Cohabitation

Cohabitation

Buch | Softcover
216 Seiten | Ausstattung: Druckwerk
2022
Arch+ (Verlag)
978-3-931435-70-7 (ISBN)
24,00 inkl. MwSt

1Grußwort
Hortensia Völckers

4Editorial
Christian Hiller, Alex Nehmer, Anh-Linh Ngo und Peter Spillmann

16Manifest
Solidarität ist die Zärtlichkeit der Spezies
Cohabitation ihre gelebte Erkundung
Fahim Amir

24Taubentürme und Trampelpfade
Marion von Osten

28Exponat: Candida Höfer

32ANTHROPOCITY

34Exponat: Daniel Poller

42(Co)Habitation: Eine historische Perspektive
Dorothee Brantz

48Projekt: Daniel Poller

50Exponat: TD – The Department

58Architektur und Gewalt im Mäusebunker
Cord Riechelmann

60 Exponat: station+ / D-ARCH, ETH Zürich

62Exponat: Ines Doujak

64„Behinderung kann Empathie und Solidarität über alle Unterschiede – auch über Artengrenzen – hinweg ermöglichen“
Sunaura Taylor im Gespräch mit Alex Nehmer

70Anthropocity-Vertiefung

76Exponat: Sammy Baloji

80Exponat: Babi thinkers

82ECOCITY

84Exponat: Finn Rabbitt Dove

86„Das Aquarium legt unsere Beziehung zur nicht-menschlichen Welt offen“
Carson Chan im Gespräch mit Anh-Linh Ngo und Alex Nehmer

88Exponat: Daniela Kinateder

92Exponat: Professur R+E, KIT & Carson Chan

94Exponat: Ben Rivers

96 Rechte Umweltpolitiken
Amanda Machin und Özgür Özvatan im Gespräch mit Alex Nehmer

102Exponat: Cyprien Gaillard

104„Umwelt als politisches Instrument begreifen“
Hanna Rullmann im Gespräch mit Alex Nehmer

108Spekulative Ökologien
Sandra Jasper

114Exponat: Yan Wang Preston

120Architektur als Co-Produktion von Mensch und Baum – Die Erprobung einer neuen Solidargemeinschaft in der Baubotanik
OLA – Office for Living Architecture

126Ecocity-Vertiefung

132Dolphin Embassy
Chip Lord, Curtis Schreier und Benjamin Foerster-Baldenius im Gespräch mit Christian Hiller

142Exponat: Kolbeinn Hugi

144ZOOPOLIS

146Exponat: Ann Sophie Lindström

152Exponat: Krõõt Juurak & Alex Bailey

154Dem namenlosen Leben die Tür öffnen – Wege zu einer Animalesque City
Emanuele Coccia

158Exponat: Animalesque

160Exponat: Urban Fauna Lab

164Projekt: Ayham Majid Agha

166„Taubenzüchter und Tauben sind beide Architekten“
Maissa Maatouk im Gespräch mit Christian Hiller und Alex Nehmer

172Projekt: Marcus Maeder

174Exponat: Animali Domestici

178Exponat: Moritz Ahlert & Alsino Skowronnek

186„Stadt mit Bewusstsein für Cohabitation planen?“
Gespräch mit Beate Witzel, Carsten Kallasch, Frauke Gerstenberg und Peter Spillmann

190Projekt: Labor k3000

192Zoopolis-Vertiefung

198Stadtnatur verhandelbar machen
Thomas E. Hauck im Gespräch mit Marion von Osten

204Exponat: Marc Frohn, Thomas E. Hauck, Zoë Mc Pherson

208 Projekt: Club Real

212Beteiligte

216Impressum

ARCH+ features 108:
Architectures of Cohabitation

Team dieser Ausgabe: Nora Dünser (CvD), Franziska Gödicke (FG), Christian Hiller (CH), Felix Hofmann (FH), Max Kaldenhoff, (Kreativleitung), Markus Krieger, Alex Nehmer (AN, Projektleitung), Anh-Linh Ngo (Redaktionsleitung), Peter Spillmann (PS, Gastredakteur), Jakob Walter

Exponattexte: CH, FH, AN, PS; Vertiefungen: FH, AN

Coverbild: © Ann Sophie Lindström, Don't fence me in (2014)

