Jüdischer Almanach Natur (eBook)
200 Seiten
Jüdischer Verlag
978-3-633-77055-7 (ISBN)
Die Bewahrung der Schöpfung gilt als eine der Aufgaben, die Gott den Menschen übertragen hat, allerdings gilt der Mensch dabei als die Krone der Schöpfung, und er darf sich die Erde untertan machen. Zugleich aber ist ein behutsamer Umgang mit Pflanzen und Tieren ein zentraler Teil der Schöpfungsgeschichte.
Dieser Almanach versucht eine Annäherung an ein sensibles Thema, denn in den zweitausend Jahren der Diaspora wurden Juden vielfach als wurzellos und entfremdet von der Natur beschrieben. Umso wichtiger wurde die Verortung der Juden im städtischen Raum seit der Einrichtung des ersten Ghettos in Venedig im Jahr 1516.
Eine bedeutende Rolle spielt auch die Sehnsucht nach der Landschaft der Heimat für diejenigen jüdischen Naturbegeisterten, die Europa auf der Flucht vor Ausgrenzung und Antisemitismus verlassen mussten. Deshalb gehörte in Israel der Naturschutz von Anbeginn an zu den wichtigsten Pfeilern des zionistischen Projekts.
Mit Beiträgen von: Michael Brenner, Nicolas Berg, Avirama Golan, Ellen Presser, Meir Shalev, Robert Schindel u. a.Gisela Dachs ist Publizistin, promovierte Sozialwissenschaftlerin und Professorin am Europäischen Forum der Hebräischen Universität Jerusalem. 2016 erschien der von ihr herausgegebene <em>Länderbericht Israel</em> im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung. Seit 2001 ist sie die Herausgeberin des Jüdischen Almanachs. Sie lebt in Tel Aviv. Das Leo Baeck Institute (LBI ) ist benannt nach der Symbolfigur der deutschen Judenheit im 20. Jahrhundert und besitzt Zentren in New York, London und Jerusalem sowie eine Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft in Deutschland. Es wurde 1955 in Jerusalem gegründet, um die Geschichte und Kultur des deutschen und zentraleuropäischen Judentums zu erforschen und zu dokumentieren. Seit 1993 gibt das Leo Baeck Institute Jerusalem den Jüdischen Almanach heraus. Dies knüpft an eine alte Tradition an, die durch den Nationalsozialismus gewaltsam abgeschnitten wurde. Erstmals erschien ein <em>Jüdischer Almanach</em> im Jahre 1902.
Michael Brenner
Deutsch-jüdische Landschaften
Das Bild vom naturfernen, großstädtischen Juden gehört zu den gängigen Stereotypen deutsch-jüdischer Geschichte. Deutschsprachige Juden haben selbst ihren Teil zu seiner Entstehung beigetragen. Friedrich Torberg hat den Spruch von Rudi Thomas, dem stellvertretenden Chefredakteur des Prager Tagblatts, »Was die Natur betrifft, genügt mir der Schnittlauch auf der Suppe«, unvergesslich gemacht.1 Und in einem seiner frühen Filme spielte Ernst Lubitsch jenen »Meyer aus Berlin«, der sich, in bayerische Trachten verkleidet, zu einem Ausflug in die Alpen aufmacht, doch statt Berggipfeln lieber Frauenherzen erobert. Mit unverkennbar jüdischer Physiognomie ausgestattet ist Salli Meyer, der Großstädter par excellence, der in der Berglandschaft eine urkomische Figur abgibt. Für das Publikum, das 1919 noch unbeschwert über den von einem jüdischen Regisseur mit allen antisemitischen Klischees gezeichneten Protagonisten lachen konnte, war die Botschaft des Films klar verständlich: Ein großstädtischer Jude passt in die Natur wie die Faust aufs Auge.2
Die Fakten schienen den gängigen Bildern vom Großstadtjuden Recht zu geben. Um 1930 lebte fast jeder dritte deutsche Jude in Berlin und jeder zweite in einer der sieben größten Städte des Reichs. In Österreich wohnten gar 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung in der Hauptstadt Wien. Unverkennbar waren die deutschsprachigen Juden eine mittelständische urbane Gesellschaft geworden. Doch kann dies nicht verdecken, dass sie noch hundert Jahre vorher vor allem in Dörfern und Kleinstädten gelebt hatten und dass auch während der Weimarer Republik Großstadtkritik und Naturbegeisterung unter den deutschen Juden ausgeprägt waren.
