T wie Testosteron (eBook)

Alles über das Hormon, das uns beherrscht, trennt und verbindet | Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und wie wir sie uns zu Nutze machen können.
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2022 | 1. Auflage
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2713-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

T wie Testosteron -  Carole K. Hooven
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Erst wenn wir alles über das Testosteron wissen, können wir uns selbst und einander besser verstehen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Testosteron eine potente Kraft in unserer Gesellschaft ist, die die Geschlechter voneinander unterscheidet. Wie die Evolutionsbiologin Carole Hooven zeigt, sorgt das Hormon für viele verschiedene  männliche und weibliche Verhaltensweisen. Aber auch wenn viele Geschlechtsunterschiede in der Biologie begründet sind, lassen sich davon nicht zwingend restriktive Geschlechternormen oder patriarchalischen Werte ableiten. Hooven beschreibt das komplexe Zusammenspiel zwischen Genen, Hormonen, sozialem Umfeld und Erfahrungen, das uns zu dem macht, was wir sind. Dabei deckt Hooven wirkungsvoll falsche oder irreführende Annahmen über Testosteron auf. Ein unverzichtbares und höchst informatives Buch für eine gerechtere und harmonischere Gesellschaft.

Dr. CAROLE HOOVEN ist Dozentin und Co-Direktorin der Abteilung für menschliche Evolutionsbiologie an der Harvard University. Sie selbst promovierte in Harvard über Geschlechtsunterschiede und Testosteron und lehrt dort seither. Für ihre beliebten Kurse erhielt sie bereits zahlreiche Lehrpreise.

Dr. CAROLE HOOVEN ist Dozentin und Co-Direktorin der Abteilung für menschliche Evolutionsbiologie an der Harvard University. Sie selbst promovierte in Harvard über Geschlechtsunterschiede und Testosteron und lehrt dort seither. Für ihre beliebten Kurse erhielt sie bereits zahlreiche Lehrpreise.

KAPITEL 2

Innere Ausscheidungen

REINHÄNGEN ODER RAUSHÄNGEN?

Stellen wir uns einmal ein paar Männchen aus dem Tierreich vor: Ein Frosch hüpft am Rand eines Teiches entlang, ein Elefant weidet in der afrikanischen Savanne, eine Möwe kreist über unseren Köpfen. Und jetzt stellen wir uns vor, ein Mann würde (nackt wie alle anderen Tiere) seinen Hund auf der Straße spazieren führen. Bei welchem dieser fünf Tiere sind die Hoden zu sehen? Das Bild, auf dem die Keimdrüsen von Frosch und Vogel in der Luft pendeln, scheint deplatziert, also stehen diese beiden Tiere vermutlich nicht auf unserer Liste. Was ist mit dem Elefanten? Die Vorstellung von hängenden Elefantenhoden ist zwar irgendwie naheliegend, aber falsch. Den Dickhäuter zu kastrieren, wäre eine echte Herausforderung. Wie bei Fröschen, Möwen und den meisten anderen Wirbeltieren liegen die Hoden eines Elefanten tief in seinem Körper verborgen. Der nackte Mann und sein Hund? Bei beiden Säugetieren sind die Hoden »abgestiegen« und hängen in einem Hautsack an der Leiste. Diese kostbaren, empfindlichen Organe, diese Samen- und Testosteronfabriken scheinen auf bizarre Weise verletzlich zu sein, hängen sie doch in einem Beutel aus dünner Haut.

Als Frau kann ich nur hilflos zusehen, wenn ein vergnügtes Football-Spiel plötzlich zur Qual wird, weil sich ein Spieler, zusammengekrümmt wie ein Fötus, auf den Boden wirft, sich windet und stöhnt. Ein Tritt, ein Schlag oder auch nur ein Klaps auf die Hoden scheint quälend schmerzhaft zu sein. Wenn so etwas geschieht, kann sich ein Mann vielleicht damit trösten, dass die Evolution die Schmerzen aus einem bestimmten Grund geschaffen hat: Wenn es wie verrückt wehtut, ist das Bemühen intensiver, ähnliche Situationen in Zukunft zu vermeiden. Aber ebenso, wie wir eine überzeugende Erklärung liefern müssten, wenn wir unser gesamtes Bargeld in einer Papiertüte auf die Fußmatte vor die Haustür legen würden, so muss die Evolution die Frage beantworten, warum sie diese kostbare Fracht überhaupt erst so verletzlich heraushängen lässt. Warum sind die Hoden nicht immer im Körperinneren untergebracht wie Herz und Gehirn?

