Das Zeitalter der Unschärfe (eBook)
400 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11709-7 (ISBN)
Tobias Hürter, geboren 1972, studierte Philosophie und Mathematik in München und Berkeley. Danach arbeitete er als Redakteur bei der MIT Technology Review und bei der Zeit und war stellvertretender Chefredakteur des Philosophie-Magazins Hohe Luft, das er mitbegründet hatte. Heute arbeitet er als freier Journalist, u. a. für Hohe Luft und Zeit Wissen.
Tobias Hürter, geboren 1972, studierte Philosophie und Mathematik in München und Berkeley. Danach arbeitete er als Redakteur bei der MIT Technology Review und bei der Zeit und war stellvertretender Chefredakteur des Philosophie-Magazins Hohe Luft, das er mitbegründet hatte. Heute arbeitet er als freier Journalist, u. a. für Hohe Luft und Zeit Wissen.
Paris 1903
Die ersten Risse
Paris, an einem Sommerabend im Juni 1903. Ein Garten im Boulevard Kellermann im 13. Arrondissement. Licht fällt aus den Fenstern auf den Rasen, eine Tür geht auf, frohe Stimmen dringen heraus, dann strömt eine kleine Festgesellschaft auf die Kieswege, in ihrer Mitte eine Frau in einem schwarzen Kleid: die Physikerin Marie Curie, 39. Ihr sonst oft angespanntes Gesicht ist gelöst und froh. Sie hat zu ihrer Promotionsfeier eingeladen.
Marie ist auf einem Höhepunkt ihrer Karriere. Als erste Frau in Frankreich wurde ihr der Doktortitel in einer Naturwissenschaft verliehen, mit der Auszeichnung »très honorable«.2 Als erste Frau überhaupt ist sie für den Nobelpreis nominiert.
An Maries Seite strahlt ihr Mann Pierre vor Stolz. Sie ist umringt von ihrer älteren Schwester Bronia, ihrem Doktorvater Gabriel Lippmann, ihren Kollegen Jean Perrin und Paul Langevin und mehreren ihrer Schülerinnen. Der neuseeländische Physiker Ernest Rutherford feiert mit, er ist gerade mit seiner Frau Mary auf Hochzeitsreise – endlich, die Hochzeit liegt schon drei Jahre zurück. Rutherford und Marie Curie sind Konkurrenten, beide erforschen den Bau der Atome und widersprechen einander vehement. Doch dieser Streit soll heute Abend ruhen. Heute wird gefeiert.
Der Weg, der für Marie in diesen glücklichen Abend mündete, beginnt fernab der französischen Metropole, im Warschau der 1860er Jahre. Polen ist zwischen den Großmächten Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt, Warschau steht unter der Zwangsherrschaft des russischen Zaren. Niemand darf sein Heimatland laut »Polen« nennen. Am 7. November 1867 wird dort Maria Skłodowska als letztes von fünf Kindern eines Lehrerehepaars geboren. Die Gesinnung der Familie ist gegen die Besatzer gerichtet. Der Vater tut sein Bestes, seine Töchter zu unabhängigem Denken zu erziehen. Als Mania, wie Maria zuhause gerufen wird, vier Jahre alt ist, meidet die tuberkulosekranke Mutter den Kontakt zu ihren Kindern. Sie möchte keines ihrer Kinder anstecken und stirbt nach langem Kampf gegen die damals noch unheilbare Krankheit.
Mania braucht mehr als zehn Jahre, um ihre Lebensfreude wiederzugewinnen. Zuerst flüchtet sie sich ins Lernen, vergräbt sich in Bücher, bringt es mit unerbittlichem Fleiß zur Jahrgangsbesten im kaiserlichen Gymnasium. Mit 15 erleidet sie unter dem Druck, unter den sie sich selbst setzt, einen Nervenzusammenbruch. Ihr alleinerziehender Vater schickt sie zur Erholung aufs Land. Dort gelingt es ihr, die Bücher wegzulegen, sie entdeckt die Musik, feiert, flirtet und tanzt die Nacht durch. An einer polnischen Untergrund-Universität, die auch Frauen aufnimmt, beginnt sie zu studieren – und übertrifft mit ihren Leistungen alle ihre Kommilitonen. Um ihre zwei Jahre ältere Schwester Bronia, die zum Medizinstudium nach Paris geht, finanziell zu unterstützen, tritt sie eine Stelle als Gouvernante in der Familie eines Zuckerrübenfabrikanten bei Warschau an – und verliebt sich in den Sohn der Familie, den 23-jährigen Mathematikstudenten Casimir. Der Vater ist entsetzt über die Liaison. Casimir leistet ihm zunächst zaghaft Widerstand, fügt sich jedoch nach jahrelangem Hin und Her, und Mania steht allein und verlassen da, mit zutiefst verletztem Herzen, voller Wut auf die Männer: »Wenn sie keine armen jungen Mädchen heiraten wollen, sollen sie doch zum Teufel gehen!«
Die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie erhielt 1903 den Nobelpreis für Physik und 1911 für Chemie; hier ist sie in ihrem Labor in Paris im Jahr 1917 zu sehen.
