Den Tod überleben (eBook)

Spiegel-Bestseller
Vom Umgang mit dem Unfassbaren
eBook Download: EPUB
2024
141 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77966-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Den Tod überleben -  Wilhelm Schmid
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Den Tod überleben, wie geht das? Das ist die unmittelbare Herausforderung für den, der bis auf Weiteres am Leben bleibt und Phasen durchläuft, die zu kennen hilfreich ist.
Eine beliebte Methode, den Tod zu überleben, besteht darin, nicht über ihn zu sprechen. Dem setzt Wilhelm Schmid sein neues Buch entgegen.

Denn es hilft ja nichts: Einstweilen bleibt der Tod das Ende des Lebens für jeden Menschen. Ungleich fallen nur Zeitpunkt und Art und Weise des Todes aus. Meist kommt er zu früh und hinterlässt viel Leid. Kann das Drama abgemildert werden durch die Annahme, dass der Tod nicht das Ende allen Lebens ist? Wilhelm Schmid beschäftigt sich von Neuem ernsthaft mit dieser Frage, die Menschen seit unvordenklichen Zeiten umtreibt: Wohin geht der, der geht? In ein anderes Leben? Gibt es vielleicht wirklich ein Leben nach dem Tod? Wie ist es vorstellbar? Kann allein schon die Möglichkeit ein Trost sein?

Wilhelm Schmid, geboren 1953 in Bayerisch-Schwaben, lebt als freier Philosoph in Berlin. Bis zur Altersgrenze lehrte er Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Zeitweilig war er tätig als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien sowie als philosophischer Seelsorger an einem Krankenhaus in der Nähe von Zürich/Schweiz. 2012 wurde ihm der deutsche Meckatzer-Philosophiepreis für besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie verliehen, 2013 der schweizerische Egnér-Preis für sein Werk zur Lebenskunst. Umfangreiche Vortragstätigkeit im In- und Ausland zu den Themen seiner Bücher, die auch in zahlreichen Übersetzungen vorliegen. Großen Erfolg hatten seine Bücher über das Schaukeln (2023), die Gelassenheit (2014) und das Glück (2007), alle im Insel Verlag, Berlin.

1.

Wo ist meine Frau?


Gibt es menschliche Konstanten? Also Dinge im menschlichen Leben, die immer gleich bleiben? Vermutlich dies: Dass sich die meisten Menschen viel Glück im Leben und in der Liebe wünschen. Unglücklicherweise hält das Leben aber auch andere Konstanten bereit, etwa eine zeitliche Grenze. Insbesondere für Liebende ist das unendlich schmerzlich. Da ist kein Trost in der grenzenlosen Leere, die der Verlust des geliebten Menschen hinterlässt. Das Leben steht still. Alles ist nur noch Vergangenheit. Eine Zukunft ist uninteressant. So erging es auch mir, als meine Frau nach langer Krebserkrankung starb, immerhin zuhause, umgeben von den Kindern und mir, nach fast 40 gemeinsamen Jahren, erst 59 Jahre alt.

Was geschieht im Moment des Todes? Das ist absolut rätselhaft. Der Tod ist ein magischer Moment, unwirklich mächtig, zutiefst erschütternd. Er wirft Fragen auf, die keine Antwort finden. Was empfindet der Mensch, der stirbt? Was genau nimmt er oder sie noch wahr? Was ist seine oder ihre Erfahrung? Was daran ist neu? Das Gehör ist bis zuletzt aktiv. Bekam meine Frau noch mit, wie sehr wir weinten, als ihre Augen erloschen? »Augen, von denen niemand weiß, was sie noch sehen, werden zugedrückt, man hält dem Blick nicht stand, entsetzt sich, die Ewigkeit schaut einen an« (Ulla Berkéwicz, Überlebnis, 2008, 107).