COHABITATION EIN MANIFEST FÜR SOLIDARITÄT VON TIEREN 
UND MENSCHEN IM STADTRAUM Christian Hiller, Alex Nehmer, 
Anh-Linh Ngo und Peter Spillmann Städte gehörten nie allein den Menschen. 
Auch Tiere waren schon immer Stadtbewohner. 
Parks, Friedhöfe, Brachen, überwachsene 
Bauruinen, Baustellen und die buchstäblich vielschichtige Stadtarchitektur selbst bieten 
vielen Spezies gute Lebensbedingungen. Aktuell nimmt die Migration von Tieren in die Städte weltweit zu. Ein Grund ist, dass das Nahrungs-angebot dort oft besser ist als auf dem Land, 
das zunehmend durch die Monokulturen 
der Agrarindustrie geformt wird. Gleichzeitig ver-ursacht die Ver-städterung seit Beginn 
der Moderne einen Großteil des Ressourcen- 
und Flächenverbrauchs, der wesentlich zu 
Klimaerhitzung und Artensterben beiträgt. 
Bei der Suche nach Auswegen aus der 
ökologischen Krise kommen wir daher an der zentralen und gleichzeitig ambivalenten Rolle von Städten nicht vorbei. Vertreter*innen der Stadtökologie, der 
Umweltbewegung und der Animal Studies 
befassen sich seit den 1970er- und 80er-Jahren 
mit Tieren als Stadtbewohnern und fragen 
dabei auch nach deren Handlungsmacht. 
In der Architektur und Stadtplanung wird 
dies bislang nur zögerlich diskutiert, sahen sich 
beide doch seit der Moderne in Opposition zur Natur. Zwar hat auch in den planerischen 
Disziplinen ein ökologisches Umdenken 
stattgefunden, doch der entscheidende Schritt, 
den urbanen Raum auch als Habitat anderer Spezies anzuerkennen, steht noch aus. Es 
ist an der Zeit, nicht-menschliche Spezies als 
Stadtakteure anzuerkennen und daraus 
neue Ansätze für die Gestaltungspraxis und Raumproduktion zu entwickeln. Diesen Perspektivwechsel versuchte das Projekt Cohabitation, in dessen Zentrum 
die Ausstellung Cohabitation: Ein Manifest
für Solidarität von Tieren und Menschen im 
Stadtraum stand, die vom 5. Juni bis 4. Juli 2021 im silent green Kulturquartier in Berlin gezeigt wurde. Dieses Heft versammelt Beiträge der Ausstellung und aus dem daran anknüpfenden Veranstaltungsprogramm und macht deutlich, dass es bei diesem Perspektivwechsel um 
zentrale gesellschaftspolitische Fragen geht. Denn wie nicht zuletzt die Coronapandemie drastisch vor Augen führt, hängt die Gesundheit des Menschen von den Lebensbedingungen 
anderer Lebewesen ab. Das Streben der Moderne nach 
„gesellschaftlicher Homo-genität und Eindeutigkeit“ (Clemens Wischermann) führte nicht
nur zur Segregation und Abwertung des „Natürlichen“, sondern auch menschlicher „Anderer“. Nicht ohne Grund bringt die Plünderung der Natur globale Ausbeutungsketten und 
Ungerechtigkeit unter Tieren wie Menschen 
hervor. Das Mensch-Tier-Verhältnis neu 
zu denken bedeutet daher auch, Klassen- und 
Geschlechterverhältnisse sowie Rassismen 
in den Blick zu nehmen. Erst dann können wir
von Grund auf neue Formen des solidarischen Zusammenlebens in zukünftigen Stadt-gesellschaften gestalten und den Planeten als gemeinschaftliches Habitat von Menschen, Tieren und Pflanzen bewahren. Architektur und Stadtplanung haben bislang nicht-menschlichen Spezies nicht nur wenig Beachtung geschenkt, sondern auch als Hindernisse für Bauprojekte wahrgenommen. Die bildende Kunst hingegen kann auf eine längere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mensch und Tier zurückblicken. Eine zentrale Vermittlerrolle im Projekt Cohabitation kam deshalb künstlerischen Ansätzen zu, die neue Denkmodelle und konkrete Zukunftsentwürfe für unsere Städte liefern können. Wie bereits die Ausstellung fächert auch diese Ausgabe die Frage des urbanen Mensch-Tier-Verhältnisses anhand von drei Perspektiven auf. Sie weisen den 
Weg von der anthropozentrischen Stadt in die künftige Zoopolis. Anthropocity Hygienediskurs und Wohnreform am Ende des 19. Jahrhunderts beendeten den engen Zusammenhang zwischen arbeitenden 
Menschen und Tieren in den Städten. Die Abhängigkeits- und Ausbeutungs­verhältnisse zwischen Menschen und Tieren wurden durch räumliche Trennung zunehmend verschleiert: Massentier­haltung und Schlachtfabriken zur Versorgung der explodierenden städtischen Bevölkerung wurden an die Peripherie verlagert. Die bürgerliche Familie entstand, und mit ihr die Praxis der Haustierhaltung, die eine bis heute gültige Hierarchie etablierte – vom gehegten Heimtier über das Nutztier als Ware bis zum Wildtier als Repräsentanten der ungezähmten Natur. Das städtische Wildtier fiel dabei durchs Raster, galt manchen gar als „entartet“. Die Stadt neu 
zu denken bedeutet, ihre anthropozentrische Konzeption zu über­-
winden. Ecocity Die Ökologiebewegung half dabei, den Gegensatz zwischen Stadt und Natur aufzubrechen. So etablierte die in den 1960er-/70er-Jahren entstandene Stadtökologie die Anerkennung der Stadtnatur als neue Kategorie. Mit dem Wissen um ökologische Zusammenhänge wuchs jedoch auch das Streben, diese zu kontrollieren. Die Vision künstlich herstellbarer Umwelten und kontrollierbarer Ökosysteme prägt bis heute unsere Vorstellung von der technischen Beherrschbarkeit der Klimakrise. Darüber hinaus dient die Instrumentalisierung und 

