Die zweite Schöpfung (eBook)
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01184-7 (ISBN)
Nathaniel Rich, geboren 1980, zählt zu den bedeutenden Reportern der USA. Er schreibt für das «New York Times Magazine», die «New York Review of Books» und den «Atlantic». Weltweite Bekanntheit erlangte er mit seiner Reportage «Losing Earth», die 2019 als Buch erschien. 2020 folgte der Roman «King Zeno». «Die zweite Schöpfung» wurde für den wichtigsten amerikanischen Preis für Sachbücher zu naturwissenschaftlichen Themen, den PEN/E.O. Wilson Literary Science Writing Award, nominiert.
Nathaniel Rich, geboren 1980, zählt zu den bedeutenden Reportern der USA. Er schreibt für das «New York Times Magazine», die «New York Review of Books» und den «Atlantic». Weltweite Bekanntheit erlangte er mit seiner Reportage «Losing Earth», die 2019 als Buch erschien. 2020 folgte der Roman «King Zeno». «Die zweite Schöpfung» wurde für den wichtigsten amerikanischen Preis für Sachbücher zu naturwissenschaftlichen Themen, den PEN/E.O. Wilson Literary Science Writing Award, nominiert. Thomas Gunkel, 1956 in Treysa geboren, arbeitete mehrere Jahre als Erzieher. Nach seinem Studium der Germanistik und Geografie in Marburg begann er, englischsprachige literarische Werke ins Deutsche zu übertragen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u.a. Larry Brown, John Cheever, Stewart O'Nan, William Trevor und Richard Yates. Thomas Gunkel lebt und arbeitet in Schwalmstadt (Hessen).
Einleitung Ein seltsamer Sieg – vom Leben in einer menschengemachten Welt
Der Glass Beach bei Fort Bragg ist eine der beliebtesten Attraktionen an der nordkalifornischen Küste. Er zieht mehr Besucher an als die Lost Coast, wo steile Pfade durch Nebelwälder und an Wasserfällen vorbeiführen und einen herrlichen Blick aufs Meer bieten. Am Strand bei Fort Bragg ist viel mehr los als in den Mendocino Coast Botanical Gardens und im Mendocino Headlands State Park. Vom Parkplatz am Glass Beach Drive steigen die Touristen eine steile Treppe zwischen Sandsteinklippen hinunter, um eine schmale Bucht zu fotografieren, in der von der Brandung polierte und rund geschliffene türkisblaue, braune und rubinrote Scherben funkeln. Auf Schildern werden die Besucher – im Sommer an die zweitausend pro Tag – gebeten, keine Glasscherben mitzunehmen, doch die meisten können nicht widerstehen.
2012 führte J.H. «Cass» Forrington, ein pensionierter Schiffskapitän und Besitzer des nahe gelegenen International Sea Glass Museum, in dem mehr als dreitausend vom Strand entwendete Bruchstücke ausgestellt sind, eine Kampagne, den Strand mit mehreren Tonnen Glasscherben «aufzustocken». Forringtons Argumentation war ökologisch begründet. Weil sich das Meerglas, das zum Lebensraum für mikroskopisch kleine Meereslebewesen geworden ist, in das lokale Ökosystem eingefügt habe, müsse es den gleichen Schutz genießen wie die Küstenmammutbäume, das Biberhörnchen oder der Rotbeinfrosch.
Die kalifornische Naturschutzbehörde ist dafür zuständig, «natürliche Lebensräume wegen ihres intrinsischen und ökologischen Werts und ihres Nutzens für den Menschen» zu schützen und zu erhalten. Das Schicksal des Glass Beach hing von der Definition des Begriffs «natürlich» ab. Forrington argumentierte, dass Kalifornien gesetzlich verpflichtet sei, mehr Glas auf den Sand zu kippen. «Die Behauptung, Glas wäre nicht ‹natürlich›, ist schlichtweg falsch», schrieb er in einem Manifest, in dem es von Anführungszeichen wimmelte. «Wegen des Schadens, den wir oft einem gesamten Lebensraum zufügen, neigen wir dazu, uns als irgendwie ‹unnatürlich› zu betrachten, als ‹außerhalb der Natur stehend›, aber wir sind ein integraler Bestandteil der ‹Natur› und können viel Gutes bewirken.»