In der Embryonalentwicklung aller Säugetiere liegen die Hoden zu Anfang in der Bauchhöhle nicht weit von den Nieren. Und bei den meisten Säugetieren einschließlich des Menschen steigen sie im Spätstadium der Schwangerschaft durch die Wirkung des Testosterons in den Hodensack ab. Bei Elefanten und einigen anderen Säugetieren jedoch, so beim Kap-Goldmull (der wie eine Mischung aus einem kleinen Igel und einem Hamster aussieht), Robben, Walen und Delfinen bleiben die Hoden wie die empfindlicheren weiblichen Eierstöcke an ihrem ursprünglichen Platz in der Bauchhöhle. Warum ist das so?

Genetische Befunde aus jüngerer Zeit legen die Vermutung nahe, dass die ersten Säugetiere ihre männlichen Keimdrüsen heraushängen ließen. Als aber der Evolutionsstammbaum der Säugetiere wuchs und sich immer weiter verzweigte, führten einige solche Zweige auch zu Arten, deren Gene für innere Hoden sorgten.1 Warum diese Arten einen anderen Weg einschlugen, weiß niemand genau, aber äußere Hoden müssen irgendeinen Nutzen haben – sonst hätte die Evolution sie durch die Bank ausgemerzt.

Eines weiß jeder Mann: Der Hodensack ist nicht einfach eine unbewegliche Tasche. Wenn ein Mann in kaltes Wasser eintaucht, spürt er, wie sich die Kremastermuskeln im oberen Teil des Hodensacks zusammenziehen und die Hoden näher an den wärmeren Körper drücken – manchmal so stark, dass es wehtut. Und wenn er seinen warm gelaufenen Laptop auf die Oberschenkel legt, entspannen sich die Muskeln, lockern den Griff und bemühen sich darum, die Hoden weiter vom Körper entfernt herunterhängen zu lassen. Wir wissen, dass der Hodensack der Klimasteuerung dient: Er sorgt dafür, dass die Temperatur der Hoden optimal ist, um Samenzellen zu produzieren. Dieses Optimum liegt ungefähr vier Grad niedriger als die Temperatur im Inneren des Körpers. (Wer für eine maximale Samenproduktion sorgen will, sollte enge Unterwäsche und zu langes Fahrradfahren vermeiden.2) Säugetiere mit inneren Hoden schaffen es ebenfalls, eine optimale Temperatur aufrechtzuerhalten, aber dazu dienen ihnen andere Systeme.3 Die Frage nach den Gründen für die unterschiedliche Lage der Hoden bei verschiedenen Arten ist bis heute nicht beantwortet.

Wenn man verstehen will, was Hormone sind und in welchem Zusammenhang sie mit der Männlichkeit stehen, sind die hängenden Hoden ein Glücksfall. Sie können entfernt werden, ohne ihren Eigentümer zu töten, und die nachfolgenden Veränderungen am Tier lassen sich leicht beobachten. Da der Zugang also relativ einfach ist, wissen die Menschen schon seit mehr als 2000 Jahren, dass die Hoden entscheidenden Einfluss auf Aussehen, Verhalten und Fortpflanzungsfähigkeit männlicher Tiere haben. Die moderne Verhaltensendokrinologie – die Erforschung der hormonellen Einflüsse auf das Verhalten – hat ihre Wurzeln in diesem uralten Wissen um die Wirkung der Hoden.

In dem vorliegenden Kapitel gehen wir der Frage nach, wie das Wissen um die Hoden zu einigen (nach heutigen Maßstäben) wahrhaft bizarren gesellschaftlichen Praktiken geführt hat und im 19. und 20. Jahrhundert die Voraussetzungen schuf, die zur Entdeckung des Testosterons führten. Mit ihrem Einfluss auf unser Gehirn und unseren Körper tragen die Hormone dazu bei, dass wir überleben und uns fortpflanzen können.

Deshalb wollen wir uns zunächst die Hoden ansehen und dann herausfinden, wie T seine magischen Wirkungen entfaltet.

