Schachgeschichten (eBook)
288 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46372-7 (ISBN)
Frederic Friedel, geboren 1945, hat Philosophie, Wissenschaftstheorie und Linguistik in Hamburg und Oxford sytudiert. Bekannt geworden ist er als Schach-Experte und hat die Entwicklung von Schach-Computern von Anfang an mit Fernsehsendungen zum Thema sowie mit einer Schach-Zeitschrift begleitet. 1987 war er Mitgründer des Unternehmens ChessBase, die heute zu den weltweit wichtigsten Herstellern von Schach-Software zählt. 1997 war Friedel Mitglied im Team von Garri Kasparow bei dessen Wettkampf gegen den von IBM entwickelten Schach-Computer Deep Blue. Heute ist Friedel eine graue Eminenz in der internationalen Schachwelt. Er ist mit vielen Großmeistern und Weltmeistern befreundet, u.a. mit dem amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen und dessen Vorgänger Viswanathan Anand.
Frederic Friedel, geboren 1945, hat Philosophie, Wissenschaftstheorie und Linguistik in Hamburg und Oxford sytudiert. Bekannt geworden ist er als Schach-Experte und hat die Entwicklung von Schach-Computern von Anfang an mit Fernsehsendungen zum Thema sowie mit einer Schach-Zeitschrift begleitet. 1987 war er Mitgründer des Unternehmens ChessBase, die heute zu den weltweit wichtigsten Herstellern von Schach-Software zählt. 1997 war Friedel Mitglied im Team von Garri Kasparow bei dessen Wettkampf gegen den von IBM entwickelten Schach-Computer Deep Blue. Heute ist Friedel eine graue Eminenz in der internationalen Schachwelt. Er ist mit vielen Großmeistern und Weltmeistern befreundet, u.a. mit dem amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen und dessen Vorgänger Viswanathan Anand. Christian Hesse, geboren 1960, ist Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart. 2010 beriet er das Bundesverfassungsgericht als Sachverständiger zum Thema »Wahlmathematische Aspekte des Bundeswahlgesetzes«. Bekannt wurde Hesse als Autor populärer Sachbücher über Mathematik und Schach, u.a. Von Glückszahl bis Geheimzahl (Droemer 2020, gemeinsam mit Karsten Schwanke), Alles kein Zufall! (Droemer 2021) und zuletzt Schachgeschichten (Droemer 2022, gemeinsam mit Frederic Friedel).
Mikhail Botwinnik – der Beginn des Computerzeitalters
© picture alliance/Sven Simon
Im Jahr 1979 war ich als frischgebackener Wissenschaftsjournalist an einer Dokumentarsendung des ZDF beteiligt, die zeigte, dass Computer inzwischen Schach spielen konnten. Als Teil des Projekts reiste ich zuerst nach Chicago, wo das damals fortschrittlichste Schachprogramm entwickelt wurde, und von dort nach Russland, um einen legendären Weltmeister zu interviewen. Mikhail Botwinnik war dabei, eine alternative Strategie zum Brute-Force-Ansatz zu entwickeln, den andere Teams bei der Schachprogrammierung verfolgt hatten.
Ich kam mitten im Winter in Moskau an und besuchte Botwinnik in seiner Wohnung. Das Zimmer, in dem wir saßen, hatte einen gemütlichen Kamin. Eine Decke und Kissen lagen daneben. Irgendwann wollte Botwinnik mir etwas zeigen, und ich folgte ihm in den angrenzenden Raum. Dort war es eiskalt, so kalt, dass ich dachte, es müsste unter null Grad herrschen. Aber flüssiges Wasser in einem Glas zeigte mir, dass das nicht stimmen konnte. Botwinnik sah mich zittern und meinte: »Wir haben nur Kohle für ein Zimmer.« Dabei war er ein privilegierter Bürger. Seine Wohnung hatte immerhin zwei Zimmer.
So führte ich mit ihm ein Interview über Computerschach, das später im deutschen Fernsehen gezeigt wurde. Nachdem wir fertig waren, saßen wir noch einige Stunden zusammen und diskutierten über Schach im Allgemeinen. Er erzählte mir Geschichten, und ich lauschte gebannt seinen Erzählungen über Lasker, Capablanca, Aljechin und die anderen großen Meister, gegen die er gespielt (und gesiegt) hatte. Dabei verfluchte ich meinen Kameramann dafür, dass er nach dem Interview das Gerät ausgeschaltet und diese unschätzbar wertvollen Erzählungen nicht aufgezeichnet hatte. Aber es war zu teuer. Damals haben wir noch mit Zelluloid gearbeitet.
