Konsens Dissens (eBook)

Jüdischer Almanach

Gisela Dachs (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
224 Seiten
Jüdischer Verlag
978-3-633-77482-1 (ISBN)

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Konsens Dissens -
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Die westlichen Gesellschaften sind seit dem vergangenen Jahrzehnt zunehmend von Polarisierung geprägt, sei es in gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Hinsicht. Das gilt auch, oder vielleicht sogar umso mehr, für innerjüdische und israelische Auseinandersetzungen. Für Israel bedeutet das natürlich in erster Linie die Debatte um Lösungsansätze im Nahostkonflikt und das Verhältnis zwischen Orient und Okzident. Oder die Diskussion um die eigene Verortung im Umgang mit der Aufarbeitung von Kolonialgeschichte. Aber es gibt auch ungewöhnliche Wege der Konsensfindung: So vereint die 2021 gebildete Regierung in Jerusalem diverse Koalitionspartner, die ideologisch nicht weiter auseinander liegen könnten.

In diesem Almanach geht es um das ganze Spektrum von Konsens und Dissens in der jüdischen Welt und nicht zuletzt auch um die Grauzonen, in denen sich Übergreifendes oder Gar-nicht-zu-Greifendes verorten lässt.

Gisela Dachs ist Publizistin, promovierte Sozialwissenschaftlerin und Professorin am Europ&auml;ischen Forum der Hebr&auml;ischen Universit&auml;t Jerusalem. 2016 erschien der von ihr herausgegebene <em>L&auml;nderbericht Israel</em> im Auftrag der Bundeszentrale f&uuml;r politische Bildung. Seit 2001 ist sie die Herausgeberin des J&uuml;dischen Almanachs. Sie lebt in Tel Aviv.

Dan Diner

Jüdische Gedächtnisbilder im Umsturz


Über die Neuverhandlung geschichtlicher Erfahrungen im Ukraine-Krieg

Der russische Krieg in der und gegen die Ukraine löst nicht nur, aber vor allem im jüdischen Gedächtnis eine Kaskade kaleidoskopisch fragmentierter, paradoxer Bilder kollektiver Erinnerung aus. Während der Name Bohdan Chmelnyzkyj aufgrund des 1648 erfolgten kosakischen Aufbegehrens gegen die herrschenden polnischen Grundherren mit einem ikonisch gewordenen Blutbad an der jüdischen Bevölkerung verbunden wird, scheint heute der Name Wolodimir Selenskij auf – der jüdische Präsident der kämpfenden Ukraine. Eine solche Konstellation, so scheint es, stürzt die eingeschliffenen, die emblematisch-negativen jüdischen Gedächtnisbilder über die Ukraine um.

Eine jüdisch geeichte Sicht auf die Gewaltgeschichte der Ukraine in der neueren Zeit könnte im Jahre 1821 ihren Ausgang nehmen. Es war das Jahr eines ersten, in Odessa und wesentlich von Griechen an Juden verübten Pogroms. Und es war das Jahr, in dem, von dieser russländischen Stadt ausgehend, die hellenische, die griechisch-nationale, weiter südwestlich gegen die osmanische Herrschaft gerichtete Unabhängigkeitsbewegung ihren Ausgang nahm. Geführt wurde sie von einem griechischen General im Dienste des Zaren – dem Fürsten Alexander Ypsilantis. Odessa selbst wurde zu Ende des 18. Jahrhunderts von Katharina der Großen auf den Trümmern eines tatarischen Ortes errichtet und nach der mythischen Figur des Odysseus benannt. Unter den an den Gestaden des Schwarzen Meeres von einem muslimischen Khanat eroberten Gebieten, unter den in jenem sogenannten »Neurussland« sich ansiedelnden Bevölkerungen, ragten neben Griechen Juden hervor.