Im 19. Jahrhundert waren deutsche Juden allein schon durch ihre Lebensweise sehr eng mit der Natur ihrer Umgebung verbunden. Die Viehhändler kannten nicht nur die Tiere ihrer unmittelbaren Umgebung, sondern waren auch mit der sie umgebenden Landschaft vertraut. Sie besuchten zahlreiche Nachbarorte, um ihre Geschäfte durchzuführen. Wie die Bauern erledigten auch sie einen Großteil ihrer Arbeit im Freien. Die Hausierer zogen während der Woche über Land und kehrten nur am Schabbat zu ihrer Familie zurück. Dabei lernten sie die Natur oft anders kennen als ihre christlichen Nachbarn. Auf sogenannten Judenwegen bewegten sie sich abseits der allgemeinen Verkehrswege durch wenig frequentierte Wälder, Äcker und Wiesen.3 Ab dem 16. Jahrhundert besitzen wir Zeugnis von speziellen Judenwegen; allein in Bayern konnten über 300 solcher Wege ermittelt werden. Besonders in Gebieten mit zahlreichen jüdischen Gemeinden, wie in Unterfranken, findet man sie häufig. Was sie gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass es sich um kleinere, nicht befahrbare Pfade handelte, die an den Ortschaften vorbeiführten und zudem gleichzeitig als Wege zu den meist abgelegenen jüdischen Friedhöfen dienten. Manchmal waren auch Schabbeswege darunter – halachisch erlaubte Wegstrecken für den Schabbatspaziergang4, die die Eruwgrenze von 1000 Ellen nicht überschritten. Häufig dienten diese Wege auch der Umgehung der Zollstätten für den teilweise noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Juden zu zahlenden Leibzoll, wenn sie die Grenzen eines Territoriums überschritten. Zudem wollte man damit auch den Gefahren von Übergriffen ausweichen, die auf den stark befahrenen Straßen auf Juden warteten. In jedem Fall zeigen die Judenwege ein enges Verhältnis zur und eine hervorragende Kenntnis der natürlichen Umgebung, in der sie während der Frühen Neuzeit lebten.
Das ländliche Leben im südwestdeutschen Raum erhielt seinen bekanntesten literarischen Ausdruck in den Schwarzwälder Dorfgeschichten von Berthold Auerbach. Kein anderer deutschsprachiger Autor hat mit dem Genre der Dorfgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts so viel Erfolg gehabt wie der aus dem schwäbischen Nordstetten stammende jüdische Schriftsteller. Das Dorf und seine natürliche Umgebung sind die Bühne für zahlreiche Erzählungen über seine christlichen und gelegentlich auch jüdischen Bewohner.
Doch nicht nur für die im ländlichen Raum aufgewachsenen Juden spielte die deutsche Landschaft eine wichtige Rolle. Der aus Düsseldorf stammende Heinrich Heine, gewiss ein Stadtmensch, setzte als Student in Göttingen dieser Natur in seinen Reisebildern vom Harz bis an die Nordsee ein unvergleichliches Denkmal. Die Harzreise begründete seinen literarischen Erfolg und ist voller Landschafts- und Naturbeschreibungen wie dieser zu Anfang seiner Wanderung von Göttingen zum Brocken:
Die Berge wurden hier noch steiler, die Tannenwälder wogten unten wie ein grünes Meer, und am blauen Himmel oben schifften die weißen Wolken. Die Wildheit der Gegend war durch ihre Einheit und Einfachheit gleichsam gezähmt. Wie ein guter Dichter liebt die Natur keine schroffen Übergänge. Die Wolken, so bizarr gestaltet sie auch zuweilen erscheinen, tragen ein weißes oder doch ein mildes, mit dem blauen Himmel und der grünen Erde harmonisch korrespondierendes Kolorit, so daß alle Farben einer Gegend wie leise Musik in einander schmelzen, und jeder Naturanblick krampfstillend und gemütberuhigend wirkt.
