Blueprint - Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen (eBook)

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2019 | 1. Auflage
600 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402747-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blueprint - Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen -  Nicholas Alexander Christakis
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In seinem wissenschaftlich hoch aktuellen und fundierten Buch verfolgt der Mediziner und Sozialwissenschaftler Nicholas A. Christakis einen interdisziplinären Ansatz, um über das Gute in der Gesellschaft - den Zusammenhalt und die Kooperation der Menschen untereinander - zu schreiben. Er bringt aktuelle Forschungsergebnisse aus Evolutionsbiologie, Sozialwissenschaft, Genetik, Neuro- und Netzwerkwissenschaften zusammen und zeigt, dass unsere Gene nicht nur unseren Körper und unser Verhalten beeinflussen. Zudem bestimmen sie nämlich auch die Art und Weise, wie Menschen überall auf der Welt ähnliche Gesellschaften bilden. Die natürliche Auslese hat unsere sozialen Fähigkeiten zu Liebe, Freundschaft und Kooperation immer mehr verstärkt. Christakis zeigt, wie uns die Evolution auf diesen humanen Weg gebracht hat - und warum wir durch unser Menschsein weit mehr vereint sind als geteilt.

Nicholas A. Christakis (Jahrgang 1962) ist Mediziner und Soziologe. Er forscht und lehrt an der Yale University und praktiziert dort als Internist am Mt. Auburn Hospital. Er erforscht die Einflüsse sozialer Faktoren auf Gesundheit und Langlebigkeit. Über seine Studien zu sozialen Netzwerken ist mehrfach in der internationalen Presse, u.a. im Spiegel, berichtet worden. 2018 wurde Nicholas Christakis die Sterling Professur, die höchste Ehre seiner Fakultät an der Yale University, verliehen. Er ist Mitglied der National Academy of Medicine und wurde 2009 von der Times zu einem der 100 einflussreichsten Menschen der Welt erklärt.

Nicholas A. Christakis (Jahrgang 1962) ist Mediziner und Soziologe. Er forscht und lehrt an der Yale University und praktiziert dort als Internist am Mt. Auburn Hospital. Er erforscht die Einflüsse sozialer Faktoren auf Gesundheit und Langlebigkeit. Über seine Studien zu sozialen Netzwerken ist mehrfach in der internationalen Presse, u.a. im Spiegel, berichtet worden. 2018 wurde Nicholas Christakis die Sterling Professur, die höchste Ehre seiner Fakultät an der Yale University, verliehen. Er ist Mitglied der National Academy of Medicine und wurde 2009 von der Times zu einem der 100 einflussreichsten Menschen der Welt erklärt.

eine spannende und gut lesbare soziobiologische Abhandlung über die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens

Ein beeindruckendes, ein Mut machendes Buch.

Vorwort Was uns Menschen eint


Ich war noch ein Junge und verbrachte die Sommerferien im Juli des Jahres 1974 in Griechenland, als plötzlich und unerwartet die Militärdiktatur gestürzt wurde. Der frühere Ministerpräsident Konstantinos Karamanlis sollte aus dem Exil zurückkommen und wurde auf dem Syntagma-Platz von Athen erwartet. Vor dem Parlament und in den umliegenden Straßen kam eine riesige Menschenmenge zusammen. An diesem Abend nahm meine Mutter Eleni mich und meinen Bruder Dimitri mit in die Innenstadt. In den Stunden zuvor hatte die Militärjunta Dutzende Lastwagen mit Soldaten und Lautsprechern durch die Straßen fahren lassen. »Bürger von Athen!«, brüllten die Bewaffneten. »Das geht euch nichts an! Bleibt zu Hause!«

Meine Mutter schlug die Warnung in den Wind. Wir schafften es bis zum Zoo hinter dem Parlamentsgebäude, eine Straßenecke vom Syntagma-Platz entfernt. Meine Mutter hob uns auf eine Mauer mit einem schmiedeeisernen Zaun, der die Tiere am Ausbruch hindern sollte. Den Rücken an die Gitterstäbe gepresst, standen Dimitri und ich auf dem schmalen Sims, während meine Mutter unter uns in der Menge eingekeilt war.

