Klassenkampf (eBook)
269 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77265-2 (ISBN)
Verschimmelte Ecken und einstürzende Sporthallendächer, undichte Fenster und verschleppte Digitalisierung - alles Symbole einer politischen Verwahrlosung, die Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen gleichermaßen betrifft.
Die Pandemie hat die angespannte Situation an deutschen Schulen noch einmal verschärft und sämtliche Schwachstellen des Systems freigelegt. Die Missstände im deutschen Bildungsapparat beschreiben Lorenz Maroldt und Susanne Vieth-Entus in Klassenkampf; einem angriffslustigen Sachbuch mit absurden Episoden und entlarvenden Recherchen, mit gewichtigen Stimmen und großen Ausflüchten, mit viel Empörendem; aber auch mit konstruktiven Vorschlägen. Lorenz Maroldt und Susanne Vieth-Entus sind selber Eltern. Und haben sich zu diesem Thema eine echte Ausnahmeposition erarbeitet; er als Chefredakteur, sie als Redakteurin für Bildungsfragen beim Tagesspiegel. Ihr Buch wird Debatten auslösen. Und ist ein Muss für Eltern, Großeltern, Lehrer*innen - und den Rest der Gesellschaft!
Lorenz Maroldt, geboren in Köln, ist seit 2004 Chefredakteur beim <em>Tagesspiegel</em> in Berlin. Er wurde unter anderem mit dem Grimme Online Award und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.
Teil I
Ein Parforceritt durch
die Berliner Bildungslandschaft
Das kann ja wohl nicht wahr sein!
Doch. Alles, was hier steht, ist wirklich passiert.
Es wäre eine schöne Aufgabe für den Deutschunterricht: »Welcher Gattung ordnen Sie das Drama ›Berliner Schule‹ zu: Komödie, Tragödie, Tragikomödie oder Trauerspiel? Begründen Sie Ihre Entscheidung anhand von Beispielen aus der Praxis.«
Andererseits wäre das aber auch eine ziemliche Gemeinheit. Wo sollten die Opfer des Berliner Klassenkampfs da anfangen?
Vielleicht bei dem vergammelten Fenster, das dem Lehrer einer der berüchtigten Berliner Schrottschulen mitten im Unterricht auf den Kopf fällt? Oder lieber bei den Freunden, die während ihrer gesamten Schulzeit nicht einen einzigen ausgebildeten Mathelehrer erleben? Bei dem Schulleiter, der einen neuen Kollegen mit den Worten »Ihre Schüler werden zum Großteil kriminell, arbeitslos oder landen auf der Straße« begrüßt? Oder bei der Meldung »Berliner Lehrer zündet aus Frust Rohrbomben«?
Die Stimmung ist jedenfalls explosiv – und die Bilanz verheerend: Bei allen Vergleichstests in Deutsch und Mathe landen die Berliner Schülerinnen und Schüler seit Jahren auf den schlechtesten Plätzen. In der neunten Klasse erreicht ein Drittel von ihnen nicht mal die Mindeststandards. Jeder fünfte Schüler hat am Ende so wenig gelernt, dass er oder sie wegen völlig unzureichender Fähigkeiten beim Rechnen, Lesen und Schreiben nicht berufsbildungsfähig ist. Und mehr als zehn von hundert Jugendlichen verlassen die Sekundarschule ganz ohne Abschluss. Dabei gibt Berlin inzwischen mehr Geld aus für Bildung als alle anderen Bundesländer. Aber das Resultat ist erbärmlich. Geradezu zynisch wirkt da die Eigenbeschreibung der Bildungsverwaltung auf ihrer Website: »Viele Wege führen zum Ziel.«
