Natürlich alles künstlich (eBook)
272 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46162-4 (ISBN)
Dr. Philip Häusser (Jg. 1988) ist Physiker, CTO des Medizintechnik-Start-ups Ablacon und TV-Moderator. Er moderierte u.a. für die Sendungen Planet Wissen, Galileo (Pro7), Terra X Lesch & Co. (ZDF) und für die beliebten YouTube-Kanäle Phil's Physics und Breaking Lab. 2018 promovierte er mit einer Arbeit über neuronale Netzwerke. Nach Stationen bei Google und neben seiner Tätigkeit für Ablacon steht er regelmäßig für den Bayerischen Rundfunk als Wissenschaftsmoderator vor der Kamera und ist zudem Host des SWR3-YouTube-Kanals Faktencheck. https://www.philip-haeusser.de/
Dr. Philip Häusser (Jg. 1988) ist Physiker, CTO des Medizintechnik-Start-ups Ablacon und TV-Moderator. Er moderierte u.a. für die Sendungen Planet Wissen, Galileo (Pro7), Terra X Lesch & Co. (ZDF) und für die beliebten YouTube-Kanäle Phil's Physics und Breaking Lab. 2018 promovierte er mit einer Arbeit über neuronale Netzwerke. Nach Stationen bei Google und neben seiner Tätigkeit für Ablacon steht er regelmäßig für den Bayerischen Rundfunk als Wissenschaftsmoderator vor der Kamera und ist zudem Host des SWR3-YouTube-Kanals Faktencheck. https://www.philip-haeusser.de/
Vom Sehen zum Lernen
Wir Menschen sind die Krone der Schöpfung, jedenfalls glauben das manche. Und wir sind anders als alles, was wir sonst auf der Erde kennen, weil wir auf unsere ganz eigene Art denken können. Was genau passiert aber in uns Menschen, wenn wir denken? Das sollten wir klären, bevor wir uns auf die Frage stürzen, wie Maschinen das von uns beigebracht bekommen können. Wir erwarten, dass Maschinen eines Tages – oder am besten sofort – automatisch aus Fotos von Gesichtern treffgenau das Alter eines Menschen schätzen. Oder dass sie auf Röntgenaufnahmen selbstständig Knochenbrüche erkennen. Am liebsten wäre es uns, sie könnten das dann auf Knopfdruck auch heilen, aber so weit geht unsere Vorstellung von den Fähigkeiten künstlicher Intelligenz gegenwärtig meist nur im Science-Fiction-Film. Was aber ist das eigentlich: der Denkprozess?
Denken ist ein ziemlich weit gefasster Begriff. Geniale Geistesblitze wie die Relativitätstheorie oder eine virtuose Klavierkomposition sind sicherlich Ergebnisse besonders herausragender Denkprozesse. Aber auch der genialste Gedanke beruht auf einer einfachen sensorischen Verarbeitungsleistung. Ja, ganz nüchtern betrachtet ist der Mensch letztendlich eine Art Signalverarbeitungsmaschine. Daher fangen wir am besten mit den Basics an.
Wir haben Inputs beziehungsweise Sensoren. Nur nennen wir sie normalerweise nicht so, sondern Augen, Ohren, Geruchs- und Geschmackssinn. Und in der Haut haben wir taktile Sensoren, die die Stärke eines Händedrucks messen können. Die Signale, die wir mit all diesen Sensoren empfangen, bewegen sich als elektrischer Impuls auf Nervenbahnen weiter durch den Körper, werden verarbeitet, verschaltet, gespeichert oder sofort wieder verworfen, kopiert, getrennt und dann zusammengefügt. Dabei muss das Gehirn nicht einmal automatisch involviert sein. Es gibt Signale, die besonders wichtig sind und eine schnelle Reaktion erfordern: Schmerz, Stolpern, unerwartete Bewegungen in unserer Umgebung.
Wenn unsere Sensoren solche Signale aufnehmen, kommen gar nicht alle im Gehirn an. Das ist gut so, denn unser Körper kann eine Entscheidung treffen, bevor die Reize zum Gehirn weitergeleitet wurden. Das ist zum Beispiel so, wenn man eine heiße Herdplatte berührt. Die Sensoren in der Haut nehmen den Reiz »Hitze« wahr. Dieser Reiz wandert über Nervenbahnen in Richtung Gehirn. Aber schon im Rückenmark lösen sie einen Schutzreflex aus, genauer gesagt im Hinterhorn. So bezeichnen wir einen Teil der grauen Masse im Rückenmark, der zuständig ist für Signale, die durch den Körper Richtung Gehirn laufen (man nennt sie: »afferente« Reize). Das Hinterhorn wandelt den sensorischen Reiz, der uns alarmiert – Achtung, Hitze! – in einen »efferenten«, also motorischen um, der sozusagen auf der »Gegenspur« gleich wieder zurück zur Hand eilt. Wie in einem Umschaltwerk bekommen die Nervenbahnen diesen gegenläufigen Impuls und schicken das Reaktionssignal vom Gehirn weg (»efferent«). Der Impuls wandert zu den Muskeln im Arm und sorgt dafür, dass der Arm zurückzuckt und wir die Hand von der Herdplatte wegbewegen. Erst einige Sekundenbruchteile später checkt das Gehirn, was gerade los ist – und das wäre zu spät, um größeren Schaden zu verhindern.
