Es gibt Orte auf der Welt, an denen Regeln weniger wichtig sind als Freundlichkeit (eBook)
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01116-8 (ISBN)
Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell' Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt.
Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell' Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt. Monika Niehaus, Diplom in Biologie, Promotion in Neuro- und Sinnesphysiologie, freiberuflich als Autorin (SF, Krimi, Sachbücher), Journalistin und naturwissenschaftliche Übersetzerin (englisch/französisch) tätig. Mag Katzen, kocht und isst gern in geselliger Runde. Trägerin des Martin-Wieland-Übersetzerpreises 2021.
Aristoteles, der Naturwissenschaftler
Fallen Gegenstände unterschiedlichen Gewichts mit derselben Geschwindigkeit? In der Schule haben wir gelernt, wie Galileo Galilei Kugeln vom Schiefen Turm von Pisa fallen ließ und dadurch zeigte, dass die richtige Antwort «ja» lautet. Andererseits hatten die Menschen diese Tatsache über zwei vorangegangene Jahrtausende hinweg offenbar übersehen, geblendet vom Dogma des Aristoteles, dem zufolge ein Objekt desto rascher fällt, je schwerer es ist. In dieser Lesart der Geschichte ist seltsamerweise nie jemand auf die Idee gekommen zu testen, ob diese Behauptung tatsächlich stimmt oder nicht, bevor Francis Bacon und seine Zeitgenossen begannen, die Natur zu beobachten und sich von der Zwangsjacke des aristotelischen Dogmatismus zu befreien …
Das ist eine gute Geschichte, doch es gibt ein Problem damit. Werfen Sie doch einmal versuchsweise eine Glasmurmel und einen Pappbecher von einem Balkon. Im Gegensatz zu dieser schönen Legende ist es keineswegs so, dass beide Objekte zur selben Zeit auf dem Boden auftreffen: Genau wie Aristoteles sagt, fällt die schwerere Murmel viel rascher.
Zweifellos wird an diesem Punkt jemand einwerfen, dies liege am Luftwiderstand, dem Medium, das die Dinge beim Fallen durchqueren. Das stimmt, doch bei Aristoteles steht nicht, dass Objekte mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten fallen würden, wenn wir die gesamte Luft entfernten. Er schrieb, dass Objekte in unserer Welt, in der es Luft gibt, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten fallen. Er behauptete nichts Falsches. Er beobachtete die Natur aufmerksam, besser als Generationen von Lehrern und Studenten, die dazu neigen, Behauptungen zu vertrauen, ohne sie selbst zu testen.
Die aristotelische Physik hatte eine ziemlich schlechte Presse. Sie wurde so dargestellt, als basiere sie auf A-priori-Annahmen, ohne sich um Beobachtungen zu scheren, sei schlicht und einfach starrköpfig. Das ist zum großen Teil ungerecht. Die aristotelische Physik blieb nicht etwa deshalb so lange ein Orientierungspunkt für die mediterrane Zivilisation, weil sie dogmatisch war, sondern weil sie tatsächlich funktionierte. Sie liefert eine gute Beschreibung der Wirklichkeit und einen so effektiven konzeptuellen Rahmen, dass rund zweitausend Jahre lang niemand etwas Besseres vorschlagen konnte.
Im Mittelpunkt der Theorie steht die Idee, dass sich jedes Objekt ohne äußere Einflüsse auf seinen «natürlichen Ort» zubewegt: weiter unten auf die Erde, etwas höher auf das Wasser, noch ein wenig höher auf die Luft und noch höher auf das Feuer; die Geschwindigkeit der «natürlichen Bewegung» steigt mit dem Gewicht und sinkt mit der Dichte des Mediums, in dem sich das Objekt bewegt. Es ist eine einfache, umfassende Darstellung einer Vielfalt von Phänomenen – beispielsweise, warum Rauch aufsteigt und warum ein Stück Holz in Luft zu Boden fällt, im Wasser aber nach oben steigt. Als Theorie ist sie offensichtlich nicht perfekt, doch wir sollten uns daran erinnern, dass in den modernen Naturwissenschaften ebenfalls nichts perfekt ist.
