Flora (eBook)

Die ganze Welt der Pflanzen
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2022 | 1. Auflage
233 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-78324-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Flora -  Hansjörg Küster
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Pflanzliches Leben ist grundlegend für alle Formen von Leben auf der Erde. Ein Leben ohne Tiere und Menschen auf der Erde ist möglich, ein Leben ohne Pflanzen hingegen undenkbar. Vom Moos bis zum Mammutbaum, von den Algen im Meer bis zur Idee der Nachhaltigkeit beschreibt Hansjörg Küster, Professor für Pflanzenökologie, die fundamentale Bedeutung der Pflanzen. Er schildert die pflanzliche Evolution genauso wie den Entwicklungsgang der einzelnen Pflanze vom Keimling bis zur Blüte. Und überrascht mit einem Vorschlag: Um die Klimakrise zu lösen, müssen und können wir uns an den Pflanzen orientieren. Pflanzen umgeben uns - überall. Oft sind es nur Teile von ihnen: Äpfel oder andere Früchte, Kartoffeln, Karotten, Salatblätter, ein Blumenstrauß. Es sind auch Produkte dabei: Gewürze, gemahlenes Korn in Form von Mehl, Pflanzenfasern, Holz, Pressspan. Früchte und Samen bilden die Nahrung vieler Vögel und Säugetiere. Kulturpflanzen und ihr Anbau werden schließlich zur treibenden Innovation menschlicher Kultur. Hansjörg Küster schildert den Entwicklungsgang der einzelnen Pflanze vom Keimling bis zur Blüte und zur Frucht, zeichnet vor allem aber auch die Evolution der Pflanzen innerhalb der Erdgeschichte nach. Pflanzen allein sind dazu in der Lage, organische Substanzen aufzubauen, sie geben lebensnotwendigen Sauerstoff in die Atmosphäre ab und haben, seitdem es Fotosynthese gibt, den Gehalt an Kohlenstoffdioxid in der Atmospähre so weit verringert, dass sich das Leben unter geeigneten Temperaturbedingungen abspielen kann.

Hansjörg Küster ist Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz Universität Hannover. Bei C.H.Beck sind jüngst von ihm erschienen: "Deutsche Landschaften. Von Rügen bis zum Donautal" (2017), "Der Wald. Natur und Geschichte" (2019), "Die Alpen. Geschichte einer Landschaft" (2020).

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Geschöpfe ohne Willen


«Suchst du das Höchste, das Größte?
Die Pflanze kann es dich lehren:
Was sie willenlos ist, sei du es wollend – das ists!»

Friedrich Schiller

Pflanzliches Leben ist grundlegend für alle anderen Formen von Leben auf der Erde. 99,5 Prozent aller organischen Masse wurden von Pflanzen aufgebaut. Ein Leben auf der Erde ist möglich, wenn es dort keine Tiere, erst recht, wenn es dort keine Menschen gibt. Aber ein Leben auf der Erde ohne Pflanzen ist undenkbar. Sie allein sind dazu in der Lage, organische Substanzen aufzubauen, die von Tieren und Menschen als Nahrung aufgenommen werden können, sie geben lebensnotwendigen Sauerstoff in die Atmosphäre ab und haben, seitdem es Fotosynthese gibt, den Gehalt an Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre so weit verringert, dass sich das Leben in seinen wesentlichen Zügen unter geeigneten Temperaturbedingungen abspielen kann. Das ist – von Ausnahmen abgesehen – nur zwischen dem Gefrierpunkt und etwas über 40 Grad Celsius möglich. Im Eis können die meisten Lebewesen nicht existieren, weil sie dann kein Wasser erhalten – es ist ja gefroren. Bei Temperaturen von weit mehr als 40 Grad Celsius werden Eiweiße denaturiert, das heißt, sie verlieren ihre Struktur und Funktion. Es gibt nur ganz wenige Lebewesen, die bei höheren oder niedrigeren Temperaturen leben können. Es ist ein großer Zufall, dass sich derzeit eine so enge Spanne an Temperaturen auf unserem Planeten zur Entwicklung besonders vieler Formen von Leben nutzen lässt. Wasser hat dabei eine wichtige Funktion: Es erwärmt sich weniger rasch als die Atmosphäre, kühlt aber auch langsamer ab und trägt so zur Stabilisierung der Temperaturen bei. Im Wasser war das Temperaturintervall von null Grad Celsius bis etwas über 40 Grad Celsius früher erreicht als außerhalb davon. Das Leben entstand im Wasser. Es konnte sich erst dann auf das Land ausbreiten, als die im Meer lebenden Pflanzen genug Fotosynthese betrieben und genug Kohlenstoffdioxid abgebaut hatten und die Temperaturen auf ein für das Landleben geeignetes Niveau abgesunken waren.

