Unsicherheit (eBook)

Globale Herausforderungen psychologisch verstehen und bewältigen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
216 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61702-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unsicherheit -  Eva Lermer,  Matthias Hudecek
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Ob Covid-19-Pandemie, Fake Stories oder politische Erdbeben: Der Umgang mit Unsicherheit ist eine wesentliche Herausforderung im menschlichen Alltag. Obwohl viele beunruhigende Ereignisse der Vergangenheit (z. B. Sonnenfinsternis)erklärt werden konnten, verharren wir bei neuen Unsicherheitslagen in unseren alten Denk- und Verhaltensmustern. Diese sind geprägt durch Phänomene wie verzerrte Wahrnehmung oder (Selbst-)Überschätzung. Dieses Buch leistet einen Beitrag zum kompetenten Umgang mit Unsicherheit. Mithilfe von psychologischem Wissen werden Denkprozesse und Interaktionen besser verständlich gemacht, um künftig reflektierter (re-)agieren zu können. Das Buch ist ein Plädoyer für eine neue Aufklärung mit einem Appell an die individuelle Verantwortlichkeit, sich seines Verstandes zu bedienen.

Prof. Dr. Eva Lermer, Psychologin und Soziologin, forscht und lehrt an der Hochschule Augsburg und am Center for Leadership and People Management der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Matthias Hudecek, Psychologe, forscht und lehrt am Lehrstuhl für Sozial-,Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie der Universität Regensburg und ist Lehrbeauftragter für "Psychologie der Arbeit und Organisation" an der Universität St. Gallen (Schweiz).

Prof. Dr. Eva Lermer, Psychologin und Soziologin, forscht und lehrt an der Hochschule Augsburg und am Center for Leadership and People Management der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Matthias Hudecek, Psychologe, forscht und lehrt am Lehrstuhl für Sozial-,Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie der Universität Regensburg und ist Lehrbeauftragter für "Psychologie der Arbeit und Organisation" an der Universität St. Gallen (Schweiz).

Pandemie


Vertrauen und Gemeinschaftssinn


Am Sonntag, den 22. März 2020 verkündete die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass sie und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten Deutschlands im Kampf gegen die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus vereinbart haben, dass öffentliche Versammlungen und das Zusammenkommen von mehr als zwei Personen vorübergehend für 14 Tage verboten werden1. Damals klang das noch sehr lang und man konnte sich nicht vorstellen, wie sich die Lage entwickeln würde. Bewegungseinschränkungen und Maßnahmen zur physischen Distanzierung hat es in der Bundesrepublik Deutschland bis dahin noch nie gegeben. Damit war unklar, wie die Bevölkerung darauf reagieren würde.

Die COVID-19-Pandemiesituation hat einen neuen und, wenn man so sagen will, mehrdimensionalen Unsicherheitsbereich geschaffen. Auf sämtlichen Ebenen traten auf einmal Sorgen hervor. Hier nur einige Beispiele:

Gesundheit: Wie wird es mir und meine Liebsten ergehen? Wird es einen Impfstoff geben? Wird dieser helfen?

Finanzen & Arbeitsplatz: Wird die Firma überleben? Wie werden wir das finanzieren?

Soziale Beziehungen: Wie verändern sich meine sozialen Kontakte? Wann können wir Oma wieder besuchen?

Die COVID-19-Pandemie hat viele Fragen aufgeworfen und tut es heute noch. Es wundert daher wenig, dass seither unzählige wissenschaftliche Studien gemacht und in wissenschaftlichen Journalen publiziert wurden 2. Gibt man beispielsweise die Begriffe „COVID-19“ und „psychology“ in Google Scholar ein, erhält man aktuell 1.110.000 Ergebnisse. Doch trotz dieser enormen Forschungsleistungen sind bislang zentrale Fragen ungeklärt. Blicken wir aus soziologisch-psychologischer Perspektive stellen sich etwa folgende:

Weshalb reagieren Menschen so unterschiedlich auf die Pandemie-Situation? Zum Beispiel hinsichtlich

Vertrauen in die Wissenschaft

Impfbereitschaft

Einhaltung der Maßnahmen zu Distanzierung und öffentlichen Gesundheit

Psychische Verfassung / Reaktion auf die Situation und ihre Entwicklung

Welche Kommunikationsmaßnahmen sind für welche Zielgruppen adäquat?

