Als die Giraffe noch Liebhaber hatte -  Michael Lichtwarck-Aschoff

Als die Giraffe noch Liebhaber hatte (eBook)

Wie vier Forscher in ihre Entdeckungen stolperten
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2022 | 1. Auflage
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-3111-0 (ISBN)
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In »Als die Giraffe noch Liebhaber hatte« lernen wir Claude Bernard & Louis Pasteur, Antoine Laurent de Lavoisier und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire kennen. Ihre Leben und ihre Entdeckungen - oft Produkte des Zufalls - nimmt Lichtwarck-Aschoff zum Ausgangspunkt seiner Geschichten. Der betörende Rest ist Literatur, sprachmächtig, voller Witz und so kraftvoll, dass der Autor längst kein Geheimtipp mehr ist.

Michael Lichtwarck-Aschoff hat viele Jahre als Intensivmediziner in Augsburg gearbeitet sowie in München, Basel, Freiburg und Uppsala geforscht und als außerplanmäßiger Professor für Anästhesiologie und Intensivmedizin gelehrt. Nach dem Ende seiner Klinikarbeit bedenkt er schreibend, was das wohl sein könnte: die Medizin.

Die Blindheit des Geoffroy Saint-Hilaire

Aufrecht wie ein Schilfrohr saß er und schaute in den blassen Himmel über der Stadt. Saß so mühelos auf der Bank aus Eisen, als sei das die Haltung, die dem Menschen angeboren ist: mit zurückgelegtem Kopf das Gesicht in den Himmel zu halten. Stundenlang konnte er so dasitzen. Irgendetwas sah er dort oben.

Er heißt Atir.

Atir, und wie weiter? Nichts weiter. Kein Nachname überliefert, man wird ihm keinen gegeben haben. Stammte aus Sannar, einer Sklavenstadt am Blauen Nil. Dort tragen sie die Geschichte ihrer nie endenden Gefangenschaft auf der einen Schulter. Auf der anderen den Korb mit getrocknetem Kameldung. Nachnamen tragen sie nicht.

Es ist noch Nacht, wenn Atir sich auf die eiserne Bank setzt. Er blickt in die Dunkelheit. Wenn der Morgen kommt, hat er den Kopf nicht bewegt.

Und warum sollte er ihn dann jetzt bewegen, wo der alte Hilaire in den Garten geführt wird, in den jardin du roi der Stadt Paris. Jardin du roi, so hieß dieser Garten schon vor der Revolution. Eine kurze, atemlose Zeit lang war er der jardin des plantes, der Garten für die Pflanzen gewesen, und nicht mehr der Garten für den König. Aber in diesem Jahr 1840 ist die Wut aufgebraucht. Der Garten hat seinen alten Namen zurückbekommen. Die Zeit, während der er der jardin des plantes war, reichte gerade dafür, eine Revolution zu machen. Und sie wieder zu verlieren. Jetzt haben sie ihm seinen alten Namen zurückgegeben. Gegen ein mäßiges Entgelt können die Bewohner der Stadt Paris den Garten betreten. Sie tun es selten in diesem Sommer.

War es so, dass die Stadt starb, als die alten Namen wieder von ihr Besitz ergriffen? Die Straßen unter dem weißen Augusthimmel waren leer, und die Bäckerläden rochen nach kaltem Wasser. Die Fensterläden verschlossen. Die Bewohner fortgezogen, sie kommen erst wieder zurück, wenn es Zeit ist, sich im alten Kinderzimmer ein letztes Mal auf das harte Bett zu legen.

Nur der jardin mit seinen fremden Pflanzen und wilden Tieren, der schien noch ein paar Mal Luft zu holen.

Der junge Charcot, der Hilaire in den Garten führte, schob den alten Mann auf die Bank neben Atir, setzte sich dann an seine Seite. Legte Hilaire den Lederkoffer in den Schoß. Étienne Geoffroy Saint-Hilaire, so heißt der alte Mann. Professor für Vierfüßler, Meeressäuger, Flughunde, Reptilien und die Fische des Salz- sowie des Süßwassers im Naturkundemuseum des jardin du roi. Ein umfassender Beruf, könnte man sagen. Der alte Mann hatte es darin zu etwas gebracht.