Das Gute, auf das Forrington sich bezog, geht auf das Jahr 1949 zurück, als der Strand zur Mülldeponie erklärt wurde. Die Unmengen von Glasscherben, die die Bucht übersäten, waren Überreste von Bierflaschen, Rücklichtern und Tupperdosen. In den nächsten beiden Jahrzehnten wurde der Strand von den Einheimischen «die Müllkippe» genannt. Um seine natürliche Schönheit zurückzugewinnen, schrieb Captain Forrington, müsse er Jahr für Jahr unter weiteren Massen von Müll begraben werden.
Letztendlich fand die Naturschutzbehörde Captain Forringtons Definition von «Natur» nicht überzeugend und weigerte sich einzugreifen. Doch so leicht gab sich Forrington nicht geschlagen. Er verkaufte weiterhin Plastiktüten mit Glasscherben an die Touristen, die sie dann die Holztreppe hinunterschleppten und auf dem Sand ausleerten. Captain Forrington glaubte, so seinen Teil zur Rettung der Natur oder wenigstens der «Natur» beizutragen.
Noch lange nachdem das letzte Exemplar der King-James-Bibel sich in seine Bestandteile aufgelöst hat und die Venus von Milo zu Staub zerfallen ist, wird die Pracht unserer Zivilisation in dem unförmigen neonfarbenen Gestein überleben, das man Plastiglomerat nennt: einem Gemisch aus Sand, Muscheln und geschmolzenem Plastik, das entsteht, wo Schokoriegelverpackungen und Kronkorken in Lagerfeuern verbrennen. Weitere Hinweise auf unsere Zivilisation dürften die Allgegenwart von Cäsium-137, dem bei Atomexplosionen freigesetzten synthetischen Isotop, geben, die mehrtausendjährige Abnahme von Kalziumkarbonatablagerungen, eine Folge der Meeresübersäuerung, sowie die dramatische Zunahme atmosphärischen Kohlendioxids in den Gletschereiskernen (falls die Gletscher erhalten bleiben). Künftige Anthropologen können anhand dieser geologischen Marker vielleicht nicht alles über unsere Kultur erfahren, doch es dürfte ein guter Ausgangspunkt sein.
Anfangs betrachtete der Mensch die Natur als seinen Todfeind – begegnete ihr mit Vorsicht, Angst und Aggression. Der Krieg begann, noch bevor wir unserem Feind einen Namen gegeben hatten. Bereits in den frühesten Literaturzeugnissen ist dieser Angriff im Gange, geprägt von roher Kampfeslust, die Gründe dafür werden nicht hinterfragt. In «Gilgamesch und Huwawa» beschließt Gilgamesch aus Angst vor dem Tod, dass er eine Heldentat vollbringen muss, um Unsterblichkeit zu erlangen. Da er sich nichts Ehrenvolleres vorstellen kann, als einen Urwald zu zerstören, reist Gilgamesch zum heiligen Zedernberg, enthauptet den Halbgott, der den Wald schützt, macht alles dem Erdboden gleich und fertigt aus dem stattlichsten Baum ein Tor zu seiner Stadt.
Etwa 1700 Jahre später sagt Sokrates, der nur ungern die Stadtmauern von Athen verlässt, in Platos Phaidros: «Ich bin lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.» Aristoteles ist in Politik direkter: «Wenn nun die Natur nichts unvollendet und nichts nutzlos macht, so muss sie notwendig alles für die Menschen gemacht haben.» Im Alten Testament ist die «Wildnis», die Wüste, ein gottloser Ort, das Anti-Paradies. Wie in: «Er hat dich geleitet durch die große und grausame Wüste, da feurige Schlangen und Skorpione und eitel Dürre und kein Wasser war.»
«Wilderness: aus dem altenglischen -ness + wild + deor, ‹der Ort der wilden Tiere›.» Samuel Johnson definiert sie als ein «Gebiet der Einsamkeit und Rohheit». William Bradford, einer der Gründer der Plymouth-Kolonie, reagierte entsetzt auf die Neue Welt und nannte sie «abscheulich & trostlos … voll wilder Tiere & wilder Menschen». Im am weitesten verbreiteten Werk der Aufklärung, der sechsunddreißigbändigen Naturgeschichte des Comte de Buffon, wimmelt es nur so von Wörtern wie «bizarr», «ekelerregend», «gefährlich», «schrecklich» und «Schmutz».
