Testosteron (eBook)

Testosteron. Warum ein Hormon nicht als Ausrede taugt
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
384 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26866-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Testosteron -  Rebecca Jordan-Young,  Katrina Karkazis
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Unverzichtbar für die aktuellen Diskussionen zu #metoo, Gender und toxischer Männlichkeit — der Mythos Testosteron neu beleuchtet.
Testosteron macht männlich. Testosteron ist schuld an sexuellen Übergriffen und Gewaltexzessen im Krieg. Testosteron macht durchsetzungsfähig im Beruf. Die Mythen, die sich um das vermeintliche männliche Geschlechtshormon ranken, sind weitverbreitet, verzerren die Realität — und sie sind gefährlich.

Rebecca Jordan-Young und Katrina Karkazis räumen auf mit den Halbwahrheiten rund ums Testosteron. Sie zeigen, wie sie sich auf unser Denken und Handeln auswirken und wie sie überwunden geglaubte Auswüchse von Sexismus, Rassismus und Klassismus nähren. Als Gesellschaft müssen wir diese Mythen endlich hinter uns lassen.

Rebecca Jordan-Young, geboren 1963, ist Medizinsoziologin und Professorin für Women’s, Gender and Sexuality Studies an der Columbia University. Ihre Forschung erschien u.a. in Nature und sie schreibt neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit für die New York Times und den Guardian.

Katrina Karkazis, geboren 1970, ist Kulturanthropologin und Bioethikerin. Ihre Forschung bewegt sich entlang der Schnittstellen von Naturwissenschaften, Technologie und Gender Studies. Karkazis ist Carol Zicklin Endowed Chair in Honors Academy an der City University in New York sowie Senior Research Fellow an der Yale University. Sie schreibt u.a. für die New York Times, Wired und New York Review of Books.

Hainer Kober, Jahrgang 1942, studierte Germanistik und Romanistik und übersetzt seit 1972 wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Literatur mehrerer Fachrichtungen und Belletristik aus dem Englischen und Französischen, u.a.: Stephen Hawking, Brian Greene, Antonio Damasio und Oliver Sacks.

»Detailversessen, gründlich, cool … Ein Buch, das uns durch die aktuellen Hormon-Debatten peitscht … Eine Kritik an der schleichenden Biologisierung der Gesellschaft.«
Claudia Friedrich, WDR3, 27.10.20

1

EINE VIELZAHL AN TS

Sucht man im Internet nach einer Definition von »Testosteron«, wird man bei den ersten fünf oder sechs Treffern wahrscheinlich auf die folgenden oder ähnliche Definitionen stoßen: »kommt in natürlicher Form bei Männern und männlichen Tieren vor«, »stimuliert die Entwicklung von männlichen Geschlechtsorganen, sekundären Geschlechtsmerkmalen und Sperma« und »wird primär in den Hoden produziert«. Diese Suchergebnisse sind mehr oder weniger korrekt, aber sie sind auch irreführend, weil sie den Eindruck erwecken, T werde nur von männlichen Körpern zur Produktion von »männlichen« Merkmalen hergestellt. Man möchte meinen, dass eine maßgebliche Quelle wie die US National Library of Medicine (NLM) in dieser Hinsicht genauer sein sollte, aber ihre populärwissenschaftliche Seite definiert Testosteron als »ein männliches Hormon, dass vor allem in den Hoden (einem Teil des männlichen Fortpflanzungsapparates) produziert wird. Es ist erforderlich, um männliche Geschlechtsmerkmale auszubilden – Gesichtsbehaarung, tiefe Stimme, Muskelwachstum und so fort. Testosteron kann auch im Labor hergestellt und zur Behandlung bestimmter Erkrankungen verwendet werden.« Der Text ist in mehrfacher Hinsicht problematisch, am auffälligsten, weil das vermeintlich »männliche Sexualhormon« eben nicht geschlechtsspezifisch ist: Es wird auch in gesunden Eierstöcken, in der Nebenniere und durch Umwandlung in peripheren Geweben produziert.1