Zur Zeit des Fin de Siècle hatte sich Odessa zu einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit und Literatur entwickelt. Die den modernen jüdischen Kanon gestaltenden Autoren verfassten ihre Schriften in jiddischer, hebräischer und russischer Sprache – manche von ihnen in allen drei Idiomen. Zu erwähnen wären der Journalist Ascher Ginsberg (Ahad Ha'am), der Historiker Simon Dubnow, der Dichter Haim Nachman Bialik oder der Politiker und Romancier Wladimir Jabotinsky. Odessa, eine vornehmlich von durch die Französische Revolution in die Emigration vertriebenen Adligen erbaute Stadt, orientierte sich kulturell Richtung Süden und suchte intellektuell Anschluss an die griechische und römische Antike. Dies regte auch die jüdischen Autoren an, sich in national-jüdischer Absicht dem Aufleben einer hebräischen Kultur zu verschreiben.

Demographisch war der Bereich des Schwarzen Meeres griechisch-diasporisches Siedlungsgebiet gewesen. Eine auffällige Anzahl ukrainischer Ortschaften trägt das Zeichen ihrer griechischen Herkunft im Namen. Das Wort von der Polis erschließt sich anhand des Suffix: Sewastopol, Mariupol, Melitupol. Auch andere Städtenamen weisen auf griechische Ursprünge hin. So leitet sich der Name der Stadt Cherson und des sie umgebenden Bezirks Cherson vom griechischen Wort Chersonesos ab. Es bedeutet Halbinsel. Gemeint ist die Krim.

Ihr gewaltsames Ende fand die griechische Präsenz in der Landschaft der südlichen Ukraine während des russischen Bürgerkriegs. Es war im Jahre 1919, als mit der alliierten Intervention hellenische Seestreitkräfte und mitgeführte Truppen gemeinsam mit Briten und Franzosen an der nördlichen Küste des Schwarzen Meeres anlandeten, um in wenig erfolgreiche Kämpfe mit der Roten ukrainischen Armee verwickelt zu werden. Alsbald ließen sie von ihrem Ansinnen ab und bereiteten ihren Rückzug vor. In Panik suchten die inzwischen mit den fremden Interventionstruppen identifizierten ortsansässigen Griechen, so berichtet der Chronist des Bürgerkrieges, Isaak Babel, an Bord der Schiffe zu gelangen, um dem Kessel der Hafenanlagen Odessas zu entkommen. Schauerliche Szenen spielten sich ab, als beim Versuch, auf die sich absetzenden Schiffe zu gelangen, ins Wasser gestürzte Flüchtlinge zwischen Bordwand und Kai gerieten, um dort zu Tode erdrückt zu werden oder elendig im Hafenbecken zu ertrinken.

Schon vor den Ereignissen des russischen Bürgerkriegs war die Gewaltgeschichte der Region in das historische Gedächtnis Europas eingegangen. Der Mitte des 19. Jahrhunderts tobende Krimkrieg – ein aus Osmanischem Reich, Britannien, Frankreich und Piemont-Sardinien geschmiedetes Bündnis kämpfte gegen ein gen Süden strebendes Russland – war der erste wirklich modern ausgetragene Krieg gewesen. Dampfgetriebene metallene Kriegsschiffe, Hinterlader-Gewehre, für den Transport von Truppen und Material angelegte Eisenbahnstrecken, Schützengräben und andere Neuerungen revolutionierten die Kriegskunst. Und auf allen Seiten hinterließ der Krieg Arsenale literarisierter Erinnerung. So ging Alfred Tennysons »The Charge of the Light Brigade« in den schulischen Kanon Britanniens ein – ein Epos, das den Todesmut britischer Kavalleristen besingt, die mit gezogenem Säbel und gesenkter Lanze gegen die Stellungen ohne Unterlass feuernder russischer Artillerie anritten. Damals verfasste Lew Tolstoi seine »Sevastopoler Erzählungen«, die literarische Zeugenschaft seines anfänglichen Enthusiasmus für den Krieg.

