Chausseestraße (eBook)

Berliner Geschichte im Brennglas
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
224 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-524-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Chausseestraße -  Holger Schmale
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200 Jahre deutsche Geschichte entlang einer Straße

Die Chausseestraße in Mitte gehört nicht zu den berühmten Adressen Berlins. Doch sie steht exemplarisch für das Wachsen der Metropole, für Brüche, Katastrophen, Neuanfänge und die Vielfalt der Stadt. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Gegend wegen der vielen qualmenden Schlote Feuerland genannt. Auf dem Französischen und dem Dorotheenstädtischen Friedhof fanden prominente Berliner ihre letzte Ruhe. Gleich nebenan liegt das Wohnhaus von Helene Weigel und Bertolt Brecht. Einige Blocks weiter zieht sich das monumentale BND-Gebäude hin, das wiederum auf historischem Boden steht. Und kurz vor dem Ende der 1,7 Kilometer langen Straße endete bis vor 30 Jahren Ost-Berlin. Holger Schmale erzählt anhand dieser Straße den Weg der Stadt durch zwei Jahrhunderte und fünf Gesellschaftssysteme. Er bündelt Lebenswelten und Schicksale wie unter einem Brennglas.

Mit prominenten Zeitgenoss:innen wie August Borsig, Werner von Siemens und Ernst Schering, Theodor Fontane, Helene Weigel, Bertolt Brecht, Asta Nielsen und Wolf Biermann

Vom Borsig- und dem Biermann-Haus über den Dorotheenstädtischen Friedhof bis zur ehemaligen Mauer, dem Brecht-Haus und dem neuen BND-Komplex



Holger Schmale, geboren 1953 in Hamburg, studierte an der Freien Universität Berlin Publizistik, Politische Wissenschaften und Geschichte. Er schrieb für dpa aus West- und Ost-Berlin sowie als bundespolitischer Korrespondent aus Bonn. Ende der 1990er Jahre berichtete er für die Agentur aus den USA
und ging dann als politischer Korrespondent zur Berliner Zeitung, für die er nach Stationen als Leiter des Bundesbüros, Chefkorrespondent der DuMont-Redaktionsgemeinschaft und Stellvertretender Chefredakteur der Hauptstadtredaktion weiterhin schreibt.

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»MÄCHTIGE STRÖME VON SCHWÄRZLICHEN ARBEITERN«


Im »Feuerland« stand die Wiege der deutschen Schwerindustrie

Der Auftakt der Chausseestraße ist, sagen wir: lebendig. Die Friedrichstraße mündet von Süden, von Westen kommt die Hannoversche Straße, und von Osten treffen hier die Oranienburger- und die Torstraße fast zusammen. Da ist ganz schön was los, und es ist laut: eine quirlige Straßenkreuzung voller Autos, die in alle Richtungen fahren, abbiegen, beschleunigen, bremsen, sich stauen. Ein Rettungswagen braust mit Sirene und Blaulicht aus der Torstraße heran, vermutlich auf dem Weg zur Notaufnahme der Charité, deren Bettenhaus nur wenige Blocks entfernt in den Himmel ragt. Die Wagen der Straßenbahnlinien M 5 und 12 rumpeln in Richtung Hohenschönhausen und Weißensee oder Zingster Straße beziehungsweise Kupfergraben über die Kreuzung, dazu Busse in Richtung Hauptbahnhof und Ostbahnhof oder Wedding und Wittenau. Eine unwirtliche Verkehrsinsel mit ein paar Verteilerkästen und Kabelmasten lädt allenfalls zum Abstellen von Fahrrädern und E-Rollern unter einer Normaluhr ein. Wer jedoch das Großstadtgewimmel mag, der ist hier richtig.

Quirlig ging es hier auch schon vor 180 Jahren zu, als jenseits des Oranienburger Tors und der Akzisemauer »Feuerland« begann, das Zentrum der frühen deutschen Schwerindustrie. Eine unauffällige, dunkelgraue Metallplatte an der Fassade des großen Eckhauses Chausseestraße 1 erinnert an den Mann, der die Gegend wie kaum ein anderer für Jahrzehnte prägte. »August Borsig (1804 – 1854) gründete 1837 auf diesem Gelände eine der bedeutendsten Maschinenfabriken Deutschlands und gab damals der industriellen Revolution einen wichtigen Impuls«, heißt es dort. Das ist sehr zurückhaltend formuliert. Der auf Berlin-Geschichte spezialisierte Historiker Hanno Hochmuth stellt die Gegend in eine größere Dimension: »Es gab damals ein Viertel in Berlin, das so etwas war wie heute Silicon Valley in San Francisco, wo sich die frühe Industrie richtig geballt angesiedelt hatte: Man nannte es Feuerland.«