Wenn die NLM Testosteron ausschließlich auf Männer bezogen definiert, so liegt das daran, dass sie hartnäckig an den Erwartungen festhält, die die ersten Endokrinologen in Hinblick auf die Geschlechtshormone hegten. Angesichts so überholter Informationen kann es nicht wundernehmen, dass Laien zu der Annahme neigen, Ts Vorkommen und Wirkungen in Frauen seien vernachlässigbar, denn schließlich lässt auch eine Institution wie die NLM 80 Jahre kumuliertes Wissen über T einfach unter den Tisch fallen. Einige Quellen versuchen dieses Problem zu lösen, indem sie auf die Mengenunterschiede verweisen: Im Vergleich zu den Männern, so heißt es dort, produzierten Frauen in der Regel sehr kleine Mengen Testosteron. Doch diese Fixierung auf Quantität führt in die Irre, insofern sie den Eindruck erweckt, kleine Mengen von T riefen kleine Effekte hervor. Doch Dosis-Wirkungs-Kurven für T sind nicht linear: Kleine Mengen können große Wirkungen haben, besonders bei Menschen, die den größten Teil ihres Lebens einen niedrigen T-Spiegel gehabt haben. Außerdem wirken sich diese großen Effekte häufig nicht auf den gesamten Körper gleichermaßen aus: Beispielsweise stellen viele Transmänner fest, dass der Wuchs ihrer Gesichtsbehaarung sehr viel stärker ist als ihr Muskelaufbau. Doch in klinischen und behavioralen Studien werden die Ergebnisse selten so präsentiert, dass man anhand von Wirkungskurven erkennen kann, welche Effekte spezifische Dosen von T auf individuelle Teilnehmer gehabt haben. Solche Informationen bekommt man in Gesprächen mit Klinikern und mit Leuten, die T eingenommen haben.

Bei genauerem Hinsehen erweist sich Ts Identität als das Steroidhormon C19H28O2. Das Wort »Steroid« bezeichnet ein Molekül mit einem Grundgerüst von vier Kohlenstoffringen, dazu gehören beispielsweise Östrogen, Progesteron, Cortisol und sogar das Cholesterin. Diese exakte chemische Bestimmung ist eine befriedigende Definition für uns alle, die wir klare Antworten lieben.

Doch genauso kann man mit einigem Recht sagen, das T als singuläre chemische Struktur nur eine abstrakte Existenz fristet; wie es in Körpern vorkommt, ist eine andere Geschichte. T wird in Sexualorganen gefunden, aber auch sonst fast überall im Körper, unter anderem in Blut, Speichel, Urin, Gehirn, Muskeln, Haut und den inneren Organen. Manchmal zirkuliert das Molekül ungebunden, doch meist ist es an das Sexualhormon-bindende Globulin (SHBG) oder Albumin – also an Proteine im Blut – gebunden. Und es ist nicht statisch. Wie alle Steroide befindet sich T in einem ständigen Fluss von Erzeugung und Verwandlung. Teile von T wirken direkt auf Zellen ein, doch einige werden in sogenannte »Downstream«-Steroide verwandelt, Estradiol (Östrogen) oder Dihydrotestosteron.

Es gibt nicht nur ein Testosteron: T hat viele Formen.

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Mit anderen Worten, T ist eine Multiplizität. Wir sind nicht die Ersten, die das Konzept der Multiplizität untersuchen. In The Body Multiple: Ontology in Medical Practice hat Annemarie Mol gezeigt, dass Arteriosklerose sich je nach Kontext anders darstellt – in einer klinischen Untersuchung anders als in einem Lehrbuch, in einem pathologischen Labor anders als in einem Operationssaal oder einer epidemiologischen Studie. Dabei fühlt man sich bei Mol nicht etwa an die berühmte Parabel erinnert, in der eine Gruppe von Menschen mit verbundenen Augen einen Elefanten beschreiben sollen, wobei allerdings jeder vor einem anderen Teil des Elefantenkörpers steht und nur Ausschnitte des Ganzen ertasten kann. Allerdings geht es nicht nur darum, dass jeder andere Aspekte der Arteriosklerose in diesen verschiedenen Kontexten sieht. Mol zeigt etwas, das viel verwirrender und faszinierender ist: Was die Arteriosklerose in einem Umfeld ist, befindet sich in direktem Widerspruch zu dem, was sie in anderen Umfeldern ist. Jemand der über Atemnot und Schmerzen beim Gehen klagt, würde in einer Arztpraxis möglicherweise einem Belastungs-EKG unterzogen werden, damit festgestellt werden kann, ob das Herz genügend Blut durch den Körper pumpt, während der Patient auf einem Laufband geht. Vielleicht würde der Arzt anschließend ein Angiogramm oder eine Doppler-Ultraschall-Untersuchung vornehmen, um sich über den Zustand bestimmter Arterien oder die Geschwindigkeit des Blutes auf seinem Weg durch den Körper zu informieren. Aber die Tests würden nicht unbedingt die gleiche Geschichte erzählen. Ein Patient könnte in dem Belastungs-EKG gut abschneiden, aber Blockaden im Angiogramm erkennen lassen. Manchmal weist jemand mit sehr ausgeprägten Symptomen keine besonders auffälligen Blockaden auf, und ein andermal stellt man bei einer Autopsie fest, dass ein beschwerdefreier Patient eine massive Blockade hatte. Dieser sehr pauschale Überblick wird der Genauigkeit von Mols Analyse nicht gerecht, aber er zeigt, was uns bei der Betrachtung von Testosteron wichtig ist.2

Die vermeintliche Singularität von T – die Vorstellung, Testosteron ist genau das und nichts anderes – ist ein Irrglaube. Dem Kontext kommt große Bedeutung zu. Versuchen wir ein Gedankenexperiment: Eine Forschungsgruppe interessiert sich für die Beziehung zwischen T und Aggression. Wie untersucht sie diesen Aspekt? In vielen klassischen Experimenten begann man damit, eine Gruppe von Menschen zusammenzustellen, die bestimmte Kriterien für Aggressivität erfüllte, und eine andere Gruppe, die diese Kriterien nicht aufwies. Dann verglich man die beiden Gruppen, um festzustellen, ob die »aggressiven« Menschen ein höheres T aufwiesen als »typische« Personen. Doch selbst bei diesem überaus einfachen Forschungsdesign sind viele komplizierte Aspekte und Fragen zu berücksichtigen.