Gegen Ende dann beschreibt Heine seine Gefühlslage inmitten der blühenden Natur: »Unendlich selig ist das Gefühl, wenn die Erscheinungswelt mit unserer Gemütswelt zusammenrinnt, und grüne Bäume, Gedanken, Vögelgesang, Wehmut, Himmelsbläue, Erinnerung und Kräuterduft sich in süßen Arabesken verschlingen.«5
Kaum ein anderes Gedicht über ein deutsches Naturdenkmal ist jemals so populär geworden wie Heines »Märchen aus alten Zeiten« über den Schieferfelsen Loreley am Rheinufer. Als er dann viele Jahre später aus dem französischen Exil zu Besuch nach Deutschland zurückkehrt, ergreift ihn in der vertrauten Landschaft trotz der politischen Missstände ein besonderes Heimatgefühl:
Seit ich auf deutsche Erde trat
Durchströmen mich Zaubersäfte –
Der Riese hat wieder die Mutter berührt,
Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.
Bei aller Liebe zur deutschen Landschaft: Heine hätte sich wohl kaum ein Spottgedicht auf jene Nachgeborenen erspart, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre politischen Gesinnungen mit ihrer Wanderlust verbanden. Die deutsche Jugendbewegung vereinte ihre Liebe zur Natur mit einem erstarkten Nationalgefühl und einem zunehmenden Antisemitismus. So entstanden auch jüdische Jugendbewegungen, deren Aktivitäten sich freilich wenig von dem Wandervogel und ähnlichen Organisationen unterschieden. Auch die Zionisten schufen mit dem Jugendbund Blau-Weiß eine Organisation, die das Wandern zur Ideologie stilisierte. Einer ihrer führenden Funktionäre, Moses Calvary, betonte in einem Referat auf dem Blau-Weiß-Tag 1916:
Gegenüber der jüdischen Zweckbestimmtheit bildet ein wundervolles Gegengewicht die Ungebundenheit des Wanderns, die sich in freier Lust der Schönheit der Natur ergibt; die im Umherstreifen in Wald und Feld reine Jugendfreude erzielt. Der Hang zu reiner Theorie kann im Wandern gemildert werden, das notwendig das Gefühlsmäßige und Willensmäßige in den jungen Menschen entwickelt. Es erzieht die Sinne zu geschärftem Sehen und Hören, es ergreift das Gefühl in der Schönheit der Natur, es entwickelt die freiwillige Unterordnung unter die Forderungen der Gemeinschaft und erzwingt lebendige Aktivität gegenüber dem Zwang einer augenblicklichen Lage. So dient das Wandern der Regeneration des einzelnen Juden […]; wir wandern zu dem Zwecke, das jüdische Gemeinschaftsgefühl zu vertiefen, wir wandern, um die Juden tüchtig und kräftig zu machen, damit wir in ihnen später wertvolle Menschen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft haben.6
Heine lebte zu dieser Zeit nicht mehr. Aber an seiner statt ließ sich ein junger Gerhard Scholem an der jüdischen Jugendbewegung und ihrer Liebe zur deutschen Natur aus, die einer ganzheitlichen Umorientierung der Werte und der Auswanderung nach Palästina im Weg stehe und die aus seiner Sicht nur als Vorwand für das Ausharren in der gewohnten Umgebung diente.7
Die Idealisierung der Natur und die damit einhergehende Romantisierung der verschwindenden ...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lexikon / Chroniken |
Technik | |
Schlagworte | Almanach • Israel • Jahrbuch • Judentum • Jüdisches Leben • Klima • Natur |
ISBN-10 | 3-633-77055-0 / 3633770550 |
ISBN-13 | 978-3-633-77055-7 / 9783633770557 |
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