Basiswissen Sexualpädagogik (eBook)
227 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61425-7 (ISBN)
Stefan Hierholzer, Hamburg, ist Schulleiter am Campus 29 und Sexualpädagoge.
Stefan Hierholzer, Hamburg, ist Schulleiter am Campus 29 und Sexualpädagoge.
1 Sexualitätsbegriff – Annährung an ein diffuses Konstrukt
Begriffsklärungen gehören zu den zentralen Aufgaben von Sozialwissenschaftler_innen. Der Sexualitätsbegriff stellt alle Sexualwissenschaftler_innen vor enorme Herausforderungen, da dieser Begriff zeitlichen, kulturellen, religiös-weltanschaulichen und traditionellen Vorstellungskonstruktionen unterworfen ist. Lautmann konstatiert daher, dass der Sexualbegriff trotz aller Bemühungen nicht definierbar ist (Lautmann 2002). Aus diesem Grund soll das Phänomen der Sexualität bzw. Soziosexualität (Kentler 1973) hier multiperspektivisch betrachtet werden.
1.1 (Sozial-)pädagogische Perspektive
Der Sexualitätsbegriff wird erstmals im Zusammenhang mit der Botanik im Jahr 1820 in August Henschels Buch „Von der Sexualität der Pflanzen“ verwendet. Darin differenziert Henschel männliche und weibliche Pflanzen und beschreibt, wie diese beiden gegensätzlichen Geschlechter für die Fortpflanzung Sorge tragen (Bange 2000). Mit dieser ersten schriftlichen Normierung bahnte sich letztlich auch die heute immer noch spürbare Biologisierung der Sexualität an. Gerade seit den 1990er Jahren wird mit dem Diskurs über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt die Biologisierung des Sexuellen nachhaltig infrage gestellt (Tuider et al. 2012).
Die Fokussierung auf Biologie und damit auf Fortpflanzungssexualität mag auf den ersten Blick die Auseinandersetzung mit Sexualität erleichtern, da sie den Sexualbegriff auf eine einfache Formel bringt: Mann + Frau = Kind(er). Dies wird aber der Differenziertheit soziosexueller Aspekte der menschlichen Sexualität in ihrer Mannigfaltigkeit nicht gerecht. Offit beschreibt diese Vielfalt des Sexuellen wie folgt:
„Sexualität ist, was wir daraus machen. Eine teure oder eine billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression (der Herrschaft, der Macht, der Strafe und der Unterdrückung), ein kurzweiliger Zeitvertreib, Liebe, Luxus, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse oder das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, eine Form von Zärtlichkeit, eine Art der Regression, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Form, Neugier und Forschungsdrang zu befriedigen, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung“ (Offit 1979, 16).
Offits ausdifferenzierte Darstellung des Sexualbegriffs macht deutlich, dass Sexualität zeithistorischen und kulturellen Wandlungen unterworfen ist und verschiedene menschliche Bedürfnislagen umfasst. So sind besonders Anerkennung und personelle Wahrnehmung durch Dritte zentrale Bedürfnisse, die durch sexuelle Begegnungen zwischen Menschen gestillt werden können.
Die Perspektive der Sichtbarkeit ist dabei gerade für den (sozial-)pädagogischen Zugang unerlässlich, wenn die verschiedenen Zielgruppen der (Sozial-)Pädagogik bedacht werden. So ist die Tendenz zur Marginalisierung und Dethematisierung von Fragen der Sexualität bei Menschen mit Behinderungen oder im Kontext totaler Institutionen (wie z. B. Gefängnisse oder geschlossene Psychiatrien) (Goffmann 1973; Geifrig 2003) auch unter Pädagog_innen weit verbreitet. Unter dem Gesichtspunkt, dass eine menschenrechtsbasierte Profession wie die der (Sozial-)Pädagogik den Auftrag hat, die Würde und Anerkennung der Adressat_innen in ganzheitlicher Form (wieder-)herzustellen, kann aber der Bereich der Sexualität nicht ausgeklammert werden (Staub-Bernasconi 2017).
! | Sexualität ist in jedem (sozial-)pädagogischen Setting mit zu berücksichtigen und mitzudenken. |
Sielert definiert Sexualität als „[…] allgemeine Lebensenergie, die sich des Körpers bedient, aus vielfältigen Quellen gespeist wird, ganz unterschiedliche Ausdrucksformen kennt und in verschiedener Hinsicht sinnvoll ist“ (Sielert 2015, 43). Diese Perspektive ist insofern relevant, als sie verdeutlicht, dass Sexualität (sozial-)pädagogisch angemessen im Alltag zu berücksichtigen ist. Sielert schlägt vor, den Sexualbegriff unter vier Aspekten zu betrachten:
Identitätsaspekt: Hierunter ist das eigene Erleben als männlich, weiblich oder nonbinär, genderqueer oder auch genderfluid u.Ä. zu verstehen.
Beziehungsaspekt: Dieser Aspekt betrifft die intime Begegnung mit einem oder mehreren Anderen, die das Individuum als wärmend und Sicherheit gebend empfinden kann.
Lustaspekt: Dieser beschreibt die kraftspendende Erfahrung sexueller Begegnungen mit der Option, zur sexuellen Ekstase zu gelangen.
