Walfahrt (eBook)

Über den Wal, die Welt und das Staunen | Eine sprachmächtige Einladung zum Naturerlebnis 'Whale-Watching'

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2717-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Walfahrt -  Oliver Dirr
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Mystische Giganten: vom besonderen Glück, Wale zu beobachten In seinem Buch unternimmt Oliver Dirr eine ebenso lebendige wie persönliche Walfahrt einmal rund um die Welt. Dabei geht es um mehr als die bloße Entwicklung vom Stubenhocker zum Walforscher - Walfahrt ist eine begeisterte und begeisternde Einladung, die menschliche Existenz mal ein bisschen aus dem Zentrum der Weltwahrnehmung zu rücken und sich stattdessen voller Staunen auf die kleinen und großen Wunder der Meere einzulassen.

Oliver Dirr, Jahrgang 1978, war viele Jahre Redaktionsleiter bei den Magazinen NEON und NIDO. Bis er anfing, sich für Wale zu interessieren. Und für Walforschung. Heute verbringt er so viel Zeit wie möglich auf dem Wasser und betreibt mit »whaletrips.org« die wahrscheinlich größte Walseite der Welt. In zahlreichen Medien taucht er regelmäßig als Walexperte auf. »Walfahrt« ist sein erstes Buch.

Oliver Dirr, Jahrgang 1978, war viele Jahre Redaktionsleiter bei den Magazinen NEON und NIDO. Bis er anfing, sich für Wale zu interessieren. Und für Walforschung. Heute verbringt er so viel Zeit wie möglich auf dem Wasser und betreibt mit »whaletrips.org« die wahrscheinlich größte Walseite der Welt. In zahlreichen Medien taucht er regelmäßig als Walexperte auf. »Walfahrt« ist sein erstes Buch.

#1

69° Nord

FLUKEN IM NORDLICHT – WINTER IM ARKTISCHEN NORDEN NORWEGENS

»Phhhuuuuuhhh!!«

Wow, Dag hatte recht, man kann sie tatsächlich vom Ufer aus hören. Irre! Vorhin, bei unserer Ankunft, hatte er gleich ganz euphorisch berichtet, dass der Fjord wirklich voller Wale sei. »Es ist phantastisch«, hatte er gesagt, »es sind so viele, und sie sind so nah, dass ihr sie sogar ATMEN HÖREN könnt«, und seit Theresa das wusste, konnte sie es kaum noch abwarten, endlich hier rauszukommen und sich das selbst anzusehen.

Beziehungsweise: anzuhören.

Denn zu sehen gibt es gerade nichts.

Es ist ein Nachmittag kurz vor Weihnachten. Die dunkelste Zeit des Jahres, ganz besonders hier. Wir stehen am Rand des eisigen Bergsfjords, hoch oben im arktischen Norden Norwegens, weit oberhalb des Polarkreises – und wir können kaum die eigenen Hände vor Augen sehen, geschweige denn die vielen Wale im Fjord. Tiefschwarze Nacht, mitten am Tag. Norwegen im Winter.

»Sschhhuuuuuhhhhh!«

Draußen im Fjord ertönt der mächtige Blas der Wale. Wir hören sie von links, von rechts, von weiter draußen, sie sind überall. Sonst ist nichts zu hören, kein Wind, kein Verkehr, keine Menschenseele. Totale Stille. Nur das friedliche Plätschern des Fjords und der gleichmäßige Atem der Wale.

Theresa und ich hatten die Idee gehabt, den Winter etwas weiter nördlich zu verbringen. Ich hatte irgendwo gelesen, dass man rund um Tromsø im Winter nicht nur Nordlichter beobachten kann, sondern auch Wale, und das ist natürlich eine ganz phantastische Kombination. Im Internet hatte ich ein hübsches ehemaliges Posthäuschen entdeckt, nicht weit von Tromsø entfernt und mitten am malerischen Bergsfjord mit seinen vielen Inseln und dem karibisch blauen Wasser gelegen. Trude Mørkved und Dag Strømholt hatten es vor einer Weile gekauft und liebevoll wieder hergerichtet. Jetzt beherbergen sie dort das ganze Jahr über Gäste, direkt am Rand des Fjords.

»FFFUUUMMMPHHH!!«

Noch ein Blas, sehr laut, Theresa erschrickt direkt ein bisschen. »Oh! Der war nah«, sage ich, »gleich hier am Ufer.«

»Das sind Buckelwale, die sind noch mal etwas lauter als die Orcas«, antwortet Trude, und das ist genau das, was Theresa hören will: Orcas! Denn natürlich sind es die Orcas, wegen denen wir hier sind. Nach der Orcatour in Kanada war Theresa der Meinung gewesen, dass man dieses Erlebnis durchaus wiederholen sollte. Und warum nicht mal im Winter.