Pflanzen treten uns in vielen Erscheinungsformen entgegen. Sie leben überall dort im Meer, wo noch genug Sonnenlicht ins Wasser eindringt. Sie leben auf dem Land, wo noch genug Regen auf die Erdoberfläche trifft. Sie leben als Einzeller im Wasser, als winzige Moose auf dem Land. Es gibt untermeerische «Wälder» aus Tang. Wälder, die diese Bezeichnung wirklich verdienen, weil sie Bäume enthalten, finden wir aber vor allem auf dem Land. Darunter sind immergrüne tropische Regenwälder, Laub abwerfende Wälder der gemäßigten Zonen und Nadelwälder im hohen Norden. Pflanzen sind unsere Nahrung, Menschen sammeln sie, bauen sie als Kulturpflanzen an. Auch die meisten Gewürze sind pflanzliche Produkte.

Pflanzen haben jedoch keineswegs immer einen materiellen Nutzen. Wir können uns an ihnen auch einfach erfreuen, selbst an unscheinbaren Gewächsen, die wir am Wegrand finden. Von bestimmten Pflanzen pflücken wir Blumensträuße, die wir als Stillleben auf den Tisch stellen. Sie betreiben noch Fotosynthese, nehmen Wasser auf, was wir daran merken, dass wir das Wasser in der Blumenvase nachfüllen müssen, aber sie sind doch – willenlos – dem Tod geweiht, weil ihnen die Wurzeln fehlen. Wir beobachten, wie sich die Rose entfaltet, an jedem Tag einen anderen Anblick bietet: die geschlossene Knospe, die sich öffnenden Blüten, die abfallenden Blütenblätter. Blumen haben symbolische Bedeutungen, man nimmt eine ungerade Zahl von Tulpen oder Rosen, um einen Strauß zu binden und ihn zu überreichen. Rote Nelken sind für viele Menschen die Blumen der Sozialisten, Seerosen bringt man nicht mit, weil das Unglück bedeutet.

Dennoch wird die zentrale wichtige Bedeutung der Pflanzen von vielen Menschen nicht auf den ersten Blick wahrgenommen. Sie finden Tiere «interessanter». Pflanzen sind einfach «da», Tiere hingegen gilt es zu entdecken. Und sie scheinen so viel «lebendigere» Kreaturen zu sein als die Pflanzen. Im Grunde genommen aber leisten Tiere genau wie wir Menschen viel weniger als Pflanzen. Nur Pflanzen können über die Fotosynthese organische Stoffe aufbauen, aus dem Unsichtbaren sichtbare Materie schaffen. Tiere und Menschen sind auf die Syntheseleistung der Pflanzen angewiesen, um an Nahrung zu kommen.

Die Pflanzenwelt steht mit den drei wichtigsten Erdoberflächenprozessen, mit denen sich Geowissenschaftler befassen, in Verbindung. Der Kreislauf des Wassers als wichtigster dieser Prozesse wird von der Vegetation beeinflusst. Denn zusätzlich zu den Wassermengen, die von der Oberfläche des Landes und auch von den Oberflächen der Pflanzen verdunsten, geben Pflanzen weiteres Wasser ab. Neues Wasser steigt mit neuen Mineralstoffen aus dem Wurzelraum in die Blätter auf. Deswegen kann sich die Oberfläche von Blättern und Sprossen immer wieder abkühlen. Man nennt das Transpiration, ein Vorgang, der mit Verdunstung oder Evaporation (wörtlich: Dampfbildung) nichts zu tun hat. Auch Tiere geben Wasser ab, sie transpirieren ebenfalls oder schwitzen. Die Menge der Wasserabgabe durch Pflanzen ist erheblich größer als die von Tieren. Über bewachsenen Flächen bilden sich zusätzliche Wolken. Sie steigern auch die Regenmengen, die Pflanzen wie Tiere beleben.

