Zeitgenössische feministische Raumpraxis
Arch+ (Verlag)
978-3-931435-69-1 (ISBN)
Ausgangspunkt der Ausgabe ist die Frage, wie Formen gesellschaftlichen Unrechts auf verschiedenen räumlichen Ebenen miteinander verflochten sind. Dabei wird deutlich, dass der Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter in der gebauten Umwelt heute mit anderen Formen des Engagements für soziale Gerechtigkeit (Antirassismus, Antikolonialismus, dem Kampf gegen Trans- und Homophobie etc.) konvergieren muss. Als politisches Medium verstanden, kann Architektur auf der räumlichen Ebene dazu beitragen, ein neues Freiheitsversprechen einzulösen, dem eine transformative Idee von Gerechtigkeit zugrunde liegt.
01Editorial
Melissa Koch und Anh-Linh Ngo
04Einführung
Torsten Lange, Charlotte Malterre-Barthes,
Daniela Ortiz dos Santos, Gabrielle Schaad
18
Essay: Queer-feministische Städte
für ein anderes Leben!? Yvonne P. Doderer
26
Essay: Site-Reading Writing Quarterly. Jane Rendell
34
Praxis: Schmutzige Theorie. Hélène Frichot
40
Position: Der „Vaterkomplex“ der Architektur – Eine Ahmed’sche Therapiesitzung. Brady Burroughs
42
Position: Donna Haraway für Architekt*innen. Elli Mosayebi
44
Praxis: Über Parität und Diversität
im Hochschulkontext. Torsten Lange, Charlotte Malterre-Barthes,
Daniela Ortiz dos Santos, Gabrielle Schaad
48Praxis: Manifest der Architecture Lobby
50Praxis: WikiD
52Essay: Blinde Flecken. Mary Pepchinski
Kate Macintosh
im Gespräch mit Kristina Herresthal
und Ariane Wiegner
66
Gespräch: „Wir brauchen Formen der
Reproduktion, die uns nicht voneinander trennen“. Silvia Federici im Gespräch mit Lilian Chee
76Praxis: Kitchenless Cities. Anna Puigjaner
82Intervention: 110 Rooms. Anna Puigjaner / MAIO
88Intervention: San Riemo. ARGE Summacumfemmer und
Büro Juliane Greb
96Intervention: La Comunal. Lacol
100Intervention: La Borda. Lacol
106Praxis: Edit Collective
110Praxis: Mona Mahall, Aslı Serbest
116
Gespräch: Die Architekturgeschichte
gegen den Strich bürsten. Beatriz Colomina im Gespräch
mit Katarina Bonnevier
124Praxis: MYCKET Collaborations
128Intervention: The Restroom Pavilion
134Praxis: Office for Political Innovation
140Praxis: Xcessive Aesthetics
144Praxis: fem_arc Kollektiv
150Praxis: Matri-Archi(tecture)
154Praxis: Office Hours. Esther M. Choi
156Essay: Wenn Denkmäler stürzen. Paul B. Preciado
164
Position: Fanon über den kolonialen Raum. Samia Henni
166Position: Ein Brief an Audre Lorde. Afaina de Jong
168
Gespräch: Dekarbonisieren,
dekolonisieren, deinstitutionalisieren. Lesley Lokko und Tom Emerson im Gespräch
mit Tonderai Koschke und Sarah Maafi
174Praxis: Counterspace Studio
176
Essay: And We Do Not Inhabit
Single-Issue Spaces. Niloufar Tajeri
182
Praxis: Feminist Architectural
Histories of Migration. Anooradha Iyer Siddiqi, Rachel Lee
183
Praxis: „Schwarze Märkte“ –
Transnationale Architekturen der Fürsorge. Huda Tayob
186Intervention: Hikma. atelier masōmī, Studio Chahar
192Intervention: Haus der Frauen. Building Beyond Borders,
BC Architects & Studies
198Praxis: Concreto Rosa
200Essay: Systemerhaltung und Sichtbarkeit. Elke Krasny
204Praxis: Maintenance Art. Mierle Laderman Ukeles
206
Korrespondenz: Über intersektionale
Architektur. Menna Agha, Adam Caruso, Tei Carpenter
und Carla JuaНaba mit Torsten Lange,
Charlotte Malterre-Barthes, Daniela Ortiz
dos Santos und Gabrielle Schaad
208
Gespräch: Radikale Reparatur. Mabel O. Wilson im Gespräch mit
Bryony Roberts, Einführung: Irene Cheng
220Autor*innen
224Impressum
ARCH+ Team dieser Ausgabe:
Nora Dünser (CvD), Max Kaldenhoff (Kreativleitung),
Melissa Koch (Projektleitung) (MAK), Anh-Linh Ngo (Redaktionsleitung),
Mirko Gatti, Franziska Gödicke (FG), Markus Krieger (MUK),
Vera Krimmer (VK), Anna-Maria Mayerhofer (AM)
Gastredaktion: Torsten Lange, Charlotte Malterre-Barthes,
Daniela Ortiz dos Santos (DOS), Gabrielle Schaad (GS)
Coverbild: © African Futures Institute, Design: Fred Swart,