Dag erzählt, dass er im vorigen Jahr morgens beim Kaffee am Frühstückstisch mit bestem Blick auf den Fjord saß – als draußen plötzlich eine schwarze Finne auftauchte. »Wie ein riesiges Schwert zog sie da ganz ruhig und gleichmäßig durchs Wasser.« Kurz darauf eine zweite, gleich neben der ersten. Dann eine dritte, eine vierte, noch eine und noch eine. »Orcas! Hier im Bergsfjord! Mir wäre fast die Tasse aus der Hand gefallen.«

Viele Jahre lang waren die Wale im Winter ein paar Hundert Kilometer weiter südlich aufgetaucht, hier hatten Trude und Dag sie noch nie gesehen. Doch in den folgenden Tagen kamen sie wieder, immer in kleinen Gruppen. »Sie schwammen tief in den Fjord hinein, nur kurz, nach ein paar Stunden waren sie schon wieder weg.« Kleine Spähtrupps, die erkundeten, ob es sich lohnen würde, den Winter über in diesem Fjord zu jagen.

Es lohnte sich, offensichtlich, denn ein paar Tage später kamen die Orcas zurück – dieses Mal in voller Stärke. Und sie blieben. Mit ihnen kamen auch die Buckelwale, ebenfalls in großer Zahl. Und jetzt ist der Bergsfjord im Winter also voller Wale.

»Sschhhuuuuuhhhhh!«

»Phhhuuuuuhhh!!«

»Fffuuummmpphhh!«

Drei Atemzüge, direkt hintereinander. »Ihr habt euch wirklich die allerbeste Zeit ausgesucht, um herzukommen«, sagt Trude, »aber jetzt kommt erst mal richtig an, die Wale werden die ganze Woche hier sein – und ab morgen fahren wir zu ihnen raus.« Theresa und ich bleiben noch eine Weile am Ufer stehen. Eine tiefe, friedliche Ruhe liegt über diesem Ort. Theresa ist selig. Ja, hier bleiben wir! Da es mit minus fünfzehn Grad recht frisch ist, setzen wir uns jetzt aber lieber erst mal an den Kamin.

Die Fjorde von Tromsø liegen gut dreihundertfünfzig Kilometer nördlich des Polarkreises, das ist 69° Nord. Nirgendwo auf der Welt kommt man im Winter so weit nach Norden wie hier, zumindest nicht so komfortabel. 69° Nord, das ist nördlich von Island, nördlich der meisten bewohnten Teile Grönlands, nördlich des arktischen Kanada, nördlich von Alaska und ja, auch nördlich von Sibirien. Niemand käme auf die Idee, im Winter nach Sibirien zu fahren.

Auf 69° Nord gibt es rund um die Welt endlose Weite, kahle Tundra, ewiges Eis und nur wenige Menschen. In Tromsø dagegen gibt es Hotels, Cafés, Restaurants, Geschäfte, sogar einen Flughafen. Und jede Menge Reisende aus aller Welt. Im Gegensatz zu Sibirien ist Tromsø im Winter ziemlich gut besucht, und das ist vor allem dem Golfstrom zu verdanken, der gewaltige Wassermassen aus der Karibik bis in den hohen Norden Europas schiebt – eine gigantische Heizung, über die sich der halbe Kontinent freut. Ohne würde es zapfig werden, so jedoch lässt es sich bei minus zehn bis minus zwanzig Grad ganz gut aushalten.

Aufgrund dieser klimatischen Vorteile und der optimalen Anbindung ist im winterlichen Tromsø also einiges los. Allerdings ist es so, dass die meisten Menschen, die im Winter nach Tromsø reisen, vor allem planen, die Stadt möglichst schnell wieder zu verlassen. Das liegt weniger an Tromsø selbst, sondern an der vielen Natur drumherum. Man kann hier Nordlichter anschauen, Wale beobachten, Hundeschlitten fahren und Rentiere streicheln, außerdem kann man Eisfischen, Schneewandern, Skifahren oder einfach mal wieder einen Schneemann bauen. Die ganze Stadt ist ein einziges Tourangebot, wahrscheinlich wird sie auch deshalb das »Tor zur Arktis« genannt.

