Die Regenschirm-Formel (eBook)
281 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75649-8 (ISBN)
Archimedes
Manchmal genügt schon ein einfacher Perspektivenwechsel, um die komplexesten Phänomene zu begreifen. Mickaël Launay, Autor des Bestsellers Der große Roman der Mathematik, nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine spannende mathematische Reise, die in den Gängen der Supermärkte beginnt und in den schwindelerregenden Tiefen der Schwarzen Löcher noch lange nicht endet. Sein so unterhaltsames wie intelligentes Buch lässt niemanden mit seinen kleinen und großen Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest im Regen stehen. Heben Sie noch einmal den Blick und schauen Sie sich um: Nach der Lektüre sehen Sie die Welt - Ihre Welt - womöglich ganz anders.
Wenn wir die Welt begreifen möchten, wenn wir neugierig auf das uns umgebende Universum sind, dann riskieren wir, durcheinandergebracht zu werden. Im Grunde haben die großen Wissenschaftler der Geschichte vor allem gegen die bestehende Ordnung rebelliert. Die Wissenschaft ist das ideale Terrain, um Dinge in Frage zu stellen, und die Mathematik bietet uns hierfür ein wirkungsvolles Werkzeug. Mathematik bedeutet, hinter die Kulissen der Welt zu treten. Wir schleichen uns hinter die Bühne und schauen uns die riesigen Zahnräder an, die unsere Welt bewegen. Es ist ein faszinierendes, aber auch verwirrendes Schauspiel. Die Realität widersetzt sich unseren Sinnen und unserer Intuition. Sie will nicht dem Bild entsprechen, das wir von ihr haben. Sie stellt unsere Annahmen und innersten Überzeugungen auf den Kopf. Unscheinbare Details können große Geheimnisse verbergen.
Mickaël Launay hat Mathematik studiert und über Wahrscheinlichkeitstheorie promoviert. Er hat zahlreiche Projekte entwickelt, um insbesondere junge Leute für Mathematik zu begeistern, darunter den millionenfach angeklickten Youtube-Kanal «Micmaths». Sein in 15 Sprachen übersetztes, vielfach preisgekröntes Buch "Der große Roman der Mathematik" war ein internationaler Bestseller.
1.
Das Supermarkt-Gesetz
Das Benfordsche Gesetz
Reisen in das Reich der Mathematik beginnen manchmal an ganz unscheinbaren Orten.
Zu Beginn wollen wir uns in den Laden an der Ecke begeben. Sicher gibt es einen bei Ihnen in der Nähe, in dem Sie regelmäßig einkaufen. Ob es sich dabei um einen Riesensupermarkt oder einen Dorfladen handelt, spielt keine Rolle. Man muss dort nur eine Auswahl der täglich benötigten Grundnahrungsmittel finden.
Die Szene ist Ihnen bekannt. Sie sind Hunderte, vielleicht gar Tausende Male hier gewesen. Sie kennen die Gänge, die Regale, das rhythmische Piepen an der Kasse. Kunden laufen auf und ab und sammeln mechanisch Milchkartons oder Konserven ein. Wir aber wollen dieses Mal nichts kaufen: Wir sind als Beobachter hier.
Denn an diesem Ort versteckt sich ein besonders faszinierendes mathematisches Goldstück. Und zwar direkt vor unseren Augen. All die Jahre hat es dort gelauert und sich nicht einmal getarnt: Sie können es jetzt in diesem Moment sehen. Eine kleine Absonderlichkeit. Eines dieser unauffälligen Details, die wir direkt vor der Nase haben und die uns doch meist entgehen. Einen aufmerksamen Beobachter können sie jedoch durchaus stutzig machen. Greifen wir also zum Smartphone oder Notizblock und schauen auch wir genauer hin.
Sehen Sie sich einmal die Preise an, die sich in den Regalen aneinanderreihen: 2,30 € … 1,08 € … 12,49 € … 3,53 € … All diese Zahlen erscheinen uns vollkommen zufällig, wenn wir sie rasch hintereinander lesen. 1,81 € … 22,90 € … 0,64 € … Die Preisspanne reicht von wenigen Cents bis zu Dutzenden Euros. Aber auf diese Information haben wir es gar nicht abgesehen. Vergessen wir ganz einfach die Kommas, Nullen und alle nachfolgenden Zahlen. Bei jedem Preis schauen wir nur auf die erste Ziffer, denn nur sie ist für unser Experiment entscheidend.