August Borsig – Prototyp des neuen Unternehmers


August Borsig war die Leitfigur des industriellen Aufschwungs und Unternehmertums in Preußen um die Mitte des 19. Jahrhunderts – »ideenreich, von Fortschritt und Technik fasziniert, energiegeladen, risikofreudig und zielstrebig«, so beschreibt seine Biografin Ulla Galm den ehemaligen Zimmermannsgesellen aus Breslau. Er kam 1823 im Alter von 19 Jahren nach Berlin, um hier mit einem Stipendium seiner Heimatstadt ein Studium an der Königlich-Technischen Gewerbeschule, gegründet und geleitet von dem Ministerialbeamten Christian Peter Wilhelm Beuth, aufzunehmen. Hier wurden auf Staatskosten junge Ingenieure ausgebildet, die sich verpflichten mussten, nach dem Studium eigene Unternehmen zu gründen. Dies war Teil der fortschrittlichen Industriepolitik Preußens, die vor allem im Auge hatte, zum Konkurrenten England zumindest aufzuschließen.

Der Name Beuth spielt fast 200 Jahre später, 2019 /20, noch einmal eine größere Rolle in den geschichtspolitischen Debatten Berlins. Die Technische Fachhochschule hat sich 2009 seinen Namen gegeben, um sich in die Tradition des »Vaters der angewandten Ingenieurwissenschaften« zu stellen. Zehn Jahre später stieß man auf antisemitische Positionen und Handlungen Beuths, wie sie im deutschen Bürgertum jener Jahre gang und gäbe gewesen waren. Die Hochschule entschloss sich nach kontroverser öffentlicher Debatte, den Namen zum 1. Oktober 2021 abzulegen und heißt fortan Berliner Hochschule für Technik (BHT).

August Borsig entwickelte sich zu einem Meisterschüler Beuths, auch wenn er die Schule nicht beendete, sondern sich schon vorher in die Arbeitswelt aufmachte. Er war auf die Neue Berliner Eisengießerei von Franz Anton Egells gestoßen, den ersten Maschinenbaubetrieb an der Chausseestraße. Egells konstruierte mit staatlicher Unterstützung Maschinen aller Art, darunter versuchsweise die ersten Lokomotiven. In den Augen Beuths und der preußischen Regierung war er der Prototyp des privaten Unternehmers und sollte die wirtschaftliche Entwicklung Preußens vorantreiben.

Für den jungen Borsig war das Zusammentreffen mit Egells ein Glücksfall. Der Chef erkannte das konstruktive Talent und den Erfindungsreichtum Borsigs und ließ ihn an wichtigen Projekten, wie einer großen Dampfmaschine für eine schlesische Spinnerei, mitwirken. Nach zwei Jahren wurde Borsig Betriebsleiter bei Egells, arbeitete aber gleichzeitig zielstrebig auf seine Selbstständigkeit hin, wie seine Biografin Ulla Galm es schildert. So begann er, in der unmittelbaren Nachbarschaft Land aufzukaufen. Zu jener Zeit war die Gegend vor dem Oranienburger Tor noch ländlich geprägt mit Gärten, Äckern und Wiesen. Vorausschauende Zeitgenossen wie der Tierarzt Franz Bitter hatten hier schon früh Grundstücke als Spekulationsobjekte erworben. Von ihm kaufte Borsig 1836 die Parzellen Torstraße 46 bis 53 und Chausseestraße 1, die er zum Betriebsgelände für seine eigene 1837 gegründete Eisengießerei und Maschinenbauanstalt August Borsig zusammenfasste – in unmittelbarer Nachbarschaft von Egells’ Unternehmen.