Tausende Eltern sind Jahr für Jahr auf der verzweifelten Suche nach einer geeigneten Schule. Nach offiziellen Angaben fehlen Lehrkräfte für Mathe, Deutsch, Englisch, Biologie, Physik, Chemie, Informatik, Wirtschaft, Technik, Musik und Sport – Geografie unterrichteten auch mal Reisekaufleute. Auf die Frage, welche seiner Schulen sanierungsbedürftig seien, sagte der Bürgermeister von Neukölln nur: »Alle.« Ein Stadtrat der Partei, die hier seit mehr als einem Vierteljahrhundert die Bildungspolitik bestimmt, gibt unumwunden zu: »Man kann sich bei den Schulen in Berlin nur noch entschuldigen.«
Versprochen hatte der Senat 2016, »die personelle Ausstattung der Schulen zu verbessern und damit einen entscheidenden Schritt zu gehen, um Unterrichtsausfall und Überlastung der Lehrkräfte deutlich zu reduzieren«. Daran glaubten nicht mal die Schulbuchverlage – im Mathe-Arbeitsheft für Klasse 5 druckten sie folgende Schätzaufgabe: »Wie viele eurer Unterrichtsstunden fallen diese Woche aus?« Tatsächlich verzweifeln auch fünf Jahre später überlastete Kollegien an ihrer Arbeit. Auf ihre Hilfe-Schreiben bekommen sie nicht einmal mehr eine Antwort. Und sogar Studierende werden akquiriert, Motto: »Unterrichten statt kellnern«. Na, dann Prost.
Eine Bildungsetage höher dagegen feiert sich die Berliner Politik für ihre vermeintliche Exzellenz: Die Wissenschaftslandschaft blüht, Berlin ist attraktiv für Forscherinnen und Forscher, für Lehrende und Lernende aus aller Welt, die Universitäten gehören zur Spitzenklasse. Und während die einen verkniffen die Schulmängel verwalten, tragen die anderen stolz das »World University Ranking« des britischen Magazins Times Higher Education mit sich durch die Gegend: Demnach gehören die Berliner Unis zu den besten 15 Hochschulen in Deutschland – und zu den 150 besten weltweit.
Im Penthouse der Berliner Bildungspolitik sind die Aussichten prächtig. Doch unten haust das Schulprekariat. Hier gibt es Schimmel statt Schampus. Als hätten Hochschule und Schule nichts miteinander zu tun, hat die Feiergesellschaft die Leiter nach oben gezogen und merkt dabei nicht, dass sie sich selbst aushungert. Denn die Schülerinnen und Schüler von heute sind die Studierenden von morgen – oder eben auch nicht. Und weil der Senat den Unis lange Zeit freie Hand bei der Studiengestaltung gab, blieb auch die Lehrerausbildung in Berlin auf der Strecke. Als Berlin 2016 für die Grundschulen tausend neue Lehrerinnen und Lehrer brauchte, schlossen hier gerade mal 175 ihr Studium ab – schlimmer plante kein anderes Bundesland am eigenen Bedarf vorbei.
Dazu verließen junge Lehrerinnen und Lehrer die Stadt in Scharen. Der Senat hatte Jahre zuvor entschieden, sie nicht mehr zu verbeamten, zur Freude der Gewerkschaft: So konnten sie wenigstens noch streiken. Der Finanzsenator hatte nicht nur die enormen Pensionslasten im Blick, sondern hielt die Verbeamtung offenbar auch für gesundheitsgefährdend. Die Statistik gibt ihm recht: Beamte sind 42 Tage im Jahr krank – Angestellte zehn Tage weniger.
Auch andere Bundesländer strichen anfangs die Verbeamtung, doch schon bald kehrten sie dazu zurück, um die Abwanderung der Lehrkräfte zu verhindern. Am Ende war Berlin das einzige Bundesland ohne verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer – ein enormer Konkurrenznachteil, zumal die Stadt immer teurer wurde.