In Tromsø selbst gibt es einen kleinen Hafen, eine gläserne Bibliothek, die eisig-weiße Eismeerkathedrale, eine Roald-Amundsen-Statue, das Polarmuseum und die berühmte Tromsø-Brücke, die mit ihren knapp vierzig Metern Höhe gerade hoch genug ist, damit die vielen Hurtigruten-Schiffe auf ihrem Weg zum Nordkap noch darunter hindurch passen. Außerdem gibt es die Bastard Bar und einen Plattenladen, der sämtliche Platten des Elektropop-Duos Røyksopp hat, weil Røyksopp eben aus Tromsø kommen. Das ist es im Prinzip.

Einer der berühmtesten Söhne der Stadt war der etwas verrückte Trapper Henry Rudi, der von 1889 bis 1970 wirkte und in dieser Zeit rekordverdächtige siebenundzwanzig Winter in der Arktis verbrachte. Ich habe Trapperhütten auf Spitzbergen gesehen, das sind einsame Bretterverschläge mitten im Nirgendwo, mühsam und wacklig in die Tundra gezimmert, nicht viel größer als ein Schuhkarton und von der Zivilisation ähnlich weit entfernt wie der Mond. Man muss die Arktis schon sehr lieben und ein enormes Vertrauen in den natürlichen Lauf der Dinge haben, um in solch einem Verhau auch nur einen Winter zu verbringen. Geschweige denn siebenundzwanzig.

Als Trapper war es Henry Rudis Beruf, Pelztiere zu jagen. Er war ganz gut darin. Im Lauf der Jahre fing und schoss er nach eigener Rechnung siebenhundertdreizehn Eisbären, und als er irgendwann auch noch auf die Idee kam, junge, durch ihn verwaiste Eisbären als Haustiere zu halten, hatte er in den norwegischen Medien den Spitznamen »Isbjørnkongen« weg, »der Eisbärkönig«.

Das Polarmuseum in Tromsø hat Henry Rudi einen eigenen Raum gewidmet – ebenso wie Roald Amundsen, der immerhin die Nordwestpassage entdeckt, als Erster den Südpol erreicht und den Nordpol mit dem Luftschiff überflogen hat. Gleich neben einer schweren Büste des großen Entdeckers mit der noch größeren Nase hängen unzählige Artikel über den Eisbärkönig Henry Rudi.

Auf einem der Fotos ist er dabei zu sehen, wie er freudig und wild mit den Armen fuchtelnd auf einem Bären reitet, der entweder beeindruckend gut dressiert oder bereits tot und gefroren ist. Nach seinem Schaffen als Trapper ging Henry Rudi den ausgestellten Artikeln zufolge noch für einige Jahre im norwegischen Jetset des frühen 20. Jahrhunderts ein und aus, für seine Leistungen erhielt er sogar die Königliche Verdienstmedaille in Silber. Jede Zeit hat ihre Helden.

Das Polarmuseum in Tromsø ist unbedingt einen Besuch wert, besonders zu Beginn einer Reise, wenn sich die innere Uhr noch orientieren muss. Denn wer im Winter so weit nach Norden reist, muss den eigenen Tagesablauf radikal umstellen – man muss sich mit allem beeilen, zumindest, wenn man sich draußen aufhalten und dabei noch etwas sehen will.

Nordnorwegen im Dezember, das bedeutet knappe vier Stunden Helligkeit pro Tag, und selbst diese Helligkeit hat wenig zu tun mit der Helligkeit eines normalen Wintertages in, sagen wir, München. Es gibt einfach keine Sonne hier, wer sie sehen möchte, müsste ein paar Hundert Kilometer nach Süden fahren. Stattdessen wabert das, was sie hier »Tag« nennen, von der Morgendämmerung ohne große Umschweife direkt in die Abenddämmerung hinein, mit einem kurzen Helligkeitshoch zwischen elf und drei. Zu allen anderen Zeiten ist es entweder schwarz oder sehr schwarz.

Direkt im Anschluss an den Sommer werden die Tage hier sehr schnell kürzer, um die Jahreswende herum dann sehr langsam wieder länger. Der dunkelste Tag ist der 22. Dezember, auf den arbeiten alle hin, danach geht es aufwärts, jeden Tag mit ein paar Minuten mehr Helligkeit, Mitte Januar sind es schon wieder fünf bis sechs Stunden...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2022
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Technik
Schlagworte Atlantik • Australien • Blauwale • Buckelwal • Delfine • Fischkutter • Grauwale • Hawaii • Kanaren • Meeresforschung • Naturschutz • Norwegen • Orcas • Pazifik • Säugetiere • Schwertwal • Südafrika • Vancouver Island • Wale
ISBN-10 3-8437-2717-1 / 3843727171
ISBN-13 978-3-8437-2717-4 / 9783843727174
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