Der schlechte Ruf der aristotelischen Physik ist teilweise Galileis Schuld, der in seinen Schriften einen vernichtenden Rundumschlag gegen die aristotelische Theorie führte und ihre Anhänger als dumm und einfältig darstellte. Das tat er aus rhetorischen Gründen. Die schlechte Reputation der aristotelischen Physik geht aber auch auf die unsinnige Kluft zurück, welche sich zwischen naturwissenschaftlicher Kultur und humanistisch-philosophischem Diskurs aufgetan hat. Diejenigen, die sich mit Aristoteles beschäftigen, wissen in der Regel kaum etwas über Physik, und diejenigen, die Physik studieren, interessieren sich kaum für Aristoteles. Die wissenschaftliche Brillanz von Abhandlungen wie Über den Himmel oder Physik – das Werk, von dem sich der Name dieser Disziplin ableitet –, wird daher allzu leicht übersehen.
Es gibt noch einen weiteren wichtigeren Faktor, der unsere Blindheit für seine wissenschaftliche Brillanz erklärt: die Vorstellung, es sei unmöglich, Gedanken, die das Produkt von kulturell so unterschiedlichen Universen wie dem des Aristoteles und dem der modernen Physik sind, miteinander zu vergleichen, und dass wir es daher gar nicht erst versuchen sollten. Viele der heute lebenden Historiker zeigen sich entsetzt von der Idee, in der aristotelischen Physik eine Approximation der Newton’schen Physik zu sehen. Um den originären Aristoteles zu verstehen, argumentieren die Verfechter dieser Ansicht, müssen wir ihn im Lichte seines Kontextes untersuchen und nicht im konzeptuellen Rahmen späterer Jahrhunderte.
Das mag der Fall sein, wenn wir Aristoteles besser verstehen wollen, aber wenn wir das heutige Wissen verstehen wollen und uns dafür interessieren, wie es sich aus der Vergangenheit herauskristallisierte, sind es gerade die Beziehungen zu entlegenen Welten, die uns interessieren.
Philosophen und Historiker wie Karl Popper und Thomas Kuhn, die starken Einfluss auf das zeitgenössische Denken hatten, haben die Bedeutung von Brüchen im Lauf unserer Wissensentwicklung betont. Beispiele für solche «wissenschaftlichen Revolutionen», in denen eine alte Theorie aufgegeben wird, sind der Wechsel von Aristoteles zu Newton und von Newton zu Einstein. Nach Kuhn kommt es im Verlauf eines solchen Übergangs zu einer radikalen Restrukturierung des Denkens, und zwar in einem solchen Maße, dass die früheren Ideen irrelevant, ja unverständlich werden. Sie sind mit der Folgetheorie «unvereinbar», so Kuhn.
Popper und Kuhn gebührt das Verdienst, den Fokus auf diesen revolutionären Aspekt der Wissenschaft und die Bedeutung von Brüchen gerichtet zu haben, doch ihr Einfluss hat zu einer absurden Entwertung der kumulativen Aspekte des Wissens geführt. Noch schlimmer ist das Versäumnis, die logischen und historischen Beziehungen zwischen Theorien vor und nach jedem bedeutenden Fortschritt zu erkennen. Newtons Physik lässt sich problemlos als Approximation an Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie erkennen. Aristoteles’ Physik lässt sich ohne Probleme als Approximation innerhalb der Newton’schen Theorie erkennen.