Director of Visual Identity, AFI
Einführung Torsten Lange, Charlotte Malterre-Barthes, Daniela Ortiz dos Santos, Gabrielle Schaad Noch nie war der Ruf nach Gleichstellung und Chancengerechtigkeit innerhalb des hierarchisch organisierten und ökonomisch getriebenen Feldes konventioneller Architektur lauter als heute. Zwar mögen ihn nicht alle mit derselben Dringlichkeit vernehmen. Doch eine neue Generation junger Praktiker*innen arbeitet über alle Bereiche der Disziplin hinweg aktiv an einem Wandel der Architektur – hin zu einer die Gesellschaft und Ressourcen schonenden, gleichsam ethischen Praxis. Dies ist umso dringlicher angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart: von der Klimakatastrophe und Umweltzerstörung über Ressourcenknappheit, bis hin zur Verschärfung sozialer Ungleichheit, der Digitalisierung und Dekolonialisierung. Die Schaffung gerechterer Umwelt- und Lebensbedingungen ist auch eine Frage guter Gestaltung. Wer versorgt die Kinder, pflegt Angehörige und putzt die Wohnung, während im Büro vor einer Wettbewerbsabgabe wieder einmal Überstunden anstehen? Für welche idealtypischen Nutzer*innengruppen wird überhaupt gebaut und geplant? Besteht starke Autor*innenschaft nicht schon seit jeher im gemeinschaftlichen Zusammenwirken statt in der vermeintlichen Genialität“ einzelner? Wie kann über den gängigen Kanon der Architekturrezeption und -produktion hinaus eine größere kulturelle Vielfalt baulicher Lösungen und Konzepte in die Disziplin und ihren Wissensbestand Eingang finden? Wie können Projekte jenseits einer Spaltung in Theorie, Praxis oder Pädagogik den Lebenserfahrungen marginalisierter und unsichtbar gemachter Gruppen Rechnung tragen? Zumal eine wichtige Voraussetzung hierfür eine größere Teilhabe und Einbeziehung ebenjener Gruppen in die Planung ist. Der Zugang zu Ausbildung und zu Aufträgen wird jedoch nach wie vor von zahlreichen Schwellen sowie einem in unseren Breitengraden vorherrschenden hochselektiven, westeuropäisch-nordamerikanisch geprägten (akademischen) Wertesystem bestimmt. Dabei wollen wir, das Gastredakteur*innen-Kollektiv dieser Ausgabe, nicht unter den Teppich kehren, dass wir selbst „Produkte“ dieses Systems, des Wissens und der Werte sind, die wir verinnerlicht haben. Zwischen 2014 und 2019 haben wir in unterschiedlichen Positionen am Departement Architektur der ETH Zürich (zusammen)gearbeitet. Gemeinsam sind wir für die Stärkung queer-feministischer Perspektiven in der Lehre und beim Umbau der Hochschule zu mehr Geschlechtergerechtigkeit eingetreten. Als wir von ARCH+ zur Arbeit an diesem Heft eingeladen wurden, sahen wir dies als Chance, unsere eigenen Horizonte zu weiten, Räume für unsere Vorbilder zu schaffen und von ihnen zu lernen, um unsere eigenen blinden Flecken aufzudecken. Es ließe sich einwenden, dass die allgemeinen Bedingungen für gesellschaftlichen Ausgleich heute doch um vieles besser seien als noch vor 20 oder 30 Jahren. Sind Geschlechtergleichstellung, inklusive Sprache, political correctness etc. nicht bereits eine im Alltag gelebte Realität? Und überhaupt: Was hat das alles mit Architektur zu tun – ist sie nicht die „neutrale“ Disziplin schlechthin? Warum also sollten Sie dieses Heft überhaupt zur Hand nehmen? Vor 40 Jahren erschien die ARCH+ mit der Nummer 60 unter dem Titel Kein Ort, nirgends – Auf der Suche nach Frauenräumen. Erstmals wurde hier ein Spektrum feministischer räumlicher Praxen und Handlungsformen ausgebreitet. Anders als vielleicht noch in den 1980er-Jahren sehen wir in feministischen Perspektiven auf Architektur und Raumplanung jedoch nicht ein „Spartenthema“, das sich in einer Sondernummer der ARCH+ separieren ließe. Mit diesem Heft, dem hoffentlich zahlreiche weitere Beiträge in kommenden Ausgaben der Zeitschrift folgen werden, machen wir uns stattdessen für eine Ethik des Sorgetragens stark. Weitaus mehr Menschen als heute müssen in den