Zunächst einmal müssen die Forscher Eigenschaften oder Verhaltensweisen auswählen, mittels deren sich Aggression definieren lässt. Obwohl solche Entscheidungen mit wichtigen Problemen und Konsequenzen behaftet sind, lassen wir sie hier beiseite, weil wir sie in allen Einzelheiten in Kapitel 3 wiederaufnehmen. Wenn wir zum nächsten Schritt des Forschungsprozesses übergehen, werden sich dort einige Wissenschaftler für die Möglichkeit interessieren, dass T-Spiegel in einer entscheidenden Phase der frühen Entwicklung die Aggression beeinflusst haben (hier spricht man von einem organisierenden Effekt), während andere eher wissen wollen, wie sich das gegenwärtig zirkulierende T auf das Verhalten auswirkt (der sogenannte aktivierende Effekt). Da wir uns in diesem Buch vorwiegend den Auswirkungen des in Erwachsenen zirkulierenden Ts widmen, wird unser imaginäres Experiment diesen Weg einschlagen. Forscher, deren Interesse an T geweckt ist, müssen als Nächstes entscheiden, mit welchem T sie arbeiten und wie sie damit arbeiten wollen.

Gewonnen werden kann T aus Blut, Muskeln oder anderen Geweben, außerdem findet man es in Urin und Speichel. Es gibt drei große Probleme bei der Entscheidung, welches Medium man wählen soll. Erstens die Frage, wie leicht und wie kostspielig die Datensammlung ist – Forscher neigen zu der billigsten Lösung, die gewöhnlich der Speichel ist. Zweitens müssen Forscher in der Lage sein, ihre eigenen Befunde mit denen anderer Studien zu vergleichen; wenn also in anderen Studien überwiegend Blut verwendet wurde, ist es möglicherweise keine besonders kluge Entscheidung, zu Speichel oder Urin zu wechseln, selbst wenn eines der beiden billiger oder leichter zu beschaffen ist. Es ist nicht leicht, Daten, die an einem Medium gewonnen wurden, in die eines anderen zu übersetzen, und es ist nicht nur eine Frage der Messskala oder der Konzentrationsunterschiede zwischen zwei Medien. T im Blut entspricht nicht genau dem T in Speichel, Muskeln oder Urin, daher wird der Wechsel zu einem anderen Medium die Forschungsergebnisse beeinträchtigen.

Das dritte Problem ist am schwierigsten zu verstehen. Unter Forschern setzt sich zunehmend die Überzeugung durch, dass die Wahl des Mediums teilweise davon abhängt, an welchen Auswirkungen von T sie interessiert sind. Ein Sportwissenschaftler, den wir interviewten, konzentriert sich auf Ts Effekte in den Muskeln. Sein Team hatte Muskelproben für einige sehr kleine Pilotstudien genommen, aber...

Erscheint lt. Verlag 19.10.2020
Übersetzer Hainer Kober
Sprache deutsch
Original-Titel TESTOSTERONE: AN UNAUTHORIZED BIOGRAPHY
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Aggression • Aggressivität • Biochemie • Cismann • Dominanz • Durchsetzungsvermögen • Falschinformation • Gender • Geschlechtsangleichung • Geschlechtshormon • Gewalt • Gewaltexzesse • Haarausfall • harter kerl • Harvey Weinstein • Hormon • Hormonbehandlung • hormongesteuert • Hormonspiegel • Hormontherapie • Identität • Krieg • Kriegsverbrechen • Legenden • Macho • Männliche Identität • männliches Geschlechtshormon • Männlichkeit • #metoo • metoo • My Lai • Mythen • #ohnefolie • Östrogen • Patriarchat • Risikobereitschaft • Sexismus • Sexualität • Sexuelle Belästigung • Sexuelle Gewalt • Sexuelle Übergriffe • Testosteron ankurbeln • Testosteronspiegel • tiefe Stimme • toxische männlichkeit • toxische Maskulinität • Trans • Transgender • Transidentität • Transmann • Transsexualität • Unterdrückung • Vereinfachungen • Vergewaltigung • Vietnam • Vorurteil • weibliches Geschlechtshormon
ISBN-10 3-446-26866-9 / 3446268669
ISBN-13 978-3-446-26866-1 / 9783446268661
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