Die Sozialwissenschaften bieten eine Fülle an Theorien zur Vorhersage und Erklärung des menschlichen Verhaltens unter extremen Bedingungen – wie einer Pandemie. Mit die ersten Forscherinnen und Forscher, die die Anwendung relevanter Erkenntnisse aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie empfahlen, waren Van Bavel und seine Kolleginnen und Kollegen 3.

Auch wir wollten einen Beitrag leisten, um besser zu verstehen, wie sich Menschen in dieser neuen Situation verhalten 4. Deshalb war es für uns wichtig zu untersuchen, welche Variablen für die Akzeptanz der Maßnahmen und die Verhaltensreaktionen in diesem Zusammenhang zentral sind. Basierend auf früheren Studien im Bereich Pandemien (z. B. Ebola 5), Präventionsmaßnahmen 6) und Risikokommunikation 7 wählten wir eine Reihe von potenziell relevanten Variablen aus. Dazu gehörte u. a. Vertrauen.

Wir halten Vertrauen für eine besonders wichtige Variable. Vertrauen ist jedoch ein weit gefasster Begriff und kann sich je nach Perspektive auf unterschiedliche Aspekte beziehen. Die für uns relevante Perspektive zum Zeitpunkt dieser Studie war das Vertrauen in die Infektionsstatistiken der offiziellen Behörden – also die Zahlen zu Infizierten, die von offiziellen Institutionen und Regierungen übermittelt wurden.

Vorausgehende Studien haben gezeigt, dass Vertrauen positiv mit der Akzeptanz von Präventionsmaßnahmen in einer Gesellschaft in Zusammenhang steht (z. B. Anti-Terror-Maßnahmen 8) und mit der Einhaltung von Gesetzen verbunden ist 9. Auch Rowe und Calnan 10 haben gezeigt, dass das Vertrauen in öffentliche Systeme und Behörden die Art und Weise, wie Menschen Anweisungen befolgen, positiv beeinflusst. Ein größeres Vertrauen in politische Institutionen wird mit mehr Befolgung von gesundheitspolitischen Maßnahmen wie Tests oder Quarantäne in Verbindung gebracht. Diese Zusammenhänge konnten auch bei vergangenen Pandemien nachgewiesen werden (z. B. Ebola 11; asiatische Grippe und H1N1-Pandemie 12). Es gibt einige gute wissenschaftliche Überblicksartikel zur Relevanz von Vertrauen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie 13. Erst kürzlich wurde im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie gezeigt, dass Vertrauen in Institutionen mit einer geringeren Sterblichkeitsrate verbunden ist 14.

Da die Gesundheitsbehörden ihre strengen Vorschriften mit Infektions- und Todesstatistiken begründeten und jeden dazu aufforderten, zur „Abflachung der Kurve“ (der Neuinfektionen) beizutragen, erwarteten wir, dass das Vertrauen in diese offiziellen Statistiken ein wichtiger Prädiktor für die Einhaltung der Schutzmaßnahmen sein würde. Daher haben wir das Vertrauen in offizielle Informationen aus verschiedenen Quellen untersucht.

Die Ergebnisse unserer Studien, die wir im März 2020, April 2020 und April 2021 durchgeführt haben, zeigten, dass verschiedene offizielle Quellen für Infektionsstatistiken unterschiedlich wahrgenommen wurden (siehe Abbildung 1). Während den Daten vom Robert Koch Institut am meisten Vertrauen geschenkt wurde, zeigten die Ergebnisse ferner, dass dies am wenigsten auf die Daten aus China zutraf.

Abbildung 1: Vertrauen in Statistiken über Infektionen aus offiziellen Quellen: O = kein Vertrauen in die Daten aus . . . bis 6 = starkes Vertrauen in die Daten aus . . .

Die Ergebnisse zeigten ferner, dass Personen die mehr Vertrauen in offizielle Statistiken hatten weniger dazu tendierten, Vorratskäufe (z. B. Klopapier) zu tätigen und sich mehr an die Maßnahmen hielten zum Schutze anderer, wie auch für sich selbst, als die Personen, die weniger Vertrauen in die Statistiken hatten.