Die Bildungsverwaltung begann 2014, um Quereinsteigende zu werben. 2018 reichten dann nicht mal mehr die, um die 400000 Schülerinnen und Schüler der Stadt zu unterrichten. Jetzt waren der Bildungsverwaltung wirklich alle willkommen: Pensionäre, Studierende, Logopäden … einzige Voraussetzung: »Aufgeschlossenheit gegenüber fachlichen und didaktisch-methodischen Entwicklungen.« Aber wer sich melden wollte, fand keinen Anschluss: Die »Service-Stelle« war nur an neun Stunden in der Woche besetzt. In Bayern, wo kein Lehrermangel herrscht, ging schon immer selbst am Freitagnachmittag noch jemand ans Telefon. »Eine Selbstverständlichkeit«, sagt die freundliche Dame in schönstem Bayerisch am Telefon.
Es fehlen Lehrer – und es fehlen Schulplätze, zehntausende. Als das im Sommer 2019 bekannt wurde, war die Stadt schockiert. Die Zahlen basierten auf einem Bericht der »Taskforce Schulbau«. Die Linken sprachen von einer »sehr beunruhigenden Information«, die Grünen von »alarmierenden Zahlen«. Der Berliner Landeselternausschuss attestiert der Senatorin in einem offenen Brief eine insgesamt katastrophale Bilanz. »Schönreden und Intransparenz helfen hier nicht weiter!«, schrieb der Vorsitzende Norman Heise (den die Senatorin zuvor für »seine ruhige Art, seine Gelassenheit« gelobt hatte). Heises Forderung: ein Krisengipfel. Auch die damalige GEW-Vorsitzende Doreen Siebernik unterstützte die Forderung des Landeselternausschusses. »Wir haben seit 2012 darauf hingewiesen, dass Plätze fehlen. Seitdem wird immer nur an der Oberfläche gekratzt. Ich erkenne keine Strategie«, sagte sie dem Newsletter Checkpoint, und: »Das ist schlimmer als ein Vulkanausbruch, das ist eine Explosion.«
Doch eine Bildungskrise vermochte die Senatorin nicht im Ansatz zu erkennen: »Sehe ich nicht«, sagte sie im selben Jahr in der Martin-Niemöller-Grundschule in Hohenschönhausen, wo sie das erste kostenlose Schulmittagessen als Erfolg verschenkte. Hätte sie ihr Paralleluniversum für einen Moment verlassen, wäre ihr vielleicht eine Umfrage unter fünfzig Schulleiterinnen und Schulleitern staatlicher Berliner Gymnasien aufgefallen – das Ergebnis: Mehr als die Hälfte von ihnen hatte fest eingeplante Lehrkräfte kurzfristig verloren. Siebzig voll ausgebildete Lehrkräfte hatten ihren Wegzug in ein anderes Bundesland angekündigt. Nahezu alle Gymnasien waren in den vergangenen drei Jahren von Abwanderungen aus Berlin betroffen. Achtzig Prozent der Wechsler begründeten ihren Fortgang mit einer Verbeamtung anderswo, wie die Umfrage der Vereinigung der Berliner Oberstudiendirektoren ergab. Von sieben Zielbundesländern war Brandenburg das beliebteste. Alle der nach Brandenburg abgewanderten Lehrerinnen und Lehrer wurden in Berlin ausgebildet, und alle unterrichteten mindestens ein Fach, das in Berlin als Mangelfach gilt.
Als zum Ende des Schuljahrs 2021 wieder 846 Lehrkräfte Berlin verlassen hatten, insgesamt waren es seit 2017 damit 3270, erklärte Staatssekretärin Beate Stoffers: »Die Gründe werden nicht statistisch erfasst, sind jedoch grundsätzlich bekannt.« Die Folgen jedenfalls sind schlimm, die Überforderung ist allgegenwärtig: Es macht sich mehr und mehr Fatalismus ...
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Bildungstheorie |
Technik | |
Schlagworte | Berlin • Bildung • Bildungspolitik • Deutschland • Lehre • Lernen • neues Buch • Schule • Schulwesen • ST 5231 • ST5231 • suhrkamp taschenbuch 5231 |
ISBN-10 | 3-518-77265-1 / 3518772651 |
ISBN-13 | 978-3-518-77265-2 / 9783518772652 |
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