Fenster ins Gehirn (eBook)

Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann
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2021 | 1. Auflage
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2391-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fenster ins Gehirn -  John-Dylan Haynes,  Matthias Eckoldt
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Zu wissen, was im Kopf eines anderen vor sich geht, gehört zu den ältesten Sehnsüchten der Menschheit. Längst sind Wissenschaftler dabei, Gedanken aus der Hirnaktivität auszulesen. Der renommierte Neurologe John-Dylan Haynes hat es geschafft, verborgene Absichten in den Hirnen seiner Probanden zu entschlüsseln. Seine Forschungen ergeben provokante Fragen: Sind unsere Gedanken wirklich sicher? Wird man irgendwann per Gehirnscan unsere Wünsche und Gefühle oder gar unsere PINs auslesen können? Kann die Werbung unsere Hirnprozesse gezielt beeinflussen, um uns bestimmte Produkte kaufen zu lassen - sogar gegen unseren Willen? Haben wir überhaupt einen freien Willen oder sind wir durch unser Gehirn vorherbestimmt? Noch ist es bis zum Lesen beliebiger Gedanken ein weiter Weg. Aber das kann sich vielleicht schneller ändern, als uns lieb ist.

JOHN-DYLANHAYNES, geboren 1971, Psychologe und Neurowissenschaftler, ist Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin. Er war wesentlich daran beteiligt, das Thema Gedankenlesen für die Hirnforschung zu erschließen. Über seine Arbeit wurde international berichtet, darunter im Guardian, auf CNN, in der ZEIT, im Spiegel und in National Geographic.

John-Dylan Haynes, geboren 1971, ist Psychologe und Neurowissenschaftler sowie Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN) und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er gilt als Pionier des neurowissenschaftlichen Gedankenlesens. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Entschlüsselung mentaler Zustände anhand von Gehirnsignalen sowie Aufmerksamkeit, Bewusstsein, freier Wille und Entscheidungsfindung.

Kapitel 1
Das geheime Kämmerlein
der Gedanken


Wäre es nicht großartig, immer genau zu wissen, wann unser Gegenspieler beim Pokern blufft (Abbildung 1)? Oder ob der Angeklagte wirklich den Mord begangen hat? Oder was der Partner tatsächlich über das selbst gemachte Batikhemd denkt? Im Alltag müssen wir uns darauf verlassen, dass Menschen ehrlich sind, wenn sie uns sagen, was sie denken. Denn sie sind die Torwächter in die Welt ihrer eigenen Gedanken. Wollen sie etwas nicht mitteilen, können sie ihre Gedankenwelt weitgehend verborgen halten.

Abb. 1 Beim Pokern könnte es sehr hilfreich sein, die verborgenen Gedanken und Gefühle eines Gegenspielers einschätzen zu können. Hinter mancher Unschuldsmiene kann sich der schlimmste Bluff verstecken.

Aber vielleicht nicht mehr lange. Die moderne Hirnforschung hat in den letzten Jahren massive Fortschritte gemacht. Ist es damit bald möglich, im Gehirn nachzuschauen, was jemand gerade denkt?

Wir müssen schon an dieser Stelle eines deutlich machen: Unter Gedanken versteht die Hirnforschung nicht nur innere Sprache, wie etwa »Meine Güte, glaubt der Verkäufer wirklich, dass mir diese Hosenträger stehen?«. Vielmehr wird in unserer Forschung der Begriff »Gedanke« ganz bewusst weiter gefasst: Er meint letztlich alles, was in irgendeiner Weise in unser Bewusstsein dringt, also alles, was wir erleben – egal ob wir wach sind oder träumen. Da kommt eine Reihe unterschiedlichster Elemente zusammen: das Sehen von Gegenständen (auch diese schwarzen Zeichen auf weißem Grund, die Sie gerade lesen) ebenso wie die Wahrnehmung von Geräuschen und Tönen und allem, was man riechen und tasten kann. Zu diesen bewussten Wahrnehmungen kommen noch alle Arten von Gefühlen sowie Erinnerungen und Absichten, Handlungspläne und natürlich die oben erwähnten sprachlichen Gedanken, Träume sowie Belohnungsmomente, die das Leben im wahrsten Sinne des Wortes versüßen. All diese verschiedenen geistigen Zustände meinen wir, wenn wir in der Forschung und auch in diesem Buch von Gedanken reden.