Schon im vierten Jahrhundert v. Chr. machte sich Aristoteles Gedanken darüber, welche Veränderungen eine Kastration – die Entfernung der Hoden eines Tieres – auslöst. In seiner Geschichte der Tiere stellte er fest, dass die Unterschiede zwischen »intakten« und kastrierten Tieren an die zwischen Männern in verschiedenen Lebensstadien (Jugend, Mannesalter, Greisenalter) erinnern, aber auch an die zwischen Tieren, die sich fortpflanzen oder nicht fortpflanzen wie die Vogelmännchen, die im Frühling laut und bunt sind, im Herbst aber viel weniger auffallen. Kastrierte Tiere lieferten ein Indiz, dass die Hoden für Entwicklung und Aufrechterhaltung bestimmter männlicher Körper- und Verhaltensmerkmale verantwortlich sind:

»Manche Tiere ändern ihre Form und ihr Wesen nicht in einem bestimmten Alter oder zu bestimmten Jahreszeiten, sondern nachdem sie kastriert wurden […] Vögel werden am Hinterteil an der Stelle kastriert, an der sich die beiden Geschlechter vereinigen. Brennt man diese zwei- oder dreimal mit heißen Eisen aus, wenn der Vogel ausgewachsen ist, wird sein Kamm blass, er krächzt nicht mehr und er zeigt keinerlei geschlechtliche Leidenschaft. Brennt man den Vogel aber aus, wenn er noch jung ist, nimmt er keine dieser männlichen Eigenschaften oder Neigungen an, wenn er heranwächst. Bei Männern ist das Gleiche der Fall: Verstümmelt man sie im Knabenalter, kommen nie die später wachsenden Haare, und die Stimme verändert sich nicht, sondern behält den hohen Klang […]. Der angeborene Haarwuchs fällt nie aus, denn ein Eunuch wird niemals kahlköpfig.«4

Als »Eunuch« (von den griechischen Begriffen für »Bett« und »bewachen«) kann jeder Mann bezeichnet werden, der kastriert wurde, insbesondere aber dann, wenn er auch als Diener oder Beschützer eines Harems tätig ist.

Ob es nun darum ging, Feinde oder Vergewaltiger zu bestrafen, zu verhindern, dass geistig behinderte Menschen Kinder bekamen, um die hohe Stimme eines kleinen Jungen zu bewahren, die Rolle einer Frau zu verkörpern oder einen Diener weniger wollüstig zu machen: Die Kastration war in vielen Kulturen und Zeitaltern üblich.

KASTRATEN

»Sixtinische Kapelle bricht mit 500-jährigem Tabu und nimmt Sopranistin in den Chor auf«: Diese Schlagzeile stand 2017 über einem Bericht über die erste Frau, die (zumindest mit Genehmigung des Vatikans) in der Sixtinischen Kapelle singen durfte. In dem Artikel wurde die berühmte italienische Opernsängerin Cecilia Bartoli mit den Worten zitiert, sie sei »im siebten Himmel gewesen«, als sie die Gelegenheit erhielt, an einem Abend zusammen mit fünfzig Männern und Knaben im Chor der Sixtinischen Kapelle zu singen.5 Warum das ganze Tamtam?

Der Heilige Stuhl hat nie gestattet, dass Frauen in Kirchen singen. Mit Bartolis Tabubruch erklang zum ersten Mal eine weibliche Stimme in der Sixtinischen Kapelle.

Danach ging es weiter wie bisher: Der Chor der Sixtinischen Kapelle besteht noch heute ausschließlich aus Männern. Wie kann ein solcher Chor ohne Sängerinnen, die hohe Töne singen, die Sopranpartien besetzen? Die Antwort: Er greift auf Männer zurück, deren Hoden noch kein Testosteron produzieren – auf Jungen vor der Pubertät. Später wird der steigende T-Spiegel für Veränderungen in den Stimmorganen sorgen, sodass ihre Stimme »bricht« und tiefer wird. Es gibt zwar Ausnahmen, aber wenn solche Jungen zu Männern heranwachsen, können sie sich in der Regel von ihren engelsgleichen Sopranstimmen verabschieden. Es gibt allerdings einen Weg, um die Fähigkeit zum Singen hoher Töne zu erhalten und sogar zu stärken, wenn sie sich mit der großen, kräftigen Lunge eines ausgewachsenen Mannes verbindet.

Seit Mitte des 16. Jahrhunderts nutzten Opernhäuser und Chöre diese Methode und besetzten ihre Sopranstimmen mit Kastraten, männlichen Sängern, denen die Hoden vor der Pubertät chirurgisch entfernt wurden, das heißt, bevor sie ihnen eine männliche Stimme verleihen...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2022
Übersetzer Sebastian Vogel
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Evolution • Evolutionsbiologie • Frau • Geschlecht • Geschlechter • Geschlechternormen • Geschlechtsunterschiede • Gesellschaft • Gleichberechtigung • Hormon • Hormone • Mann • Patriarchat • Politik • Potenz • Sex • Soziales Umfeld • Sport • Testosteron • Ungleichheit
ISBN-10 3-8437-2713-9 / 3843727139
ISBN-13 978-3-8437-2713-6 / 9783843727136
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