Der erste Auftrag belief sich auf 116 200 Schrauben für den Bau von Gleisanlagen der Berlin-Potsdamer Bahn. Dieser hatte fast Symbolcharakter, denn das nun auch in Deutschland aufblühende Eisenbahnwesen erwies sich als Motor für die Entwicklung der Firma Borsig. Die ersten Lokomotiven für den preußischen Bahnbetrieb kamen aus England und den USA. Doch die Hersteller schickten kein Wartungspersonal für die störanfälligen Maschinen mit. Das war die Chance für den Tüftler Borsig. Er reparierte die Lokomotiven und studierte dabei genau deren Konstruktionsweise. So entdeckte er ihre Schwächen, entwickelte bessere Lösungen zum Beispiel für eine weitere Laufachse und ließ sie sich patentieren. Sein Ziel war der Bau einer eigenen Lokomotive – 1841 war die erste »Borsig« fertig.

Eduard Biermanns Gemälde »Borsig’s Maschinenbauanstalt zu Berlin«, 1847 von August Borsig in Auftrag gegeben

Am 24. Juli 1841 erzielte er den entscheidenden Durchbruch für seine Firma. Auf der neu eröffneten Strecke vom Anhalter Bahnhof in Berlin nach Jüterbog in Brandenburg wurde eine Wettfahrt zwischen einer englischen Stephenson- und der Borsig-Lokomotive organisiert. Der Sieg war eindeutig: Die deutsche Lokomotive benötigte für die gut 60 Kilometer lange Strecke zehn Minuten weniger als die englische. Von nun an konzentrierte sich Borsigs Unternehmen auf die Produktion von Lokomotiven. 1847 verließ die 100. dampfbetriebene Zugmaschine das Werk an der Chausseestraße. August Borsig richtete für seine Belegschaft aus diesem Anlass ein Fest aus und erwies sich auch damit als ein seiner Zeit vorausdenkender Unternehmer. Mit dem Fest wollte er zum einen die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Werk, der Marke und ihrem Besitzer fördern. Borsig spürte die heraufziehenden unruhigen Zeiten, die ein Jahr später, 1848, revolutionäre Kraft entwickelten. Da war die Loyalität der eigenen Arbeiterschaft ein wertvolles Gut. Zum anderen dienten die Zeitungsberichte über das für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Ereignis der Werbung für das Unternehmen, das sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem der weltweit führenden Hersteller von Lokomotiven entwickelte.

August Borsig war zu dieser Zeit ein in der preußischen Hauptstadt gefragter und gut vernetzter Mann mit besten Beziehungen zum Königshaus, wohl bekannt mit anderen Größen jener Zeit, wie dem Generaldirektor der königlichen Gärten Peter Joseph Lenné, dem Naturforscher Alexander von Humboldt und dem Schinkel-Schüler Johann Heinrich Strack. Strack entwarf die ersten Fabrikgebäude für Borsig mit dem damals berühmten achteckigen Uhr- und Wasserturm und den eleganten Kolonnaden zur Chausseestraße. Diese Verbindungen trugen dazu bei, dass Borsig den Auftrag zum Bau des Pumpwerks für die Bewässerungsanlagen und vor allem die großen Fontänen im Park des Potsdamer Schlosses Sanssouci erhielt, die bis dahin nicht wie gewünscht funktioniert hatten. In der Folge dieses erfolgreichen Projekts erteilte das Königshaus ihm auch den prestigeträchtigen Auftrag für die Stahlkonstruktion der Kuppel des Berliner Stadtschlosses, deren Replik seit 2020 das neu errichtete Humboldt Forum auf dem Schlossplatz krönt. Die Kuppeln der Nikolaikirche in Potsdam und des Neuen Museums in Berlin ruhten ebenfalls auf Stahlkonstruktionen aus dem Hause Borsig.

Eduard Biermanns Gemälde der Borsigwerke hängt im Märkischen Museum. Es zeigt den Betrieb auf dem Borsigschen Fabrikgelände. Die weithin sichtbare Uhr auf dem Wasserturm im Zentrum bestimmt den Takt. Pünktlichkeit und Disziplin sind wichtige...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Technik Architektur
Schlagworte 13. August 1961 • 17. Juni 1953 • AEG • Asta Nielsen • Ballhaus • BND • Borsig • Brecht • Dorotheenstädtischer Friedhof • Feuerland • Fontane • Grenzübergang • Habersaath • Hanno Harnisch • Helene Weigel • Industrialisierung • Lubitsch • Mauer • Mauerbau • Ostberlin • Preußen • Schering • Siemens • Spartakus • Walter Ulbricht • Westberlin • Wolf Biermann
ISBN-10 3-86284-524-9 / 3862845249
ISBN-13 978-3-86284-524-8 / 9783862845248
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