Architekturdiskurs und Prozesse der Raumproduktion einbezogen werden. Diese Ausgabe von ARCH+ fragt, wie intersektional-feministische Praxen zeitgenössische Architektur und räumliche Disziplinen prägen. Dabei werden Konvergenzen zwischen dem aktiven Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter in der gebauten Umwelt und anderen zeitgenössischen Formen des Engagements für soziale Gerechtigkeit diskutiert, z. B. Antirassismus, Antikolonialismus oder der Kampf gegen Trans- und Homophobie. Das Heft fasst kritische, reflektierende, spekulative, verkörperte und performative Praxen – von Entwurf, Aktivismus, Handwerk, Pädagogik bis hin zur Theorie und dem Schreiben – über unterschiedliche Maßstabsebenen, Medien, Orte und Ausdrucksformen hinweg zusammen. Das schließt auch Namen, Praxen und Orte/Situationen außerhalb Europas innerhalb eines Geflechts translokaler Akteur*innen ein. Wir vereinen dabei eine Vielzahl von Formaten – von Gesprächen über architektonische und räumliche Interventionen bis hin zu Essays und theoretischen Positionen. Im Mittelpunkt stehen die Arbeiten derjenigen, die sich für soziale Anliegen in der gebauten Umwelt einsetzen. Auf diese Weise soll die Trennung von Theorie und Praxis – die Unterscheidung zwischen jenen, die bauen, und jenen, die es nicht tun –, welche die zeitgenössische Baukultur noch immer prägt, überwunden werden. Um allen Formen von Diskriminierung in der Architektur wirksam zu begegnen, bilden wir in dieser Ausgabe von ARCH+ kaleidoskopartig all jene Praxen ab, die Machtverhältnisse dekonstruieren und Barrieren abbauen. Weil diese den Architekturdiskurs noch immer bestimmen: von Normen über Arbeitskulturen, von Archivpolitik bis hin zu Lehrplänen. Von Anfang an waren wir uns bewusst, dass wir nicht aus einer Position heraus sprechen, sondern sehr unterschiedliche Perspektiven einbringen: Sie bilden die Rahmenbedingungen, unter denen wir überhaupt erst in der Lage sind, Fragen der räumlichen und intersektionalen Gerechtigkeit kritisch zu beleuchten. Das Offenlegen der eigenen Positionen diente uns als Ausgangspunkt, um die hier versammelten komplexen kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Kontexte sichtbar zu machen. An einem solchen Heft in dieser Konstellation mit einer derart großen Zahl zumeist kollektiv organisierter Beitragender zu arbeiten, bedeutet fast zwangsläufig, sich die Finger schmutzig zu machen. Dennoch ist dieses Heft von der lustvollen Zusammenarbeit getragen. Zugleich mussten wir frühzeitig jeden Anspruch auf Vollständigkeit hinter uns lassen. Schon allein der Umstand, dass die letzte Ausgabe der ARCH+, die mit einer explizit feministischen Agenda antrat, 40 Jahre alt ist, bot aus unserer Sicht einiges an Gesprächsstoff. Das Zusammenstellen eines solchen Themenhefts kann insofern sowohl auf Seiten der Gastredakteur*innen wie seitens der ARCH+ Redaktion nur einen Lernprozess dokumentieren. Uns war wichtig, dass die versammelten Beiträge – wenigstens ansatzweise – ein Bild der Mehrheit der Welt vermitteln, statt wieder bloß den Diskurs der nördlichen Hemisphäre zu reproduzieren. So wuchs mit jeder Arbeitssitzung die Sammlung feministischer Praxen der letzten Jahre in unserer „Tragetasche“, um ein Motiv der Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin aufzugreifen. Und doch markieren die damit angesprochenen Themen Fehlstellen in der gegenwärtigen Diskussion, gerade auch hierzulande, wo sich die Fachwelt noch immer auf verengte Vorstellungen von Professionalität und ein lokales Wissen zurückzieht. Trotz allem verstehen wir das, was es in dieses Heft geschafft hat, weder als „Best-of“, noch als Kompendium oder gar Atlas, sondern vielmehr als Einstiegspunkte, an denen Zukünftiges aufscheint – ob neue Arbeits- oder Wohnformen, Architekturen des Sorgetragens oder queere, widerständige und aktivistische Raumpraktiken. Wichtige internationale Stimmen innerhalb des