Aus der Binnensicht des Menschen, der den Tod erfährt, fühlt sich dieser äußerste Moment womöglich ganz anders an als für die Zurückbleibenden. Er könnte der Erfahrung ähneln, nach der Liebende sich sehnen und die sie in manchen Momenten auch erlangen: Eine energetische Verschmelzung, ein göttliches Erlebnis, von alters her Unio mystica genannt. Der »kleine Tod« (la petite mort) der Liebesekstase könnte eine Vorahnung des großen Aktes sein, der der Tod selbst ist, der gewaltigste Moment des Lebens mit einem Hinausströmen des Ich aus sich, einer rauschhaften Auflösung des Lebens in dieser Gestalt. Diese ultimative Ekstase hat nicht mehr nur ein »Hinausstehen« (ekstasis im Griechischen), sondern ein komplettes Hinausgehen aus sich und diesem Leben zur Folge.

Und was kommt danach? Wohin entschwindet der Mensch, wenn der Tod endgültig da ist? Welche Beziehung zu ihm ist dann noch möglich? Kann er wirklich tot sein? Wie ist der Zustand jenseits des biologischen Lebens vorstellbar? Ist es ein anderes Leben? Diese Fragen beschäftigen mich ohne Unterlass. Die einzige Antwort ist: Der Tod und das, was darauf folgt, sind vollkommen unfassbar. Eines Tages werde ich selbst, wie jeder Mensch, in das Rätsel hineingehen. Aber niemand wird je zurückkehren und darüber berichten. Eher sind Reisen zu fernen Sternen möglich, als dass dieses Geheimnis gelüftet werden könnte.

Mit meiner Frau habe ich oft überlegt, was den Toten vom Lebenden unterscheidet. Wir fanden vor allem dies: Die Energien sind nicht mehr im Körper. Nicht etwa geheimnisvolle, sondern gut bekannte Energieformen wie Wärme, verifizierbar durch bloße Berührung, und Elektrizität, messbar durch ein EKG, das die Herzstromkurven wiedergibt, sowie ein EEG, das die Spannungsschwankungen der Hirnströme aufzeichnet. Bis nichts mehr messbar ist. Energie wäre somit das Wesentliche eines Menschen (und aller Wesen). Sie belebt den Körper. Entweicht sie aus ihm, ist das sein Tod. Nicht jedoch der Tod der Energie.

Energie kann ohne Ende in andere Energieformen umgewandelt, niemals vernichtet werden. Das besagt der Energieerhaltungssatz (1.Hauptsatz der Thermodynamik), den Hermann von Helmholtz 1847 nach Vorarbeit des Heilbronner Forschers Julius Robert Mayer für die Physik formulierte. Als Physiologe bezog Helmholtz diesen Satz auch auf Lebewesen, aus nachvollziehbaren Gründen: Biologie beruht auf Chemie, diese wiederum auf Physik. Was Energien für die Lebenspraxis und das persönliche Befinden bedeuten, weiß jeder Mensch, der im Februar die Frühlingssonne herbeisehnt.

Der Mensch stirbt, nicht jedoch seine Energie. Nichts geht verloren. Dass die Energie, die einen Menschen belebt, nach seinem Tod weiterhin da ist, muss nicht die letzte Wahrheit sein, hat aber viel Plausibilität für sich, nach heutigem Wissensstand. Das Gefühl, dass der oder die Verstorbene »noch da ist«, kann also reale Gründe haben. Viele berichten von diesem Gefühl nach dem Tod eines nahestehenden Menschen: Dass dessen Energie noch im Raum schwebt, ohne genau lokalisierbar zu sein, unsichtbar und doch spürbar. »Stark wie zwei«, besang Udo Lindenberg 2008 die Erfahrung, die auch er machte. Es ist, als schenke der tote Mensch seine Energie den Lebenden, die in Gedanken und Gefühlen bei ihm sind. Wie ist das erklärbar?

Vielleicht durch Magnetismus. Die vertrauten Menschen könnten magnetische Pole sein, die die Energien anziehen, zumal solche, die auf sie »geeicht« sind. Wenn sie den Toten nicht fliehen, können sie dessen Energien wahrnehmen, aufnehmen und mit ihnen nach der großen Irritation des Todes ins Leben zurückkehren. Der neue Mut, der sie erfüllt, verdankt sich den Energien, die der Verstorbene nicht mehr für sich braucht, sondern dem überlässt, der in Beziehung zu ihm bleibt. So lebt das Wesentliche eines Menschen weiter in den Lebenden und trägt zu ihrem inneren Reichtum bei.