Aber er hatte aufhören müssen, mit dem Sehen ging es immer schlechter. Die Welten unter dem Mikroskop verschwammen ihm, und er konnte das Grinsen im Gesicht seiner zahlreichen Gegner nicht mehr erkennen. »Hilaire schwadroniert von seinen gestrigen Verdiensten, wir wissen: Es sind die heutigen Irrtümer.« Wie will man da arbeiten.

Hilaire ging nicht mehr in sein Labor im Naturkundemuseum. Saß lieber unter der Jacaranda neben Atir und schaute blicklos in die Tage. An Atir konnte man stundenlang hinreden, ohne eine Antwort zu bekommen. Ebenso gut konnte man an ihn hin schweigen, es machte keinen großen Unterschied und war ganz gut so, fand Hilaire. Wenn er wirklich einmal redete, verschluckte Atir Silben. Aus dem ›d‹ und dem ›p‹ machte er silbrige Klicklaute. Auch aus anderen Konsonanten, die gab es nur in seinem Alphabet.

Da sitzen sie – Atir, den Kopf in den Nacken gelegt, der alte Mann Hilaire, eine milchige Haut ist über seine Augäpfel gezogen. Und der junge Charcot. Der sollte um diese Zeit eigentlich in der Schule sein, Lycée Louis Le Grand. Dort wird man was. Doch lieber ist er hier. Hofft darauf, dass der alte Mann von den vielen menschlichen Missbildungen erzählt, die er untersucht, von all den Leichen, die er aufgeschnitten hat. Wo das Gemüt, die Seele, die Furcht und die Gier sich im menschlichen Körper verbergen, das fesselte den fünfzehnjährigen Charcot. Er sollte sein ganzes Leben mit der Suche danach verbringen.

Wenn Charcot Hilaire in den Garten führt, sitzt Atir nicht allein auf der eisernen Bank unter der Jacaranda. Immer sind da noch drei oder vier Männer, schwarz wie Atir oder braun. Vielleicht sind es Tierwärter oder Gärtner, Labordiener, irgendetwas in der Art. Der junge Charcot begreift nicht, warum sie flüstern, als wäre die Nacht noch nicht herum. Versteht doch eh keiner ihre klickende Sprache. Sie schauen ihn und den alten Hilaire feindselig an, dann stehen sie auf und gehen davon. Ihre Schritte hört man nicht, sind sie vielleicht barfuß? Merkwürdig. Welche Heimlichkeiten kann der Wärter eines Gürteltiers, einer Mönchsgrasmücke von mir aus oder eines Nashorns denn schon haben. Oder einer, der den Buchsbaum zu geraden Mauern schneidet.

Hilaire bemerkt Atirs Kameraden nie, dafür ist er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Kameraden, so nennen sie sich untereinander. Das hat Charcot einmal gehört, das einzige französische Wort, das sie zu kennen scheinen, camarade, da waren sie schon im Gehen, verabschiedeten sich mit diesem Wort. Wahrscheinlich weiß Hilaire überhaupt nicht, dass sie da sind. Er glaubt wohl, dass Atir die ganze Zeit alleine dort auf der Bank sitzt. Atir, der zu Zarafa gehört. Irgendwann muss Hilaires Welt auf ihn selbst und Zarafa und den störrischen Schatten Atirs zusammengeschrumpft sein.

»Ich war gestern bei Desmarres«, sagte Hilaire jetzt anstelle einer Begrüßung. Von höflichen Floskeln hatte er nie viel gehalten. Dabei rutschten seine stumpfen Augäpfel zu den Käfigen hin, in denen die Tiere gefangen gehalten wurden.

»Desmarres sagt, heute Abend ist es vorbei. Heute noch, und dann sehe ich nichts mehr. Nichts, Atir, gar nichts. Dann bin ich blind. Nicht einmal mehr meine Schatten.«

Atir schaute wortlos in den Himmel. Was kann man sagen, wenn ein alter Mann am Abend blind sein wird.