Auf jeden Fall wurden Mikhail und ich lebenslange Freunde und trafen uns regelmäßig bei Veranstaltungen und Turnieren, bei denen er Ehrengast war. Eine unserer Begegnungen möchte ich im Detail beschreiben. Aber dafür bedarf es ein bisschen der Vorgeschichte.
Ken Thompson ist ein Computerwissenschaftler, der ein Jahrzehnt zuvor bei den New Jersey Bell Laboratories Unix und die Computersprache C entwickelt hatte. Ende der 1970er-Jahre baute er dann die weltweit erste richtige Schachmaschine. Dabei handelte es sich um einen Computer in Kühlschrankgröße, dessen Platinen noch von Hand verdrahtet worden waren. Diese Maschine konnte nur Schach spielen, war aber in der Lage, Züge schneller zu berechnen als alle Großrechner der damaligen Zeit. Belle war die erste Maschine, die im Schach Meisterniveau (USCF-Wertung 2250) erreichte und fünfmal die ACM gewann, die Nordamerikanische Computerschachmeisterschaft.
Dieser Erfolg zog die Aufmerksamkeit des Russischen Schachverbandes auf sich. Die Sowjetunion hatte das Schachspiel damals bereits jahrzehntelang dominiert. Sie hatte die stärksten Spieler – mit Ausnahme von Bobby Fischer. Der russische Staat unterstützte den Verband mit den neuesten Trainingsmethoden, Teams von Großmeistern, Bibliotheken voll mit Büchern und einer riesigen Sammlung von Schachpartien.
Die Russen hatten auch begonnen, sich mit Computerschach zu beschäftigen. Ihr Brute-Force-Programm Kaissa gewann 1974 die erste Computerschach-Weltmeisterschaft. Der Titel wurde ihnen anschließend 1977 von einem riesigen amerikanischen Mainframe-Programm namens Chess 4.6 abgenommen, das wiederum 1980 von Kens Belle besiegt wurde.
Man war ziemlich unglücklich darüber, in dieser Disziplin vom Westen überholt zu werden, und suchte nach Alternativen. Da kam Mikhail Botwinnik ins Spiel. Er war von Beruf Elektroingenieur und hatte versucht, einen Weg zu finden, die sowjetische Wirtschaft mithilfe künstlicher Intelligenz zu steuern. Irgendwann begann er zusammen mit einem Team von Informatikern, ein hoch selektives Schachprogramm zu entwerfen, das allgemeine Prinzipien (und sein eigenes Schachverständnis) nutzte, um die Baumsuche in ihrem Programm drastisch zu beschneiden.
Zurück zu unserer Geschichte. 1982 luden der sowjetische Schachverband und Botwinnik Ken ein, seine Maschine in Moskau vorzuführen. Als Freund von Ken und Botwinnik wurde auch ich eingeladen.
Bevor Ken aus New Jersey und ich aus Hamburg getrennt nach Moskau flogen, habe ich versucht, unseren Aufenthalt dort zu koordinieren. Wir würden im selben Hotel übernachten. Für den Fall, dass einer von uns woanders einquartiert werden würde, sollte Ken seine neue Adresse im ursprünglichen Hotel hinterlassen. Wenn wirklich alles schiefginge, sollte er am nächsten Morgen um zehn Uhr auf den zentralen Roten Platz gehen und dort vor einer Kathedrale warten, die wie eine Hochzeitstorte aussieht. Dort würde ich ihn treffen.
Nun ging in der Tat alles schief, und bei meiner Ankunft konnte ich Ken nicht in unserem Hotel finden. Das Personal kannte keinen Ken Thompson (und interessierte sich nicht dafür).
Am nächsten Morgen sagte ich meinem Intourist-Begleiter, dass ich zum Roten Platz gehen würde, um einen Freund zu treffen. Darauf sagte er: »Nein, das werden Sie nicht tun.« Ich war schockiert: »Ich bin Gast des Sowjetischen Schachverbandes. Ich kann, denke ich, gehen, wohin ich will. Niemand hat gesagt, dass es Einschränkungen gibt.«
Der Mann blieb unerbittlich: »Sie gehen nicht dorthin! Heute ist Gitler Kaput. Es werden eine Million Menschen auf dem Roten Platz sein.« »Hitler kaputt« nennen die Moskauer die jährliche Feier des Sieges über Deutschland im Zweiten Weltkrieg am 9. Mai. Der Rote Platz ist dann gefüllt mit Tausenden von Menschen, und es findet eine riesige Militärparade statt. Natürlich musste ich meinen Plan aufgeben.