Die Natur forderte ihre Unterwerfung heraus – zu ihrem eigenen Besten. Diesen Gedanken dehnte der amerikanische Jurist James Kent auch auf die Menschen aus, die jahrtausendelang in Harmonie mit der Natur gelebt hatten, als er eine rechtliche Grundlage dafür zu erstellen versuchte, den indigenen Völkern das Land zu entreißen. Der Kontinent, argumentierte Kent, sei «von der Vorsehung dazu bestimmt, erschlossen, entwickelt und von zivilisierten Völkern bewohnt zu werden». Das Evangelium der Natur war ein Freibrief für ihre Beherrschung, Zerstörung und Ausbeutung – und den Stolz darauf.
Einige dieser Beispiele stammen aus Roderick Nashs ikonischem Geschichtsbuch Wilderness and the American Mind, in dem er schildert, wie im neunzehnten Jahrhundert die Definition der menschlichen Beziehung zur Natur schließlich kippte. Naturwissenschaftler und Philosophen begannen, die Prämisse, dass die Natur eine Bedrohung für die Zivilisation sei, infrage zu stellen. Sie kehrten das Ganze um: Die Zivilisation sei eine Bedrohung für die Natur. Es war nun offensichtlich, dass die Menschheit ihren jahrtausendelangen Krieg gegen die Natur haushoch gewann. Doch es war ein teuer erkaufter Sieg. Der Preis war der Zusammenbruch der Zivilisation.
Diese Auffassung wurde erstmals von Alexander von Humboldt geäußert, der 1769 geboren ist, in einer Zeit, in der die Menschen sich nicht mehr vor der Natur fürchteten und stolz auf ihre Fähigkeit waren, sie zu beherrschen. Es war das Zeitalter der Dampfmaschine, der Pockenimpfung, des Blitzableiters. Zeitmessung und andere Messverfahren wurden standardisiert, die letzten blinden Flecken auf den Weltkarten ausgefüllt. Noch bevor Humboldt seine große Forschungsreise antrat und alles von Windmustern über Wolkenstrukturen und Insektenverhalten bis hin zu Bodeneigenschaften analysierte, erfasste er intuitiv, dass die Erde «ein einziger lebender Organismus» war, in dem alles miteinander verbunden ist. Heutzutage ist es normal, vom «Netz des Lebens» zu sprechen, aber dieses Konzept geht auf Humboldt zurück. Daraus folgte, dass das Schicksal einer einzigen Art vielfältige Auswirkungen auf andere Arten haben konnte. Humboldt war einer der Ersten, die vor den Gefahren von Bewässerung, profitorientierter Landwirtschaft und Waldrodung warnten. Um 1800 war er bereits zu der Erkenntnis gelangt, dass der von der industriellen Zivilisation angerichtete Schaden «unermesslich» war.
Humboldts Erkenntnisse wurden weiterentwickelt von Nachfolgern wie George Perkins Marsh (der davor warnte, dass «klimatischer Exzess» zum Aussterben der Menschheit führen könne), von Charles Darwin (der im letzten, krönenden Absatz von Über die Entstehung der Arten von Humboldt abkupferte), von Ralph Waldo Emerson («die ganze Natur [ist] eine Metapher des menschlichen Bewusstseins») und dem naturverliebten John Muir («Dieses jähe Eintauchen in reine Wildnis – eine Taufe im warmen Herzen der Natur – wie unglaublich glücklich uns das machte!»). Um die Jahrhundertwende begannen die Amerikaner zunehmend, die Wildnis als spirituelle Zuflucht vor der Mechanisierung des modernen Lebens zu betrachten. Der Schrecken hatte sich in Schwärmerei verwandelt.
Doch der romantische Blick auf die Natur erwies sich als kontraproduktiv. Er begünstigte den Schutz von Naturheiligtümern wie Yosemite und Yellowstone, entwertete aber zugleich die Wanderwege in Wäldern, Sümpfen und...
Erscheint lt. Verlag | 22.3.2022 |
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Übersetzer | Thomas Gunkel |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | Anthropozän • Apokalypse • Artensterben • CO2 • Erderwärmung • Erzählendes Sachbuch • Forschung • Genforschung • Geo-Engeneering • Hurrikan • Klimaschutz • Klimawandel • Life Sciences • Natur • Naturgewalt • New Orleans • Politisches Sachbuch • Reportage • Schöpfung • Umwelt • Umweltschutz • Unsterblichkeit • Zukunft |
ISBN-10 | 3-644-01184-2 / 3644011842 |
ISBN-13 | 978-3-644-01184-7 / 9783644011847 |
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