Das ist noch nicht alles, denn innerhalb der Newton’schen Theorie kann man Merkmale der aristotelischen Physik wiederfinden. Die großartige Idee, beispielsweise, die «natürliche» Bewegung eines Körpers von derjenigen zu unterscheiden, die «erzwungen» wurde, bleibt in der Newton’schen Physik erhalten, ebenso später in Einsteins Theorie. Was sich verändert, ist die Rolle der Schwerkraft; die Gravitation ist eine Ursache für erzwungene Bewegungen in Newtons Physik (in der die natürliche Bewegung immer gleichförmig geradlinig ist), während sie bei Aristoteles ein Aspekt der natürlichen Bewegung ist, wie auch seltsamerweise erneut bei Einstein (wo die natürliche Bewegung, die als «geodätisch» bezeichnet wird, wieder wie bei Aristoteles zur Bewegung eines Objekts im freien Fall zurückkehrt).
Der wissenschaftliche Fortschritt entsteht weder allein durch eine Anhäufung von Wissen noch durch absolute Revolutionen, bei denen alles Alte entsorgt wird und wir wieder ganz von vorn beginnen. Wissenschaftler sind vielmehr, wie es Otto Neurath in einer wunderbaren Analogie formulierte, «wie Schiffer …, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können. Wo ein Träger fortgenommen wird, muss er sofort durch einen neuen ersetzt werden, und dafür wird der Rest des Schiffes als Stütze verwendet. Auf diese Weise können wir das Schiff nach und nach ersetzen, das wir aber nie von Grund auf neu errichten können.»
In dem großen Schiff der modernen Physik können wir noch immer seine alten Strukturen erkennen – so wie die Unterscheidung zwischen natürlichen und erzwungenen Bewegungen –, die zuerst im alten Schiff des aristotelischen Denkens aufgekommen ist.
Lassen Sie uns zu den Körpern zurückkehren, die durch Luft bzw. Wasser fallen, und schauen, was tatsächlich passiert. Weder erfolgt der Fall eines Objekts mit konstanter Geschwindigkeit und hängt vom Gewicht ab, wie Aristoteles behauptete, noch erfolgt er mit konstanter Beschleunigung und unabhängig vom Gewicht, wie Galilei argumentierte (auch dann nicht, wenn wir die Reibung vernachlässigen). Wenn ein Objekt fällt, beschleunigt sich seine Bewegung in der Anfangsphase, stabilisiert sich dann, und das Objekt fällt mit einer konstanten Geschwindigkeit weiter, die für schwerere Körper höher ist. Diese zweite Phase wird von Aristoteles gut beschrieben. Die erste Phase ist hingegen gewöhnlich sehr kurz und schwierig zu beobachten; daher ist sie ihm nicht aufgefallen. Die Existenz dieses Initialstadiums ist aber bereits in der Antike bemerkt worden: So stellte Strato von Lampsacus bereits 300 v. Chr. fest, dass sich ein fallender Wasserstrahl in Tropfen aufteilt, was darauf hindeutet, dass sich die Tropfen beim Fallen beschleunigen, genauso, wie sich eine Autoschlange auseinanderzieht, wenn die Fahrzeuge beschleunigen.
Um diese Initialphase zu untersuchen, was ziemlich schwierig ist, weil alles so schnell geschieht, entwickelt Galilei eine brillante Strategie. Statt fallende Körper zu beobachten, studiert er Kugeln, die eine leicht geneigte Ebene hinunterrollen. Seine Intuition, die wohlfundiert, aber damals schwierig zu belegen war, sagt ihm, dass der «rollende Fall» der Kugeln die Bewegung von frei fallenden Körpern reproduziert. Auf diese Weise gelingt es Galilei festzustellen, dass es die Beschleunigung ist, die zu Anfang eines Falls konstant bleibt, nicht die Geschwindigkeit. Galilei deckte dieses für...
Erscheint lt. Verlag | 12.4.2022 |
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Übersetzer | Monika Niehaus, Niklas Osterloh |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Aristoteles • Dante • Darwin • Einstein • Gesellschaft • Hawking • Humanismus • Kosmologie • Newton • Philosophie • Physik • Populäres Sachbuch • Popular science • Roger Penrose • Wissenschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-644-01116-8 / 3644011168 |
ISBN-13 | 978-3-644-01116-8 / 9783644011168 |
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