Selten findet man die Idee des maschinellen Gedankenlesens so schön umgesetzt wie in dem Film Futureworld aus dem Jahr 1976. Zwei Journalisten, Chuck und Tracy, besuchen eine Zukunftsstadt, in der Roboter Menschen mit Rollenspielen unterhalten. Der Betreiber dieser Stadt, Dr. Duffy, führt den beiden Journalisten seine neueste Erfindung vor: eine Maschine, die Gedanken lesen kann. Tracy erklärt sich spontan bereit, die Maschine auszuprobieren. Ganz sicher ist sie sich nicht, ob das eine gute Idee ist, schließlich möchte sie ja nicht, dass ihr Kollege (und gelegentlicher Liebhaber) Chuck zu tiefe Einblicke in ihre private Gedankenwelt erhält. Doch die journalistische Neugier siegt.

Tracy wird in eine abgeschirmte Kammer geführt. Dort legt sie sich auf ein bequemes großes Luftkissen, bekommt eine technische Apparatur über den Kopf gestülpt und soll sich ihren Gedanken und Träumen hingeben.

In der Kommandozentrale außerhalb der Kammer befindet sich das technische Herz der Maschine. Die Hirnaktivität von Tracy wird dort aufgezeichnet und in einen Großcomputer eingespeist, der aus den Hirndaten ihre Gedanken errechnet. Gerade ist sie in Gedanken bei ihrem neunten Geburtstag: Man sieht die Torte, den Vater, einen Kinderfreund und den Hund, der sich an Tracy schmiegt. Dann aber kommt es, wie es kommen muss. Ein anderer Mann, ein Liebhaber, taucht in den Gedanken von Tracy auf. Chuck ist alarmiert.

Ist so etwas prinzipiell vorstellbar? Kann eine Maschine unsere Gedankenwelt auslesen und für andere sichtbar machen – vielleicht noch nicht heute, aber irgendwann in der Zukunft? Oder fühlt es sich vielmehr so an, als befänden sich unsere Gedanken in einem gut versiegelten Kämmerlein, das nur uns selbst zugänglich ist – in einem privaten Gedankensafe, in dem alle unsere Ideen, Einsichten, Sorgen, Empfindungen, Schmerzen, Pläne, Absichten, Gefühle und Erinnerungen verborgen sind und für den nur wir selbst den Zugangscode kennen?

Zwar erzählen wir hin und wieder darüber, was sich in diesem Kämmerlein befindet, aber direkt hineinschauen lassen wir niemanden. Wir wollen nicht, dass jemand unseren Neid sieht, den wir gegenüber einem Kollegen empfinden, der eine Beförderung bekommt, die wir selber gerne hätten. Wir wollen auch nicht, dass jemand unseren Bluff erkennt, wenn wir beim Pokern auf unser Blatt setzen, obwohl wir schlechte Karten haben. Wir wollen auch nicht, dass unser Ehepartner mitbekommt, wenn wir gerade eine Affäre haben. Solche Gedanken sollen im geheimen Kämmerlein unserer Gedankenwelt verborgen bleiben.

Für andere Menschen ist es meistens schwer zu erraten, was wir gerade denken. Völlig sicher vor Zugriff sind unsere Gedanken dennoch nicht. Unser Neid auf den beförderten Kollegen kann herauskommen, wenn wir uns verplappern. Wir merken dann, wie uns die Schamesröte ins Gesicht steigt und dass jeder um uns herum nun sehen kann, wie wir uns ertappt fühlen. Auch beim Pokern verrät uns vielleicht unsere Körpersprache und macht uns einen Strich durch die Rechnung. Ein nervöses Zucken in den Augenlidern kann einem geübten Poker-Ass den Bluff schon verraten. In der Partnerschaft gestaltet es sich auf lange Sicht noch schwieriger, bestimmte Dinge geheim zu halten. Wir können unsere Gedanken nicht völlig verbergen, schon gar nicht gegenüber einer Person, die mit unseren Denk- und Handlungsgewohnheiten eng vertraut ist und daher selbst kleinste Abweichungen spüren kann.

Eine perfekte Abschottung der Gedanken ist sozial auch gar nicht gewünscht. Menschen, die mit ihrem Denken hinter dem Berg halten, gelten als »verschlossen«, machen einen mitunter sogar misstrauisch.