Da haben wir etwa ein Netz Rosenkohl für 1,54 €: Notieren wir eine 1. Ein paar Regale weiter sehen wir einen Deostick für 3,49 €: Ins Heft kommt eine 3. Ein Camembert à 250 Gramm für 1,99 €. Also wieder eine 1. Eine beschichtete Pfanne für 45,90 €: Zum ersten Mal zwei Stellen vor dem Komma, aber das spielt keine Rolle, es geht uns nur um die erste Zahl und wir notieren also eine 4. Eine Tüte Erdnüsse für 0,75 €: Die erste für uns wichtige Zahl ist die 7.
Schlendern wir also eine Weile durch die Gänge und lassen unsere zufällige Zahlenreihe anwachsen: 1 3 1 4 7 9 2 2 1 7 9 8 1 1 3 1 1 1 8 1 1 2 1 2 1 1 9 1 4 7 1 6 1 5 9 2 2 1 3 2 2 2 1 2 2 6 … Irgendwann werden wir stutzig: Unsere Zahlengirlande sieht irgendwie seltsam aus. Die Ziffern sind ungleich verteilt, die Reihe besteht hauptsächlich aus Einsen und Zweien und wird nur hier und da von einer 3, 4, 5, 6, 7, 8 und 9 unterbrochen. Als wenn wir unbewusst nur auf die niedrigsten Preise geschaut hätten. Da stimmt doch was nicht.
Jetzt sind wir als gewissenhafte Statistiker gefragt. Vermeiden wir jede Art von Voreingenommenheit, gehen wir ganz systematisch vor. Dazu wählen wir beliebig einzelne Regale aus und schreiben dieses Mal ohne Ausnahme alle Preise aller Produkte auf. Das ist mühselig, aber wir möchten der Sache ja auf den Grund gehen.
Eine Stunde später ist unser Heft mit einer Zahlenpolonaise angefüllt, die sich über mehrere Seiten zieht: Zeit für eine Bilanz. Nach dem Durchzählen ist das Urteil unwiderruflich, die Tendenz hat sich bestätigt. Wir haben die Preise von über eintausend Produkten notiert und beinahe ein Drittel beginnt mit einer 1! Ein gutes Viertel beginnt mit einer 2, und je höher die Zahl, desto seltener taucht sie auf.
Wir kommen damit auf folgende Verteilung:[1]
Nun ist nicht mehr an Zufall oder eine unbewusste Auswahl der Produkte zu glauben. Die Ahnung ist zur Tatsache geworden, der wir uns beugen: Die ersten Ziffern der Preise in einem Supermarkt sind nicht gleichmäßig verteilt. Kleine Zahlen sind deutlich stärker vertreten.
Wie kommt es zu diesem Ungleichgewicht? Auf ebendiese Frage wollte ich hinaus. Welchem Gesetz der Supermärkte, des Handels oder der Wirtschaft folgen Supermarktpreise, um dieses seltsame Ergebnis hervorzubringen? Warum sind die ersten Ziffern nicht gleich verteilt? Ist die Mathematik nicht verpflichtet, allen Zahlen die gleiche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen? Mathematik müsste doch unvoreingenommen und vorlieblos sein. Und doch bestätigen die Fakten das genaue Gegenteil. Im Supermarkt hat die Mathematik ihre Günstlinge. Sie heißen 1 und 2.
Wir haben beobachtet. Wir haben festgestellt. Jetzt heißt es: nachdenken, analysieren und Schlüsse ziehen. Die Daten haben wir gesammelt, nehmen wir sie nun genauer unter die Lupe.
Im März 1938 veröffentlichte der US-amerikanische Ingenieur und Physiker Frank Benford The Law of Anomalous Numbers (Das Gesetz der anomalen Zahlen). In dem Artikel untersuchte er numerische Daten aus über zwanzigtausend verschiedenartigen Erhebungen. In seinen Tabellen findet man etwa die Länge der Flüsse der Welt, die Bevölkerungszahlen verschiedener amerikanischer Städte, die Masse der bekannten Atome, zufällig aus Informationsbroschüren entnommene Zahlen oder auch mathematische Konstanten. Und bei allen diesen Daten macht Benford die gleiche Beobachtung wie wir: Die ersten Ziffern sind nicht gleichmäßig verteilt. Etwa 30 % der Zahlen beginnen mit einer 1, 18 % mit einer 2. Der Prozentsatz nimmt stetig ab, bis wir bei der Ziffer 9 anlangen, mit der nur 5 % der Werte beginnen.