Zweitwichtigster Erdoberflächenprozess ist die Fotosynthese, mit der die Pflanzen aus einfachen anorganischen Stoffen, Kohlenstoffdioxid und Wasser, unter Nutzung von Lichtenergie organische Substanzen herstellen. Ein großer Teil davon wird im Verlauf des drittwichtigsten Erdoberflächenprozesses, der Atmung oder Zellatmung, wieder abgebaut, und zwar möglicherweise bereits in der Pflanzenzelle, in der gleichen Zelle also, in der die Fotosynthese geleistet wird. Allerdings kann die Atmung niemals den gleichen Umfang wie die Fotosynthese erreichen, denn ein Teil der aufgebauten organischen Substanz wird für das Wachstum der Zelle und der gesamten Pflanze verwendet. Die Fotosyntheseleistung der grünen Teile der Pflanze muss dazu ausreichen, dass auch andere Pflanzenteile, etwa Wurzeln und Früchte, organische Substanz erhalten. Mit den Produkten der Fotosynthese bekommen genauso alle anderen Lebewesen, die keine grünen Pflanzen sind, ihre Nahrung, die Tiere also, die Pilze und auch viele Mikroorganismen. Wenn Tiere Fleisch fressen, muss auch dieses Fleisch ursprünglich einmal von organischer Substanz aufgebaut worden sein, die aus Fotosyntheseprodukten der Pflanze hervorgegangen ist.

Obwohl also die Bedeutung von Pflanzen ungleich größer ist als die von Tieren; obwohl es eine Welt aus Pflanzen und einigen Mikroorganismen geben kann, aber keine Welt, auf der ausschließlich Tiere leben; obwohl die von Pflanzen geleisteten stofflichen Umsetzungen erheblich größer sind und man sich allein von Pflanzen ernähren kann, ausschließlich von Tieren hingegen nur unter Schwierigkeiten; obwohl die Landschaft hauptsächlich durch Vegetation und nur zu einem kleinen Teil durch Tiere bestimmt wird – trotz alledem erfolgt der Zugang zur Biologie, der Wissenschaft vom Leben, für die meisten Menschen über Tiere. Tiere werden im Biologieunterricht meistens vor den Pflanzen behandelt. Tiere finden die meisten Menschen interessanter. Viel mehr Menschen gehen in den Zoo als in einen Botanischen Garten. Kinder bauen Nistkästen, um erste Naturerfahrungen zu sammeln, und legen viel seltener ein Herbarium an. Das ist «unlogisch», denn man befasst sich mit Organismen, die nicht ohne andere bestehen können, anstatt zuerst diejenigen Lebewesen zu besprechen, die an allem Anfang stehen. Und das sind die Pflanzen, nicht die Tiere.

Diese der Natur und der Evolution widersprechende Bevorzugung des tierischen Lebens hat weit zurückreichende Wurzeln. Laut dem biblischen Schöpfungsbericht nahm Gott sich für die Schöpfung der Pflanzen nur einen halben Tag Zeit, für die Schöpfung von Tieren und Menschen brauchte er hingegen zwei ganze Tage. Auch wenn man «Tage» hier nicht wörtlich als genau gleiche Zeitabschnitte von 24 Stunden Dauer auffassen muss, so währte doch die Erschaffung von Tieren und Menschen dem Schöpfungsmythos der Bibel nach viermal so lange wie die Erschaffung der Pflanzen. Tiere und Menschen wurden also als komplexer angesehen als die Pflanzen, die der Erde entsprossen. Dass das Leben aber mit der Schöpfung der Pflanzenwelt entstand und dass dieser Schritt der Evolution eigentlich der viel komplexere war als die Hervorbringung der Tiere und Menschen – das wurde nicht erkannt.

Die geringere Bedeutung, die Menschen den Pflanzen gaben, geht noch aus einer anderen alttestamentlichen Erzählung hervor: der Geschichte von der...

Erscheint lt. Verlag 17.3.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Algen • Anbau • Atmosphäre • Biologie • Botanik • Entwicklung • Evolution • Flora • Forstwirtschaft • Fotosynthese • Früchte • Klimakrise • Kohlenstoffdioxid • Kulturpflanzen • Mammutbaum • Moos • Nachhaltigkeit • Nahrung • Ökologie • Pflanzen • Pflanzenökologie • Samen
ISBN-10 3-406-78324-4 / 3406783244
ISBN-13 978-3-406-78324-1 / 9783406783241
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