Das ist ein Beispiel dafür, wie so eine Kette von Signalen ganz ohne Beteiligung des Gehirns funktioniert. Solche Reflexe sind für uns alle überlebenswichtig, und daher sind sie uns angeboren. Schon ein Baby ist mit diesen Grundfunktionen ausgestattet, es muss sie nicht erst lernen.
Wollen wir unseren zentralen Computer – unser Gehirn – verstehen, vermitteln uns diese automatisierten Reaktionen wichtige Lernerfahrungen. Unser Nervensystem bildet Verknüpfungen: Herdplatte – heiß – Schmerz. So also lernt unser körpereigener zentraler Computer, im Zusammenspiel mit unseren Sensoren, den Nervenbahnen, Neurotransmittern und Muskeln, die komplexesten Aufgaben zu übernehmen. Besonders gelungen ist diese Art Reizweiterleitung im Bereich des Sehens. Hast du dich schon einmal gefragt, wie es eigentlich sein kann, dass wir trotz Gegenlicht und aus großer Entfernung unsere Mutter von anderen Personen unterscheiden können? Oder wie wir in Sekundenbruchteilen Automarken erkennen – zumindest manche von uns?
Um einen Computer das Denken zu lehren, bietet es sich an, erst einmal zu beobachten, wie so ein gelungener Prozess für eine Reizweiterleitung im Körper eigentlich abläuft. Und beim Sehen wird nicht nur ein Reiz brav von Zelle zu Zelle weitergegeben, sondern es läuft eine regelrechte Informationskaskade ab. Inzwischen haben wir uns das abgeguckt und gehen beim Bau von KI-Anwendungen dazu über, die körpereigene »visuelle Signalverarbeitungs-Pipeline« nachzubauen.
Die Schichten der Netzhaut: geniale Signalverarbeitung.
Im Grunde fängt ja auch das Sehen mit der Eingabe von Rohdaten an, in diesem Fall mit dem Licht. Licht besteht aus elektromagnetischen Wellen einer bestimmten Frequenz und Amplitude.
Trifft so eine Welle in unser Auge, passiert sie erst verschiedene optische Systeme (Iris, Linse, Glaskörper), bevor sie auf eine Art Sandwich voll gebündelter Hightech-Sensoren prallt: die Netzhaut, bei der jede Schicht eine besondere Aufgabe hat.
Die Netzhaut verfügt über Stäbchen und Zapfen, die wie Fotorezeptoren in einer Kamera als Erstes mithilfe spezialisierter Nervenzellen (Neuronen) das Licht in Signale umwandeln, mit denen der Körper etwas anfangen kann. Genau genommen haben wir das schon in der Digitalkamera übernommen, denn deren Chip rastert durch ein feines Netz von Bauteilen das einfallende Licht und wandelt es in digitale Signale um, die Helligkeit oder Farbe erfassen. Wir Menschen haben da im Grunde unsere eigene Netzhaut nachgebaut. Allerdings ist selbst die neuste Digitalkamera im Vergleich zu unserem Auge relativ plump.
Die Stäbchen und Zapfen registrieren jeweils eine Art von Lichtwellen, wandeln sie in elektrische Impulse um – und je moderner eine Kamera ist, umso mehr »Stäbchen und Zapfen« haben wir eingebaut. Denn was bei der Kamera Pixel sind, entspricht in unserem Auge grob gesagt den Stäbchen und Zapfen.
Um eine Lichtwelle in elektrische Impulse umzuwandeln, bedient sich die Natur bestimmter Moleküle, die ihre Form verändern, sobald Licht auf eine Nervenzelle (Neuron) trifft. Das löst in der Zelle zunächst eine chemische Reaktion aus, die dann eine Spannung erzeugt. Ist die Spannung groß genug (also der Reiz ausreichend stark), lösen die Neuronen ein sogenanntes Aktionspotenzial aus. Genau wie ein Staudamm nur dann überfließt, wenn ein bestimmter Wasserstand erreicht ist, leitet die Zelle den elektrischen Impuls in dem Moment weiter, wenn die durch das Licht erzeugte Energiemenge dazu ausreicht.