Kapitalisierung von Natur seit Beginn des Kolonialismus auch der Ausübung von Macht über Menschen, die als „Andere“ markiert werden. Ein aktuelles Beispiel ist die Vereinnahmung des Naturschutzes durch rechte politische Akteur*innen, die das Leben von Tieren gegen jenes rassifizierter Menschen ausspielen. Eine wahrhaft ökologische Stadt muss daher auch an der Machtfrage – sowohl jene zwischen den Menschen als auch zwischen den Arten – ansetzen, anstatt lediglich die bestehenden Hierarchien mit einem grünen Schleier zu kaschieren. Zoopolis Der Mensch konnte sich nur in der wechselseitigen Beziehung zu anderen Spezies entwickeln. Für diese Erkenntnis haben Theoretiker*innen wie Donna Haraway und Anna Lowenhaupt Tsing in den letzten Jahrzehnten ein neues Bewusstsein geschaffen. Erkennen wir unsere Abhängigkeiten an, brauchen wir neue Politikmodelle, die den Menschen nicht mehr über alle anderen stellen, sondern die Bedürfnisse anderer Lebewesen einbeziehen und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Was das für den städtischen Raum bedeuten könnte, 
wurde bisher nur wenig reflektiert und noch seltener praktisch erprobt. Dabei könnte die Anerkennung nicht-menschlicher Lebewesen als Akteure, die die Stadt aktiv mitgestalten, neue Möglichkeiten eröffnen, Lebensraum jenseits von purer Verwertung, Spekulation und von Nützlichkeitsdenken zu gestalten: als einen Inter-Spezies-Raum, der die gegenseitige Abhängigkeit von Menschen, Tieren und Pflanzen berücksichtigt und dadurch eine erweiterte Idee von Gesellschaft und lebenswertere Städte für alle ermöglicht. Dank Marion von Osten hat das Projekt initiiert und die Konzeption noch mit uns erarbeitet, bevor sie im November 2020 starb. Mit ihrer Fähigkeit, transversal zu denken, Menschen zusammenzubringen und Disziplingrenzen zu überschreiten hat sie Generationen von Studierenden sowie eine Vielzahl an Kooperationspartner*innen und Wegbegleiter*innen inspiriert. Dafür behalten wir sie in liebevoller Erinnerung und unsere intellektuelle Bewunderung wird bestehen bleiben. Das Projekt Cohabitation und diese ARCH+ Ausgabe sind ihr gewidmet. Der Kulturstiftung des Bundes danken wir für die Förderung des Projekts sowie für das Vertrauen, das uns unter den schwierigen Bedingungen der Pandemie angespornt hat. Dank gilt auch der Bundeszentrale für politische Bildung, die die Stadterkundungen und damit das Aufzeigen von realen Räumen der Cohabitation ermöglicht hat. Besonderen Dank möchten wir auch der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa aus-sprechen, die das umfangreiche Veranstaltungs-programm Cohabitation Diskurs: Zoopolis Berlin förderte. Und nicht zuletzt sind wir allen Beitragenden der Ausstellung und der Veranstaltungen sowie allen Kooperationspartner*innen, insbesondere Bettina Ellerkamp, Jörg Heitmann und Linda Winkler / silent green Kulturquartier, 
Rainer Hauswirth / Goethe-Institut Côte d’Ivoire, Ivana Marjanovi´c / Kunstraum Innsbruck, 
Mira Witte / Museum für Naturkunde Berlin und Katja Aßmann / Spreepark Art Space / Grün 
Berlin, sowie den Mitwirkenden, besonders 
Franziska Zahl (Produktionsleitung), 
Felix Hofmann (kuratorische Assistenz), 
Jakob Walter (Produktion Veranstaltungs-programm und Podcast), Barbara Schindler 
(Kommunikation) und Oliver Klimpel und 
Till Sperrle (Ausstellungsgestaltung) zu großem Dank verpflichtet. Ihre Beiträge haben das 
Thema erst zum Leben erweckt. Danken 
möchten wir auch dem ARCH+ Team, allen 
voran Nora Dünser und Max Kaldenhoff, 
Franziska Gödicke und Markus Krieger. Das Thema Cohabitation wird weitergeführt: Der Kunstraum Innsbruck hat das Projekt 
mit zwei Ausstellungen begleitet. Nach 
Cohabitation: Raum für alle Arten im Frühjahr 2021, findet vom 4. Juni bis 27. August 2022 
die Folgeausstellung Cohabitation: Zoopolis 
in Innsbruck statt. Im Schau Fenster, Berlin, wird vom 7. Mai bis 5. Juni 2022 die Ausstellung Architectures of Cohabitation gezeigt, die vom Hauptstadtkulturfonds gefördert wird. Dank der Förderung können wir die gewonnenen Erkenntnisse in 
konkrete architektonische Ansätze übertragen. In Zusammenarbeit mit Benjamin Foerster-Baldenius, der die neu geschaffene Professur für Cohabitation an der Städelschule übernommen hat, findet 
am 7. Mai 2022 das Symposium Architectures of Cohabitation in der Floating University in Berlin statt. Architectures of Cohabitation
steht auch im Zentrum des ARCH+ features 
dieser Ausgabe.