Diskurses über Architektur und intersektionalen Feminismus haben für diese Ausgabe neue Essays verfasst oder wir haben zentrale Texte von ihnen erstmals übersetzt. Verschiedene Gespräche bringen Expert*innen aus dem erweiterten Architekturfeld und feministischen Engagement zusammen, um Perspektiven auszutauschen und zu aktualisieren. Dabei zeichnen sich auch Reibungen zwischen unterschiedlichen Zugängen, Generationen und institutionellen Funktionen ab. Ähnlich wie die Gespräche versteht sich auch das auf einem E-Mailaustausch basierende Korrespondenz-Format als Alternative zu etablierten Formen der Wissensproduktion, indem es eine „allwissende“ Erzählerstimme durch eine polyphone Perspektive auf Ereignisse und Gegenstände ersetzt. Architektur aus dem Blickwinkel des Feminismus zu betrachten, ist ein politischer Akt. Grundlegende Texte dienen dabei häufig der Entwicklung und Untermauerung eigener Positionen. Inwiefern waren die Texte ausgewählter Theoretiker*innen wie Sara Ahmed, Frantz Fanon, Donna Haraway und Audre Lorde für die Herausbildung einer spezifischen Sichtweise auf die Architektur maßgebend – selbst wenn das Entwerfen darin nicht explizit behandelt wird? In dem Format Positionen reflektieren die Beitragenden ihre persönliche Auseinandersetzung mit einem ausgewählten Text und diskutieren dessen entscheidenden Einfluss auf ihre jeweilige Praxis. Diese verschiedenen Formate, die die kollektive Produktion von Wissen in den Vordergrund stellen, werden ergänzt durch aktuelle Beispiele für feministische (Raum-)Praxen und räumliche Interventionen. Diese Ausgabe beinhaltet keine abschließende Bestandsaufnahme der unzähligen Möglichkeiten, wie feministische Praxen eine bessere Zukunft gestalten oder zumindest aufscheinen lassen. Aus den vorgestellten geschriebenen, gesprochenen, gezeichneten, collagierten, kodierten, zusammengenähten, gelebten und gebauten Arbeiten entsteht ein großzügiger, hoffnungsvoller und zusammengesetzter Korpus von Möglichkeiten zur Transformation aktueller Bedingungen. Die Beiträge zeigen, was sich ändern muss und kann, damit Architektur und Planung angesichts der anhaltenden sozialen und ökologischen Krise relevant bleiben. Konstellationen queerer, antirassistischer, antikolonialer, solidarischer, intersektionaler und ökofeministischer Akteur*innen brechen mit den gegenwärtigen profitorientierten, zerstörerischen und extraktivistischen Operationsmodi der Architektur und Bauindustrie. Sie entpatriarchalisieren, dekolonisieren und dekarbonisieren den Berufsstand. Sie bringen die widerständigen und emanzipierten Raumpraxen hervor, die wir heute und morgen dringend brauchen. Früheren sowie aktuellen Formen feministischen Engagements verpflichtet, entwirft die hier vorgestellte unbeständige Ansammlung technisch versierter Aktivist*innen und politisierter Student*innen, queerer Denker*innen, intersektionaler Historiker*innen und kritischer Theoretiker*innen, engagierter Designer*innen, radikaler Archivar*innen, kompromissloser Pädagog*innen, Design-Kooperativen, Reparatur-Kollektiven und risikofreudiger Raumpraktiker*innen Wege aus der Krise hin zu einer wirklich nachhaltigen Zukunft, die tief in der Gleichstellung der Geschlechter sowie der sozialen und räumlichen Gerechtigkeit verwurzelt ist. Höchste Zeit für die Architektur, Bilanz zu ziehen und sich diesem Diskurs zu öffnen!
Erscheinungsdatum | 01.02.2022 |
---|---|
Zusatzinfo | zahlr. Abb. u. Pläne |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Maße | 235 x 297 mm |
Gewicht | 850 g |
Einbandart | geklebt |
Themenwelt | Technik ► Architektur |
Schlagworte | Architektur • Dekolonisierung • Feminismus • Freiheit • Gender • Intersektionalität • LGBTQ • Programmatik • Raumpraxis • Utopie |
ISBN-10 | 3-931435-69-5 / 3931435695 |
ISBN-13 | 978-3-931435-69-1 / 9783931435691 |
Zustand | Neuware |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
aus dem Bereich