Hinter der eisernen Bank, auf der die drei saßen, wuchs ein Jacaranda-Baum. Jussieu hatte ihn noch vor seinem Tod pflanzen lassen, obwohl es der Jacaranda hier im Winter zu kalt und im Sommer zu regnerisch sein musste. Jussieu hatte diesen besinnungslos blühenden Baum geliebt. Hatte Röhren zwischen seine Wurzeln legen lassen, sie mussten im Winter mit warmem Wasser gefüllt werden. Man möge ihn freundlicherweise nicht darüber belehren, pflegte Jussieu zu sagen, dass die Pflanzen sich von den Tieren dadurch unterscheiden, dass die Pflanzen nicht weglaufen können. So bleibt ihnen nichts, als tapfer stehen zu bleiben. Und im Stehen müssen sie sich verteidigen, das erklärt ihre Eigentümlichkeiten, er wisse das. Aber jedes Mal, wenn er die Jacaranda anschaue, schon wahr, sie gehöre nicht hierher in die grauen Wetter von Paris, denen sie nun nicht davonlaufen könne, dann zweifle er, ob das mit dem Stehenbleiben wirklich für alle Pflanzen gelte. Für ihn sehe es jedenfalls so aus, als sei die Jacaranda ständig im Begriff, mit einem blühenden Lächeln davonzulaufen. Bestimmt bliebe die Leichtfüßige nur seinetwegen im jardin.

Jetzt im August war die Jacaranda lang verblüht. Zwischen ihren Zweigen hindurch blickte Atir in den Himmel. Auf seinem Gesicht sah man den Schatten der Jacaranda nicht. Seine Haut war schwarz, so schwarz dass, eigentlich war sie blau.

Atir zog einen Kamm unter seinem Hemd hervor, zog ihn durchs Haar.

»Du musst mir helfen, Atir.« Hilaires Stimme war rau. »Die Welt hat sich mir schon so lange entzogen. Nur meine Schatten sind mir geblieben, das weißt du. Nicht die auch noch verlieren, irgendetwas muss mir doch bleiben. Desmarres sagt, es ist aus, er kann nichts für mich tun. Jemand hat in Nôtre Dame eine Kerze für mich angezündet. Wenn ich nichts mehr sehe, und habe niemanden außer dem jungen Charcot hier, der mich auf die Bank führt, da kann ich gleich in die Grube steigen. Heute schaffe ich das noch ohne Hilfe. Morgen wird mich schon einer an die Hand nehmen müssen dafür.«

Es war so, dass Hilaire seit langem nur noch Schatten sah. Er hatte geglaubt, dabei werde es bleiben, immerhin Schatten, man lernt ja, damit umzugehen. Weicht man der Begegnung mit Neuem sorgfältig aus, kommt man zurecht. Oft hatte er Atir erzählt, was er mit hinübernehmen wollte in die Dunkelheit. Welche Erinnerung, welches Bild, welche Buchseite, welche Farbe. Aber das war doch nicht ernsthaft gewesen. Mehr wie ein Spiel, das den Dingen des Lebens Reihenfolge und Ordnung geben sollte. Was war wichtig, was unwichtig. Jetzt war diese grauenvolle Finsternis wirklich. Sie würde morgen auf ihn kommen.

Wie kam Hilaire darauf, dass Atir ihm helfen könnte? Ein Eingeborener aus dem Sudan, der nichts gelernt hatte, als mühelos wie ein Schilfrohr aufrecht zu sitzen und mit zurückgelegtem Kopf in den Himmel zu starren. Wo Desmarres, der berühmteste Augenarzt Frankreichs, keinen Rat mehr wusste. Hilaire kannte den Wärter Atir seit Jahren. Die beiden, der Professor für unbekannte Tiere und der Wärter für ein einziges Tier, verbrachten die Vormittage nebeneinander auf der Bank unter der Jacaranda. Der eine rollte seine stumpfen Augäpfel in Richtung der Käfige. Der andere hielt das Gesicht in den Himmel. Manchmal redete Hilaire über die Vergangenheit. Atir redete fast nie.

Hinter ihren Käfigstäben erwachten die Tiere. Im jardin du roi schlafen sie länger als ihre Verwandten in Freiheit. Gittertüren wurden aufgeschlossen. Die Wärter schleppten Körbe mit Fleisch hinein. Hilaire selbst war es gewesen, der vor Jahren die ersten Tiere in den jardin gebracht hatte. Vergessen, wie das meiste von dem,...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2022
Reihe/Serie Hirzel Literarisches Sachbuch
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Antoine de Lavoisier • Claude Bernard • Entdeckung • Erzählendes Sachbuch • Erzählungen • Étienne Geoffroy Saint-Hilaire • Louis Pasteur • Sachbuch • Wissenschaftsgeschichte • Wissenschaftshelden • Zufall
ISBN-10 3-7776-3111-6 / 3777631116
ISBN-13 978-3-7776-3111-0 / 9783777631110
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