Anthropocity Die Städte, in denen wir leben, wurden auf den Körpern von Tieren errichtet. Bis ins 19. Jahrhundert gehörten Nutztiere wie Pferde, Kühe, Schweine, Schafe und Hühner selbstverständlich ins Stadtbild. Mit der Industrialisierung verloren sie ihre Funktion als organische Energiequelle, als Nahrungsressource für die exponentiell wachsende Stadtbevölkerung wurden sie hingegen immer wichtiger. Das hier versammelte Recherchematerial zeichnet die Entwicklung der Schlachthöfe und ihre enge Verflechtung mit der Stadt im Zusammenhang mit dem aufkommenden Hygienediskurs nach. Mit ihrer Verdrängung zunächst an die Stadtränder und schließlich in die globale logistische Landschaft wurden Nutztiere und die Abhängigkeit des Menschen von ihnen zunehmend unsichtbar. In diesem Prozess hat die Fleischindustrie nicht nur Tiere zur Massenware gemacht, sondern die Produktionsweisen, Transporttechnologien und globalen Handelsnetzwerke des Industriekapitalismus maßgeblich mithervorgebracht. Zu einem hohen Preis: Die Ausbeutung von Tieren geht nicht nur mit sozialen, sondern auch mit ökologischen Verwüstungen einher. Zentralisierung Bis ins 19. Jahrhundert wurden Nutztiere durch Europas Städte zu zentralen Viehmärkten getrieben (1) und von dort auf viele kleine Privatschlachtereien verteilt (2); das Schlachten war damit allgegenwärtig. Dies änderte sich mit dem Hygienediskurs ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (3). Mit dem „Schlachthauszwang“ wurde diese Praxis verboten. Stattdessen wurden kommunale Zentralschlachthöfe an den Stadträndern errichtet (4, 5). Sie waren infrastrukturelle Prestigeprojekte, mit denen die Kommunen ihre Fortschrittlichkeit unter Beweis stellten (6). Erweitert um Viehmärkte, Verwaltungsgebäude, Börsen, Gaststätten, Zulieferbetriebe, mit eigener Anbindung an den Eisenbahnverkehr für den Viehtransport und teils autonomer Wasser- und Stromversorgung, wuchsen sie zu ganzen Stadtvierteln an. Schlachthaus-Typologien Schlachthaus-Typologien entspringen vor allem der Organisation der Schlachtarbeit. Im Kammersystem wurde das Schlachterhandwerk nach Art der Manufaktur an einem Ort zentralisiert, wo die Fleischer sich eigene Arbeitsräume anmieteten (7). Im Hallensystem wurde in einer großen offenen Halle gemeinschaftlich geschlachtet (8). Der Schlachthausreformer Benjamin Ward Richardson versuchte, dem 
Tierwohl gerecht zu werden, indem er die Betäubung und die Schlachtung in getrennten Räumen vorsah, damit die Tiere die Tötung ihrer Artgenossen nicht miterlebten (9). Um Stress vor der Schlachtung zu reduzieren, konzipierte Temple Grandin ab den 1970er-Jahren Schlachtanlagen, die das Verhalten und die Wahrnehmung der Tiere berücksichtigten, und bezog dabei ihre eigenen Erfahrungen als Autistin ein (10). Industrielle Schlachtung In den USA ging die Zentralisierung des Schlachtens von der Privatwirtschaft aus. Die 1864 von einem Konsortium aus neun Eisenbahngesellschaften gegründeten Union Stock Yards in Chicago entwickelten sich in kurzer Zeit zum größten Schlachtbetrieb der Welt – mit an die 400 Millionen Schlachtungen bis zur Jahrhundertwende (11, 12). Ermöglicht wurde dies durch die 1862 als Disassembly Line in Cincinnati eingeführte Fließbandabfertigung, die Henry Ford 1913 als Assembly Line auf die Autoindustrie übertrug (13). Die mechanisierte und arbeitsteilige Zerlegung von Tierkörpern verdrängte Facharbeiter*innen zugunsten billiger, ungelernter Arbeitskräfte. Rekrutiert aus den Massen der Einwanderer*innen aus Deutschland, Irland oder Osteuropa sowie ehemaligen Sklav*innen aus den Südstaaten, siedelten sich diese unter slumartigen Bedingungen um die Stock Yards an 
(14, 15). Von der Schiene auf die Straße Die Stock Yards prägten nicht nur die Stadtentwicklung 
Chicagos, sondern griffen auch weit in das Umland aus (16). Entlang des sich ausbreitenden Schienennetzwerks wurde der Mittlere Westen der USA mithilfe der von den Siedler*innen nach Amerika eingeführten Rinder und Getreidearten zum agrikulturellen Hinterland Chicagos umgeformt (17). Die ursprünglich hier beheimateten Bisons wurden im Zuge dieser Expansion nahezu ausgerottet (18). 