Benford ist nicht auf die Idee gekommen, seine Statistik im Supermarkt zu überprüfen. Aber Sie werden zugeben, dass seine Resultate den unseren auffällig ähneln. Natürlich weicht die prozentuale Verteilung etwas ab, aber im Ganzen ist die Übereinstimmung doch frappierend.
Benfords Studie beweist, dass die von uns gesammelten Daten kein Einzelereignis sind. Sie sind nicht spezifisch für die Funktionsweise eines Supermarkts, sondern fügen sich in eine viel weitreichendere Tendenz ein. Nach der Veröffentlichung von Benfords Artikel beobachteten viele Wissenschaftler ebendiese Verteilung in zahlreichen, ganz unterschiedlichen Kontexten.
So zum Beispiel in der Demografie. Von den 203 Ländern, die unser Planet Erde zählt, haben 62, also 30,5 %, eine Bevölkerungsmenge, die mit einer 1 beginnt – vom bevölkerungsreichsten Land China mit 1,4 Milliarden Menschen über Mexiko mit 122 Millionen Menschen, dem Senegal mit 13 Millionen bis zum Inselstaat Tuvalu mit 10.800 Einwohnern. Dagegen gibt es nur 14 Länder, deren Bevölkerungszahl mit einer 9 beginnt – das entspricht 6,9 %.
Oder bevorzugen Sie die Astronomie? Von den acht Planten, welche die Erde umkreisen, haben vier einen äquatorialen Durchmesser, der mit einer 1 beginnt. Jupiter misst 142.984 Kilometer, Saturn 120.536, die Erde 12.756, Venus 12.104. Die Sonne hat einen Äquator von 1.392.000 km. Falls Ihnen eine Probe aus neun Himmelskörpern zu klein erscheint, können wir gerne Zwergplaneten, Satelliten, Asteroiden und Kometen hinzufügen und gelangen doch zur selben Feststellung: Die 1 überwiegt.
Wenn man einmal auf das Phänomen aufmerksam geworden ist, hagelt es Beispiele. Man nehme eine Liste mit Zahlen aus einem beliebigen Kontext, schaue sich die ersten Ziffern an und wieder steht es einem vor Augen. Die Benford-Verteilung taucht immer und überall auf. Weit entfernt davon, eine Ausnahme zu sein, erscheint sie als natürliche, allgegenwärtige statistische Regel. Und paradoxerweise ist die gleichmäßige Verteilung, die uns doch viel selbstverständlicher und intuitiver vorkommen könnte, offenbar nicht in der Welt vorhanden.
Angesichts dieser Größenordnung können wir also nicht mehr von einer Absonderlichkeit im Supermarkt sprechen. Was wir hier entdeckt haben, ist eine vollwertige Regel, die nicht nur in zahlreichen menschlichen Tätigkeitsfeldern auftaucht, sondern der Natur selbst innewohnt und ihren innersten Aufbau bestimmt. Mit ihrer Entdeckung gewinnen wir einen tiefen Einblick in unsere Welt und ihre Funktionsweise.
Der Einfluss der Benford-Verteilung ist so stark, dass wir sie reproduzieren, ohne uns dessen bewusst zu sein. Die Menschen, die in Supermärkten die Preise festlegen, sprechen sich nicht ab und haben meist noch nie von einem Frank Benford gehört. Und doch – als würden sie von einer Macht gelenkt, die größer ist als sie – folgen sie dieser Regel. Genauso wie die Einwohnerzahl der Länder, die Länge der Flüsse und der Durchmesser der Planeten.
1938 nannte Frank...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2020 |
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Illustrationen | Chloé Bouchaour |
Übersetzer | Ursula Held |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Denken • Komplexität • Mathematik • Natur • Perspektivwechsel • Physik • Sachbuch • Verstand • Vorurteile • Wahrnehmung |
ISBN-10 | 3-406-75649-2 / 3406756492 |
ISBN-13 | 978-3-406-75649-8 / 9783406756498 |
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