Zu der Zeit unserer ersten Studie hierzu rief der US-amerikanische Forscher Jay Van Bavel von der New York University weltweit Kolleginnen und Kollegen über Twitter auf, repräsentative Daten aus ihren jeweiligen Ländern zusammenzutragen. Dem Aufruf Van Bavels folgten mehr als 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt – darunter auch wir. Gemeinsam erhoben die Forscherinnen und Forscher im Zeitraum von April bis Mai 2020 Daten von nahezu 50.000 Personen aus 67 Ländern. Mittels dieser Daten untersuchten wir, in welchem Maße die jeweiligen Bürgerinnen und Bürger die Vorgaben seitens der lokalen Regierungen, physische Kontakte einzuschränken, Hygienevorgaben einzuhalten und politische Maßnahmen zu unterstützen, befolgten und was die Akzeptanz der neuen Maßnahmen besonders fördert.

Nationale Identifikation erwies sich als der stärkste positive Prädiktor für die Unterstützung der öffentlichen Gesundheit 15. Flavio Azevedo 15 von der Universität Jena sagt hierzu:

„Personen, die sich stärker mit ihrer Nation identifizieren, sind am meisten bereit, die hohen Belastungen in Kauf zu nehmen, die sich aus schützenden Verhaltensweisen und der Unterstützung der öffentlichen Gesundheitspolitik ergeben.“

Wichtig ist hierbei, dass das Konstrukt nationale Identifikation nicht Nationalismus, kollektiven Narzissmus, nationale Überlegenheitsgefühle oder nationalistische Ideologien meint. Weltweit zeigt sich, dass Personen, die höhere Werte darin angeben, sich mit der eigenen Nation identifizieren zu können, die gesundheitspolitischen Vorgaben stärker unterstützen. Bestätigt werden diese Ergebnisse mittels der Daten einer zweiten Studie 15. Hierzu verglichen die Forscherinnen und Forscher die Daten zur nationalen Identifikation aus dem „World Values Survey“ mit von Google erhobenen Mobilitätsdaten aus dem Frühjahr 2020. Das Ergebnis: In Ländern, in denen die durchschnittliche nationale Identifikation höher ausgeprägt ist, reduzierten die Bürgerinnen und Bürger ihre Mobilität stärker.

Diese Ergebnisse führen u. a. die Bedeutung von Vertrauen, welches sozusagen das Gegenteil von Unsicherheit ist, und des Zusammengehörigkeitsgefühls für die Bewältigung einer globalen Krise vor Augen.

Gefahr durch Gewohnheit: Theorie der gelernten Sorglosigkeit


Ein anderer Zugang aus psychologischer Perspektive zum Unsicherheitskontext Pandemie findet sich in den Prozessen unserer Wahrnehmung und wie wir mit neuen und vertrauten Situationen umgehen.

Wenn wir etwas für uns Neues sehen, fällt uns das eher auf. Denken Sie beispielsweise an die neue Baustelle auf Ihrem Heimweg, da, wo früher das alte Gebäude war, klafft nun eine große Lücke zwischen den Häusern. Diese Baustelle konnten Sie gar nicht übersehen. Mit zunehmender Zeit jedoch gewöhnt sich Ihr Gehirn an die nun nicht mehr so neuen Bilder und dementsprechend schenken Sie der Baustelle auch immer weniger Aufmerksamkeit. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit taktilen Reizen, also wenn wir etwas berühren. Ein berühmtes Beispiel hierfür sind die Untersuchungen des Nobelpreisträgers Eric Kandel. Kandel konnte an Meeresschnecken (Aplysia californica) zeigen, dass die wiederholte Berührung der Atemröhre dazu führt, dass der Kiemenrückzugsreflex abnimmt 16. Dieser Effekt findet sich auch bei...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Arbeits- und Organisationspsychologie
Technik
Schlagworte Aufklärung • Aufklärung 2.0 • Covid-19 • Digitalisierung • Entscheidungen • Fake News • Fake Numbers • Fake Stories • Humanismus • Künstliche Intelligenz • Operante Aufklärung • Psychologie • Risiko • Unsicherheitskontexte
ISBN-10 3-497-61702-4 / 3497617024
ISBN-13 978-3-497-61702-9 / 9783497617029
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