Der indigenen Bevölkerung wurde damit die Lebensgrundlage entzogen. Mithilfe von Eisenbahn-Kühlwagen und Kühlschiffen, deren Entwicklung die Fleischindustrie maßgeblich vorantrieb, wurden die in Chicago produzierten Fleischwaren ab den 1870er-Jahren in die ganze Welt exportiert (19). Nach dem Zweiten Weltkrieg wechselte der Transport von der Schiene auf die Straße (20). Die Schlachtbetriebe wanderten in die Zentren der Viehmast jenseits der Städte ab. Die auf die Fleischproduktion ausgerichteten Stadtteile und Infrastrukturen verfielen. Globale Produktionsketten Die Fleischindustrie wurde immer weiter technisiert (21). Großschlachtbetriebe sowie die Liberalisierung des Weltagrarhandels führten seit den 1970er-Jahren zu einer enormen Produktions-steigerung. Weltweit werden heute rund 80 Milliarden Tiere pro Jahr für den Fleischkonsum geschlachtet. Mit drastischen sozialen und ökologischen Folgen: Arbeiter*innen in der Fleischindustrie, viele von ihnen Migrant*innen, sind ausbeuterischen Arbeits- und Lebensverhältnissen ausgesetzt (22). 
Die Viehzucht ist für rund 20 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Über 70 Prozent der weltweiten Ackerflächen werden, meist in Monokulturen und unter massivem Einsatz von 
Pestiziden, für die Produktion von Viehfutter verwendet (23, 24). 
Die Lebensräume und -grundlagen von Menschen und Wildtieren, vor 
allem im Globalen Süden, werden dafür zerstört (25, 26). 1Smithfield Market, London, hand-kolorierte Radierung und Aquatinta: Richard Gilson Reeve nach James Pollard, 1831. 
© The Trustees of the British Museum
 2Fleischerei J. Morgan, Waterford, 
Irland, Foto: A. H. Poole Studio Photographer, 1916. © National Library of Ireland
 3Für Fleischbeschauer im Herzogtum Braunschweig angefertigte Zeichnung von Trichinen, um 1906. © Historisches Museum Hellental, Foto: Klaus A. E. Weber 
 4Anderlecht Abattoir Brüssel, Eckert 
& Pflug, um 1910 5Zentralviehhof Berlin, Foto: Max 
Missmann, 1896
 6Börse des Zentralviehhofs Berlin, aus: Architekten-Verein zu Berlin (Hg.): Berlin und seine Bauten, Berlin 1896
 7Schlachtung im Kammersystem – 
Central-Schlacht- und Viehmarkt Wien, Holzstich nach Franz Kollarz, 1882 
 8Schlachtung im Hallensystem – Les Abattoirs de La Villette Paris, Holzstich: 
Smeeton & Tilly, um 1870