Wie ist es für mich selbst nach dem Tod meiner Frau? Das Gefühl, dass sie energetisch bei mir ist, ist sehr stark. Tröstet mich das? Ja, sehr. Ihre Energie nehme ich wie eine große, lichte, warme Wolke wahr, die sich ständig mit mir bewegt und mir guttut. Manchmal überkommt sie mich mit der Intensität einer Sonne, aber es ging auch schon mal ein eisiger Schauer über mir nieder, keine Ahnung warum. Die atmende Präsenz meiner Frau entbehre ich dennoch schrecklich. Es ist mir völlig unbegreiflich, dass sie nicht mehr leiblich da ist. Wo ist meine Frau? In welchem Zustand befindet sie sich jetzt? Ist dieser Zustand mit irgendeiner Art von Bewusstsein verbunden? Ist sie noch eine Person? Kann ich mit ihr sprechen? Trägt sie noch ihren göttlich schönen Namen, Astrid, mit dem ich sie ansprechen kann?

Es ist unmöglich zu wissen, ob die Person über den Tod hinaus erhalten bleibt. Ein Bewusstsein zu haben und »ich« sagen zu können, sind Leistungen des Gehirns, die eine physische Existenz voraussetzen, soweit bisher bekannt. Das Unfassbare des Todes könnte die Umwandlung der Person in Energie in einem einzigen Augenblick sein. Aber es geschehen so viele eigenartige Dinge seit dem Tod meiner Frau, dass ich auch die Fortexistenz der Person nicht ausschließen würde. Angesichts eines bunten Blumenbeets, das sie begeistert hätte, rufe ich aus: »Wunderschön! Siehst du das?« Sieht sie es? Vielleicht durch meine Augen? Ich schaue auf die Uhr. Es ist 17.17 Uhr. Sie starb um 19.19 Uhr. Monate später, als ich diese Textstelle hier überprüfe, ist es erneut 17.17 Uhr. Fast jeden Tag leuchten mir solche Doppelungen auf der Uhr entgegen, wenn ich an sie denke. Ich sehe darin »Botschaften« von ihr. Jedes Mal lächeln wir uns zu und ich atme tief durch. Ich bin Philosoph, der stets der Nüchternheit wissenschaftlicher Erklärungen den Vorzug gibt. Aber ich bin mir auch ihrer Begrenztheit bewusst. Menschen wissen nicht, was sie alles nicht wissen.

Könnte es sein, dass das Leben viel umfassender ist als das Leben einer Person? Ist vielleicht doch so etwas wie ein höheres Bewusstsein möglich? Darüber denke ich immer von Neuem nach. Nach dem realen Leben könnte es ein anderes, surreales geben, ein körperloses Sein, das als eine Art Schlaf zu verstehen wäre. Bis zur »Auferweckung«, von der in religiösem Kontext die Rede ist? Wie für den gewöhnlichen Schlaf könnte auch für den Seinsschlaf ein Grund die Erholung sein, die aber anders als im Leben nicht dem momentanen Zustand von Körper, Seele und Geist zuteilwird, sondern der gesamten Existenz des Menschen. Mit der Auflösung seiner Gestalt würde er oder sie sich regenerieren und nach einer unbestimmten Zeit der Gestaltlosigkeit womöglich in anderer Gestalt ins reale Leben zurückkehren.

Nun aber stehe ich am Grab, in dem die »sterblichen Überreste« meiner Frau verschwunden sind, und kann es nicht fassen, trotz aller möglichen Erklärungen. Sollten auch diese Reste noch ihre Energien enthalten, kann ich ihr hier nahe sein. Beim Näherkommen meine ich mehr als...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte Endlichkeit • Lebenshilfe • Lebenskunst • Sterben • Sterblichkeit • Tod • Trauer
ISBN-10 3-458-77966-3 / 3458779663
ISBN-13 978-3-458-77966-7 / 9783458779667
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