Fruchtbarkeitsaspekt: Hierunter fällt sowohl die lebensspendende Energie, die durch Geschlechtsverkehr freigesetzt wird, als auch die Option, durch Zeugung Leben weitergeben zu können. (Sielert 1993)
Neben diesen von Sielert ausgearbeiteten Aspekten bestehen aber noch weitere Perspektiven, die es zu bedenken gilt:
Biografischer Aspekt: Dieser Aspekt betont die lebenslange Präsenz von Sexualität – von der Zeugung bis zum Tod ist der Mensch ein sexuelles Wesen. Es konnte nachgewiesen werden, das Babys schon im Mutterleib an ihre Genitalien greifen und mit ihnen spielen (Borneman 1981; Nilsson 2003). Auch Freud (2012) verweist bereits um 1900 darauf, dass Kleinkinder eine eigene „kindliche Sexualität“ besitzen.
Genderspezifischer Aspekt: Das Erleben von Sexualität ist auch zwischen den Geschlechtern höchst unterschiedlich. So konnten Masters und Johnson nachweisen, dass das Erleben des Orgasmus entscheidend vom Geschlecht abhängig ist (Masters/ Johnson 1966). Für den Bereich der Sonderpädagogik konnte gezeigt werden, dass Frauen mit Behinderung im Gegensatz zu Männern häufiger unterstellt wird, keinen Sexualtrieb zu haben (Geifrig 2003; Schmetz / Stöppler 2007). Auch kulturell und historisch geprägte Ge- und Verbote im Zusammenhang mit Sexualität weisen geschlechtsspezifische Unterschiede auf.
Ambivalenzen der Sexualität: Da Sexualität als soziales Phänomen betrachtet werden muss, bleiben Ambivalenzen nicht aus, denn menschliches Handeln ist immer auch von Ambivalenzen durchzogen. Sexualität hat neben allen hier geschilderten positiven Aspekten auch „Schattenseiten“, wie bspw. sexuellen Missbrauch (Martin / Niemann 2000) (s. Kap. 9). Besonders deutlich wird dies bei jenen Adressat_innen, die nicht oder noch nicht wehrhaft sind, so bspw. Menschen mit (geistiger) Behinderung, Menschen mit Demenz oder Kinder.
Ausdrucksformen der Sexualität: Noch in der Antike wurden homosexuelle Beziehungen geachtet und teilweise aus pädagogischer Perspektive positiv bewertet (Knabenliebe im antiken Athen). Der Einzug des Christentums in den westlichen Kulturraum stellt eine Zäsur dar, mit der Sexualität stark auf ihren Fortpflanzungsaspekt fokussiert wird (Fiedler 2004). Dies mag seinen Ursprung in der jüdischen Geschichte haben, in der die äußeren Bedrohungsszenarien das Volk möglicherweise dazu veranlassten, die Zeugung von Nachkommenschaft stark zu betonen und auch mit religiösen Riten zu versehen, damit das Weiterbestehen des eigenen Glaubens und der eigenen Kultur sichergestellt werden konnte (Hierholzer 2014, s. Kap. 4.2).
Die restriktive christliche Sichtweise führte letztlich zur Kriminalisierung, Stigmatisierung und Verfolgung von nicht auf Fortpflanzung gerichteter Sexualität bzw. sexuellen Orientierungen, die nicht primär den Zeugungsauftrag erfüllen können. Erst seit der Jahrtausendwende erfahren gleichgeschlechtlich liebende Personen allmählich die notwendige Anerkennung ihrer Lebensform. In Deutschland schlägt sich dies unter anderem auch in staatlicher Anerkennung / Rehabilitation von Menschen nieder, die nach § 175 Strafgesetzbuch verurteilt worden waren, und in der Möglichkeit einer gleichgeschlechtlichen Ehe (Hierholzer 2016).
1.2 Medizinische Perspektive
Medizin als Erfahrungswissenschaft hat mit dem Aufkommen der Queer Studies in den 1990er Jahren eine erweiterte Differenzierung von Geschlechtsvorstellung erfahren. Dies zeigt sich u. a. an der Veränderung der Perspektive auf Trans-Identität in der Neufassung der ICD, welche darin nicht mehr als „Störung“ verstanden wird (Rauchfleisch 2018). Innerhalb der Sexualforschung lässt sich nach wie vor eine Diskrepanz konstatieren. Zum einen gibt es die biologistische Perspektive auf Sexualität, welche sich seit August Henschel (s. Kap. 1.1), gerade bei konservativ-religiösen Wissenschaftler_innen im angloamerikanischen Raum, weiterhin stark durchzieht (Sigusch 2008). Eine der ersten und bedeutendsten Studien, die die Bedeutung biomedizinischer Aspekte relativierten, war der sogenannte „Kinsey-Report“ (Kinsey 1941). Kinsey und Kollegen waren es, die mittels Befragungen zur Erkenntnis gelangten, dass innerhalb der amerikanischen Bevölkerung eine beachtliche Spannbreite von sexuellen Orientierungen vorlag.
Aus den Befragungen entwickelte Kinsey schließlich die sogenannte Kinsey-Skala, mit deren Hilfe er den Grad der Homosexualität maß. Die Ergebnisse dieser Skaleneinteilung sind bis in die Gegenwart hinein umstritten, da Kinsey vor allem Gefangene zu ihrem Sexualverhalten befragte. Dennoch wurde mit dieser...
Erscheint lt. Verlag | 18.1.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
Technik ► Architektur | |
Schlagworte | Alterssexualität • Basiswissen • Bisexualität • Erziehung • Gender • Geschlecht • geschlechtergerechte • Geschlechtserziehung • Heterosexualität • Homosexualität • INTERPERSONEN • Pornografiekonsum • Queer • Sex • Sexualerziehung • Sexualität • Sexualverhalten • Sexuelle Vielfalt • Soziale Arbeit • Sozialpädagogik • Tabu • Trans • Transidentität |
ISBN-10 | 3-497-61425-4 / 3497614254 |
ISBN-13 | 978-3-497-61425-7 / 9783497614257 |
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