Im Jahr 1891 folgt Mania ihrer Schwester nach Paris. Bronia hat inzwischen geheiratet, ausgerechnet einen Casimir. Er ist Arzt, sie ist Ärztin, und beide sind erfüllt von kommunistischen Idealen. Praktiziert wird in ihrer Wohnung, und bedürftige Patienten werden gratis behandelt. Zu viel Trubel für Mania, die sich nun Marie nennt. Sie zieht in eine Dachkammer, in der sie sich buchstäblich vergräbt: in kalten Winternächten unter all den Kleidern, die sie besitzt. Um Geld zu sparen, schleppt sie nur selten einen Eimer Kohle hinauf und ernährt sich ausschließlich von Tee, Obst, trockenem Brot und Schokolade – egal! Sie ist frei. Im Paris der Jahrhundertwende sind Frauen zwar alles andere als gleichberechtigt. Eine »Studentin« (étudiante) kann sowohl eine studierende Frau als auch die Geliebte eines studierenden Mannes sein. Aber immerhin können Frauen unbehelligt studieren, und das tut Marie mit Leidenschaft. Sie verbringt ihre Tage am liebsten in Hörsälen, Labors und Bibliotheken, ihre Nächte mit ihren Büchern, lauscht den Ausführungen des legendären Henri Poincaré. Wieder übertreibt sie es und bricht in der Bibliothek zusammen. Bronia holt sie zu sich nachhause und füttert die erschöpfte und unterernährte Marie mit Fleisch und Kartoffeln, bis sie wieder zu Kräften kommt. Sofort eilt sie zurück zu ihren Büchern und wird bei den Abschlussprüfungen wieder Jahrgangsbeste.
Und was nun? Studieren dürfen Frauen zwar, aber als Forscherinnen dulden viele Männer sie nicht gerne neben sich. Marie darf sich glücklich schätzen, ein Stipendium zu erhalten, das sie bei der Erforschung der magnetischen Eigenschaften verschiedener Stahlsorten fördert. Als sie mit dem Laborgerät nicht zurechtkommt, empfiehlt ein Bekannter ihr einen Experten für Magnetismus: Pierre Curie, 35 Jahre alt, jünger aussehend, schüchtern und bedächtig. Er zeigt ihr, wie man mit Elektrometern umgeht, schließlich hat er solche Geräte selbst entwickelt. Marie gibt ihren Vorsatz auf, sich nach der Misere mit Casimir nie mehr zu verlieben: Pierre und Marie werden ein Paar.
Doch der Magnetismus von Stahl entspricht nicht Maries Berufung, es gibt Spannenderes zu erforschen. Gerade hat Wilhelm Conrad Röntgen in Würzburg zufällig die mysteriösen X-Strahlen, die Röntgen-Strahlen, entdeckt, als sie seine Hand durchleuchten, die er vor eine Elektronenröhre hält. Zu Neujahr 1896 schickt er Photos der Knochenkonturen der Hand seiner Frau, samt Ehering, unter Kollegen herum. So etwas hat vorher noch kein Mensch gesehen. Röntgenbilder lösen einen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Hype aus.
Im selben Jahr entdeckt Henri Becquerel in Paris – wiederum zufällig – eine Art von Strahlung, die er rayons uraniques nennt, Uranstrahlen, weil sie von Uran ausgehen, das er mit einer Photoplatte in eine Schublade legt. Das ist aber auch schon alles, was Becquerel über diese Strahlen in Erfahrung bringt. Wie sie entstehen, kann er nicht erklären. Er vermutet und hofft, dass sie irgendetwas mit Phosphoreszenz zu tun haben, denn diesen Effekt haben er und seine Vorläufer seit Generationen erforscht. Seine Strahlen machen weitaus weniger Furore als die von Röntgen, und seine verschwommenen Aufnahmen verblassen neben den Röntgenbildern, die auf den Titelseiten der Zeitungen gedruckt und auf Jahrmärkten gezeigt werden.
Marie Curie jedoch ist von Becquerels Entdeckung fasziniert. Sie erkennt, dass die Angelegenheit mit den wenigen Experimenten des nicht gerade arbeitswütigen Becquerel keineswegs erledigt ist, und entwickelt ein neues Verfahren zur Messung der Uran-Strahlen, beruhend auf Pierres Elektrometern. Und sie wagt es, dem mächtigen Becquerel zu widersprechen. Sie nennt die Strahlen »radioactif« statt »uranique«, weil sie überzeugt ist, dass sie eben nicht nur aus dem Element Uran kommen. Um dies zu beweisen, macht sie sich an den Nachweis neuer radioaktiver Elemente und wird in den nächsten Jahren zwei entdecken: Polonium und Radium.
Und mehr noch, Marie Curie behauptet, »dass die unbegreifliche Uran-Strahlung eine Eigenschaft des Atoms ist«, wie sie im Jahr 1898 schreibt – beim damaligen Erkenntnisstand der Wissenschaft eine Provokation. Mit den Atomen kommen die Forscher gar nicht klar. Sie haben einfach zu viele davon. Da sind die Atome der Chemiker, unteilbare und unwandelbare...
Erscheint lt. Verlag | 6.11.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Astronomie • Atom • Atombombe • Atomenergie • Atomzeitalter • Bohr • Drittes Reich • Einstein • Erster Weltkrieg • Fortschritt • Genie • Heisenberg • Innovation • Kalter Krieg • Lichtgeschwindigkeit • Marie Curie • Mathematik • Moderne • Naturwissenschaft • Nobelpreis • Periodensystem • Physik • Quantenmechanik • Radioaktivität • Raum und Zeit • Relativitätstheorie • Technik • Teilchenphysik • Zeitalter der Extreme • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-608-11709-1 / 3608117091 |
ISBN-13 | 978-3-608-11709-7 / 9783608117097 |
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