langsamer, den Druck ein bisschen heben oder senken und auch etwas...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | 2023 • Bill Bryson • Blutbild • Blutbildung • blut - die geheimnisse unseres flüssigen organs • Bluthochdruck • Blutspende • der takt des lebens • eBooks • Erste Hilfe • faszination blut • flüssige information • flüssiges organ • Geschichte • Gesundheit • Gesundheit & Medizin • Harald Lesch • Herzchirurg • Immunologie • Intensivmedizin • Kulturgeschichte • Medizin • Medizingeschichte • Medizinische Biografien & Erinnerungen • Medizinischer Dienst • medizin verständlich erklärt • Menstruation • Neuerscheinung • Rotes Kreuz • Sachbuch • Sachbuch Neuerscheinung 2023 • Trauma • Ulrich Strunz |
ISBN-10 | 3-641-29883-0 / 3641298830 |
ISBN-13 | 978-3-641-29883-8 / 9783641298838 |
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