 9Schlachthausentwurf von Benjamin Ward Richardson, veröffentlicht 1908
 10Temple Grandin: Serpentinenrampe für einen Schlachthof, erstmals 1974 entworfen
 11Gesamtansicht der Chicago Union Stock Yards, Sanborn-Perris Map Co. Ltd., 1901
 12Chicago Union Stock Yards, Postkarte, um 1940
 13Schweineschlachtung auf der Disassembly Line in Cincinnati, Chromo-lithografie (Ausschnitt) nach einem Original von Henry Farny, 1873
 14Fotodokumentation der Wohnbedingungen um die Stock Yards, aus: Robert Hunter: Tenement Conditions in Chicago, 1901
 15Upton Sinclair: The Jungle, New York 1906
 16William Cronon: Nature’s Metropolis – Chicago and the Great West, New York 1991
 17Food Source Map des Fleischgroßunternehmens Armour & Co., Lithografie: Joseph Pennell, Chicago 1922
 18Bisonjagd auf der Kansas Pacific Railroad Linie, aus: Frank Leslie’s Illustrated Newspaper, 1871
 19Kühlschiff zum Fleischtransport, aus: Antonin Rolet: Les conserves de légumes de viandes des produits de la basse-cour et de la laiterie, Paris 1913 
20Omaha Union Stock Yards zu Beginn der Verlagerung des Viehtransports von der Schiene auf die Straße, Foto: Earle Bunler, 1943
 21Ausschnitt aus Theo Deutinger: Handbook of Tyranny, Lars Müller Publishers, 2018
 22Wohnbedingungen von Werkvertragsarbeiter*innen der Fleischindustrie in Deutschland, Foto unten: Villegas 
23Luftaufnahme einer großen Rinderfarm in Süd-Alberta, USA, 2014
 24Sojabohnenernte in Brasilien, 2010. 
© Paulo Fridman / Corbis 
25Nutz- und Wildtierzahlen im Vergleich.
 © The Guardian, 2018
 26Rob Wallace: Was COVID-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat, Köln 2020

Erscheinungsdatum
Zusatzinfo zahlreiche farb. Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 235 x 297 mm
Gewicht 850 g
Einbandart geklebt
Themenwelt Technik Architektur
Schlagworte Anthropocity • Architektur • Cohabitation • Fahim Amir • Habitat • Marion von Osten • Mensch-Tier-Verhältnis • Perspektivwechsel • Stadtökologie • Stadtraum • Tiere • Zoopolis
ISBN-10 3-931435-70-9 / 3931435709
ISBN-13 978-3-931435-70-7 / 9783931435707
Zustand Neuware
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