Auch Polen und Juden waren an den Kämpfen beteiligt und erinnern sich dieser andächtig. Der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz kämpfte in einer bewaffneten Formation, die den dort eingesetzten französischen Streitkräften beigeordnet war – der »Legion Polski«. Die Polen erstrebten die politische Wiederherstellung ihres untergegangenen, zerteilten Gemeinwesens. Ihr Kampf galt vornehmlich dem autokratischen Russland – dem Gendarmen des reaktionären Europas. Im November 1855 erlag Mickiewicz in einem alliierten Lazarett in Konstantinopel der an der Front wie im Hinterland grassierenden Cholera. Zuvor war es ihm gelungen, eine aus jüdisch-russischen Kriegsgefangenen bestehende militärische Abteilung der »Husaren Israels« aufzustellen, die in die Formation der polnischen Legionäre integriert worden war. Wladimir Jabotinsky, der während des Großen Krieges jüdische Einheiten als Teil der britischen Empirestreitkräfte in der Schlacht von Gallipoli 1915/16 befehligte, pries Mickiewicz als Zionisten »avant la lettre«.

Weiter westlich, im unter russischer Herrschaft stehenden Bessarabien, heute in der postsowjetischen Republik Moldau gelegen, ereignete sich im April 1903 in Kischinew (heute: Chișinău) ein dem jüdischen Gedächtnis ikonisch gewordenes Pogrom. Der an den dortigen Juden geradezu rituell vollzogene Gewaltakt sorgte durch breite Berichterstattung für weltweites Entsetzen. In ein literarisches Emblem kollektiven jüdischen Bewusstseins verwandelte sich jenes Geschehen mittels des damals verfassten Poems des hebräischen Nationaldichters Chaim Nachman Bialik: »al-hashchita« – Auf der Schlachtbank.

Iona Jakir, in eine jüdische Apothekerfamilie in Kischinew geboren, erlebte als Siebenjähriger das Pogrom. Für ihn zog jene Gewaltorgie andere Folgen nach sich. Jakir wurde ein bedeutender Militär. Als Angehöriger der Roten Armee nahm er am russischen Bürgerkrieg teil, war an der Vertreibung der »Weißen« von der Krim unter Baron Pjotr Wrangel und an der Vernichtung der ukrainisch-anarchistischen Bauernarmee unter Nestor Machno beteiligt. 1920 stieg Jakir zum Befehlshaber des Kiewer Militärbezirks auf – ein Bereich, der im Wesentlichen die heutige Ukraine umfasste. Als enger Vertrauter von Michail Frunse, nach Leo Trotzki oberster Befehlshaber der Roten Armee, galt Jakir den Worten des vormaligen Generalfeldmarschalls und damaligen Reichspräsidenten von Hindenburg nach als einer der bedeutendsten militärischen Erneuerer seiner Zeit. Auf ihn geht das von vielen Armeen übernommene Gefecht verbundener Waffen zurück. Vom Reichspräsidenten Ende der 1920er nach Berlin eingeladen, dozierte der fließend Deutsch sprechende Jakir an der damals als Führergehilfenausbildungsstätte getarnten Kriegsakademie der Reichswehr.

Mit Michail Tuchatschewski und anderen hohen Militärs der Roten Armee geriet Jakir in die Mühlen der Tschiska, der Stalin'schen Säuberung, und wurde mit anderen herausragenden militärischen Kadern 1937 hingerichtet. Unterzeichnet wurde das Todesurteil von vier Militärrichtern, zu denen auch Semjon Budjonny gehörte, der Kommandeur der im Bürgerkrieg berühmt gewordenen Roten Reiterarmee. Die war jener Front zugehörig, die im August 1920 auf Betreiben ihres...

Erscheint lt. Verlag 30.10.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Heinrich Heine • Henry Kissinger • Israel • Judentum • Jüdisches Leben • Kibbuz • Nahostkonflikt • Nahostkonflilkt • Neuerscheinungen • neues Buch • Palästina • Sascha Baron-Cohen
ISBN-10 3-633-77482-3 / 3633774823
ISBN-13 978-3-633-77482-1 / 9783633774821
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