Was tun? Ich versuchte, Botwinnik anzurufen, aber es antwortete eine Dame, die kein Englisch sprach. Also bat ich meinen Guide, für mich anzurufen. »Sie wollen, dass ich mit großem Champion Mikhail Botwinnik telefoniere?«, fragte er ungläubig. Ich überzeugte ihn davon, dass es in Ordnung sei, weil wir Freunde waren. Er meinte, er würde es tun, aber er müsse dazu Botwinniks otchestvo kennen. Seinen was? »Wie heißt sein Vater?«, fragte er zur Klarstellung. »Das weiß ich nicht«, sagte ich ungeduldig. »Rufen Sie ihn einfach an, bitte!«
Aber mein Guide war unnachgiebig. Er ging tatsächlich die Straße hinunter zu einem Buchladen und kam triumphierend mit der Information zurück, die er brauchte, um den Anruf tätigen zu können: Moissei. Ohne das könne er nicht mit Botwinnik sprechen. Es wäre zu unhöflich gewesen, ihn mit »Herr Botwinnik« anzusprechen.
So funktionierte das System: War man aus dem Westen, konnte man ihn Mr Botwinnik nennen. Aber als Russe musste man unbedingt Mikhail Moissejewitsch sagen. In Russland wäre ich Frederic Aloisowitsch.
Am Ende gelang es mir, Botwinnik und mit seiner Hilfe endlich auch Ken zu erreichen. Beide befanden sich im Krisenmodus. Der Computer Belle, der in den Vorträgen und Diskussionen die zentrale Rolle spielen sollte, war im Flugzeug aus den USA nicht aufzufinden. Ken hatte ihn in der Frachtabteilung des JFK-Flughafens von New York aufgegeben, aber Belle hatte es nicht bis nach Russland geschafft. Mikhail selbst war in den Laderaum des Flugzeugs geklettert, um absolut sicherzugehen.
Ken erzählte die Geschichte u.a. in einem Interview, das im Mai 2019 aufgezeichnet wurde. Scannen Sie mit Ihrem Mobiltelefon den QR-Code, um es anzusehen. Es gibt Ihnen einen Eindruck davon, wie interessant Ken ist, was er alles erlebt hat und wie er über diese Abschnitte aus seinem Leben spricht.
Aus Moskau haben wir dann Bell Labs und Joe Condon angerufen, den Co-Konstrukteur von Belle. So funktionierte das: Das Hotel teilte uns mit, dass es bis zu drei Stunden dauern würde und wir in Kens Zimmer warten sollten. Am Ende dauerte es vier Stunden. Währenddessen riefen sie alle fünfzehn Minuten an, um sicherzustellen, dass wir noch da waren. Am anderen Ende wachte Joe auf, ging im Pyjama in seine Küche, drückte ein Dutzend Nummern und konnte sofort mit uns sprechen. Es stellte sich heraus, dass die US-Behörden Belle am Flughafen beschlagnahmt hatten, weil der Export bestimmter Technologien nach Russland strengstens verboten war. Ken könnte bei seiner Rückkehr verhaftet werden.
Daraus ergab sich das Problem, dass uns in Moskau kein Schach spielender Computer zur Verfügung stand. Wir wurden in die Zentrale des sowjetischen Schachverbandes bestellt, wo uns dessen Präsident mit sehr ernstem Gesicht empfing. Nikolai Wladimirowitsch Krogius war ein berühmter Großmeister, der Spasski 1972 bei seinem Wettkampf gegen Bobby Fischer assistierte. Er erklärte uns, das Fehlen des Computers sei eine Katastrophe: »Können Sie sich vorstellen, was die sowjetische Presse daraus machen wird?«, sagte Krogius. »Ruhollah Khomeini hat Schach im Iran verboten. Versucht Ronald Reagan, dasselbe in Amerika zu tun?« Ken zuckte mit den Schultern. Krogius wollte darüber hinaus wissen, ob Belle tatsächlich für militärische Zwecke verwendet werden könnte. (Nach Kens Rückkehr in die USA stellte die Washington Post dieselbe Frage.) Kens Antwort: »Nun, man könnte vielleicht ein paar Leute töten, wenn man sie aus einem...
Erscheint lt. Verlag | 4.10.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | bobby fisher • Boris Spasski • ChessBase • Damengambit • Deep Blue • Enigma • Garri Kasparow • Geburtstagsproblem • Glücksspiel • Großmeister • Kalter Krieg • Knobelei • Magnus Carlsen • Rätsel • Schach • Schachbrett • Schachcomputer • Schachfigur • Schachfiguren • Schachkonzepte • Schachkultur • Schachlegende • Schach matt • Schacholympiade • Schachpartie • Schachprobleme • Schachrätsel • Schachspiel • Schach und Mathematik • Schachweltmeister • Schachzüge • Verschlüsselung • Wahrscheinlichkeit • Zufall • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-426-46372-5 / 3426463725 |
ISBN-13 | 978-3-426-46372-7 / 9783426463727 |
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