Mit den Techniken der modernen Hirnforschung erlebt die uralte Idee von einer Gedankenlesemaschine einen neuen Höhenflug. Man kann kaum mehr eine Zeitschrift aufschlagen, ohne auf ein Bild von der menschlichen Hirnaktivität zu stoßen. Die entsprechenden Titel ähneln sich: »Wo die Liebe wohnt«1 oder »Das gläserne Gehirn«2. Wenn sich unsere Gedanken in den Mustern der Hirnaktivität tatsächlich widerspiegeln, sollte es dann nicht nur noch ein kleiner Schritt sein bis zum Bau einer Maschine, die unsere privaten Gedanken zu lesen vermag? Eine Maschine, die in dieses private Kämmerlein eindringen kann? Kann die Gedankenwelt, die von Natur aus eine Privatsache ist, mit trickreichen Methoden erschlossen und verstanden werden, so wie die körperlichen Vorgänge in Niere, Herz und Lunge auch?

Um dies zu beantworten, wenden wir uns zunächst einer Kernfrage der menschlichen Existenz zu: Wie hängen Gedanken und Hirnprozesse genau zusammen? Diese Frage ist als das »Leib-Seele«- oder »Geist-Gehirn«-Problem bekannt und beschäftigt Philosophen seit mindestens 2500 Jahren.3

Ist unsere geistige Welt vom Gehirn abhängig oder besitzt sie eine (gewisse) Eigenständigkeit? Gibt es in unserem geheimen Kämmerlein auch Gedanken, die sich nicht im Gehirn abspielen und deshalb zwangsläufig auch nicht aus Hirnprozessen ausgelesen werden können? Man kann die Frage auch noch prinzipieller stellen: Gibt es einen Geist, der unabhängig von unserem Körper existiert? Wenn ja: Kann unser Geist auch nach dem Tod des Körpers weiterexistieren? Wer diese und ähnliche Fragen eher mit Ja als mit Nein beantwortet, für den sind die Welt unserer Gedanken und die Welt unserer Hirnprozesse vermutlich zwei von Grund auf verschiedene Dinge. Diese Teilung in zwei Sphären (oder Existenzbereiche) nennt man Dualismus (etwa: »Lehre von der Zweiheit«). Wenn Sie Dualist sind, würden Sie es für vergebliche Liebesmüh halten, den Geist in unserem Gehirn zu suchen, weil dort lediglich Neurone schalten. Unsere Empfindungen und unser Denken gehen für Sie aber über das hinaus, was die Naturwissenschaft und insbesondere die Hirnforschung erfassen kann.

Der Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist hat die Menschen seit jeher fasziniert, sowohl Experten als auch Laien. Ein Goethe-Vers aus dem zweiten Teil des Faust drückt die Herausforderung aus: »Noch niemand konnt es fassen, wie Seel und Leib so schön zusammenpassen, so fest sich halten, als um nie zu scheiden, und doch den Tag sich immerfort verleiden.«4 Es gibt inzwischen eine Reihe von Hirnforschern, die mit wissenschaftlichen Verfahren versuchen, dieses Menschheitsrätsel zu lösen und den Zusammenhang von »Seel und Leib« genau zu fassen. Aber es ist nicht nur interessant, was Profis über diese zentrale Frage der menschlichen Existenz denken, sondern auch, wie die breite Bevölkerung den Zusammenhang sieht. Denn unsere Vorstellungen von Leib und Seele durchziehen viele Bereiche unserer Existenz und prägen unsere Einstellung zu wichtigen Fragen wie Schuld, Willensfreiheit oder dem Leben nach dem Tod.

Diese und ähnliche Fragen haben mich bereits zum Ende meiner Schulzeit umgetrieben. Ich tat mich damals allerdings schwer, ein Studienfach zu finden, das meinen Erkenntnishunger stillen konnte. Sollte ich Biologie wählen, um etwas über das menschliche Gehirn zu lernen? Oder Informatik, um dann künstliche intelligente Systeme zu programmieren? Oder Philosophie, um die Grundfragen...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Neurologie
Technik
Schlagworte AI • Bewusstsein • Chinesen • Emotionen • Gedanken • gedankenlesen • Gehirn • Gehirnforschung • Gehirnmanipulation • Genie • gläserner Mensch • Hirnforscher • Hirnforschung • huawei • Kölsch • Manipulation • Neurologie • Neurowissenschaft • Silicon Valley • Wille • Willensfreiheit
ISBN-10 3-8437-2391-5 / 3843723915
ISBN-13 978-3-8437-2391-6 / 9783843723916
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