Eigentlich sonnenklar: Ein Rezeptor – im Falle des Auges Stäbchen oder Zapfen – reagiert chemisch auf die Lichtwelle und erzeugt eine gewisse Spannung. Und sobald ein Schwellwert überschritten ist, pflanzt sich dieses elektrische Signal fort. Oder anders gesagt: Eine Lichtwelle wandelt sich durch eine chemische Reaktion in einen elektrischen Reiz um. Unbemerkt bleibt das nicht, denn die Neuronen warten gleichsam darauf, dass mal wieder ein Aktionspotenzial ausgelöst wird. Die Grafik zeigt das sehr schön, wie die Neuronen durch ihre Eingänge oder Fühler Input bekommen. Und da auch Biologen gerne Fachvokabular benutzen, haben sie diese Fühler umbenannt in Dendriten. Jedes Neuron hat eine ganze Reihe solcher Dendriten.
Über die Dendriten empfängt ein Neuron seinen Input. Kommt genug an, leitet es einen Impuls weiter zu den Synapsen.
Das Neuron »feuert«, indem es seinerseits ein Aktionspotenzial auslöst und über das Axon weiterleitet. Da steckt natürlich Achse drin, und man kann sich diese Hauptverkehrsachse bildlich vorstellen, diesen Fortsatz namens Axon, durch den Nervenimpulse über ganz unterschiedliche Distanzen transportiert werden können, von wenigen Mikrometern bis zu immerhin rund einem Meter.
Auch das längste Axon hat einmal ein Ende: Wo ein Neuron mit dem anderen kommuniziert, befindet sich jeweils eine der berühmten Synapsen – wer rühmt sich nicht seiner guten Verschaltung im Hirn mit Hinweis auf die Synapsen? Dort bewirkt der weitergeleitete elektrische Reiz, dass ein Botenstoff ausgeschüttet wird. Ein chemischer Prozess wandelt den Impuls jetzt in einen Botenstoff um. Und der Botenstoff heißt auf Fachdeutsch Neurotransmitter.
Wer die Funktionsweise von Neuronen versteht, kann sich tatsächlich auch eher etwas unter »künstlichen neuronalen Netzen« vorstellen, um die es später noch ausführlich gehen wird. Es lohnt sich also ein zweiter Blick aufs Auge und die Netzhaut. Denn das Signal ist ja bei der Synapse hängen geblieben – unser Gehirn hat es noch lange nicht erreicht.
So ein Signal wird nicht einfach direkt an das Gehirn weitergeleitet, um es über Lichteinfall, Farbe oder Stärke zu informieren. Nein, die Natur hat sich einen smarten nächsten Schritt ausgedacht. Und der Effekt ist eindrucksvoll. Da muss nur einmal eine Spinne über den Boden rennen, schon haben wir reagiert. Ähnlich wie bei der Hand auf der Herdplatte zucken wir zusammen, noch ehe uns das Gehirn die erlösende Botschaft schickt: »Ist doch nur ein ungefährlicher Weberknecht!«
Noch in der Netzhaut werden die Signale gefiltert, komprimiert und aufs Wesentliche reduziert. Auffällige (kontrastreiche) Signale werden blitzschnell herausgerechnet und mit größerer Priorität weitergeschickt.
Eine weiße Wand bietet wenig Kontraste. Hier...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | a i künstliche intelligenz • ai künstliche intelligenz • Alexa • Algorithmus • Chemie • Code • Computer • digital • Digitale Revolution • Elektronik • Elon Musk • Erzählendes Sachbuch • Ethik • Ex Machina • Facebook • Fakten • Geschichte der KI • Gesichtserkennung • Google • Informatik Bewusstsein • Internet • KI • KI Buch • Künstliche Intelligenz • künstliche intelligenz bücher • künstliche intelligenz einführung • künstliche intelligenz ethik • Künstliche Intelligenz Philosophie • künstliche intelligenz verstehen • mai thi nguyen-kim • Medizintechnik • Moral • Natürlich alles künstlich • Neuronale Netze • Philip Häusser • Physik • pop science • professionelle intelligenz • Programmieren • Programmiersprache • Roboter • Selbstfahrende Autos • Silicon Valley • Siri • Smartphone • SpaceX • Technik • Tesla • Transport • Virtual Reality • Wissenschaft • wissenschaft buch • Zukunft • zukunft buch |
ISBN-10 | 3-426-46162-5 / 3426461625 |
ISBN-13 | 978-3-426-46162-4 / 9783426461624 |
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