Dicht an dicht drängten sich die schwitzenden Leiber. Als Karamanlis mitten in der Nacht in Athen ankam, ging es wie ein Stromstoß durch die Menge. Die Menschen schrien Parolen und machten ihrer aufgestauten Wut über die jahrelange Diktatur und die ausländischen Einmischungen Luft: »Weg mit den Folterknechten! Amis raus!«

Es mag für jemanden, der sich beruflich mit der Erforschung von gesellschaftlichen Phänomenen beschäftigt, sonderbar sein, aber ich habe seit jeher eine Abneigung gegen große Menschenaufläufe. Während ich mich am Zaun festklammerte, war ich aufgeregt, vor allem aber auch eingeschüchtert. Mit meinen knapp zwölf Jahren war mir bewusst, dass wir Zeugen eines außergewöhnlichen Ereignisses wurden. Ich hatte natürlich noch nie etwas Vergleichbares erlebt, und das machte mir Angst.

Die Menge wurde immer lauter und zorniger. Ich verstand nicht, warum. Wollten die Leute nicht etwas feiern? Warum waren sie dann so wütend? Mit einer Mischung aus Stolz und Sorge blickte ich hinunter auf meine Mutter – meine hübsche, friedliche Mutter, die von der Leidenschaft mitgerissen wurde. Sie war eine stolze Griechin, und wie viele ihrer Mitbürger freute sie sich darüber, dass die Demokratie endlich wiederhergestellt wurde. Außerdem wollte sie, dass wir Zeugen dieses historischen Ereignisses wurden, um etwas zu lernen. Zu Hause in den Vereinigten Staaten nahm sie uns zu Bürgerrechts- und Antikriegsdemonstrationen mit, denn sie wollte, dass wir die Welt kennenlernten.

Aber ich hatte auch Angst, weil ich in den Augen meiner Mutter sah, dass sie von heftigen Gefühlen mitgerissen wurde. Mit wachsender Unruhe beobachtete ich, wie ihre Erregung immer größer wurde. Ich fürchtete, sie könnte uns auf unserem Mauervorsprung vergessen und von der Menge fortgedrängt werden. Als die antiamerikanischen Sprechchöre immer lauter wurden, zeigte sie plötzlich auf mich und meinen Bruder und schrie: »Vα οι Αμερικανοί! – Das sind die Amerikaner!«

Was um alles in der Welt mochte sie geritten haben? Ich war mit einer gehörigen Dosis griechischer Mythologie aufgewachsen, und in diesem Moment sah ich Medea vor mir, die ihre beiden Söhne tötete.

Bis heute habe ich nicht die geringste Ahnung, was sie damals zu diesem Ausruf veranlasst haben könnte. Sie war eine liebevolle Mutter, die neben ihren eigenen Sprösslingen mehrere Kinder mit verschiedenem ethnischen Hintergrund adoptiert hatte. Wie kam sie dazu, mitten in dieser aufgeheizten Situation die Menge darauf aufmerksam zu machen, dass ihre geliebten Söhne nicht dazugehörten? Glaubte sie im Ernst, dass sie mit dieser Geste den Mob beruhigen würde? Leider kann ich sie nicht mehr fragen, da sie bereits im Alter von nur 47 Jahren nach langer Krankheit gestorben ist, als ich gerade mal 25 war.

In den vielen Jahren, die seit jenem denkwürdigen Abend vergangen sind, habe ich einige der Urkräfte kennengelernt, die meine Mutter damals angetrieben haben und um die es auch in diesem Buch geht. Es sind Kräfte, die in der Regel dem Wohl unserer Gesellschaft dienen. Die Evolution hat uns mit der Fähigkeit und dem Bedürfnis ausgestattet, uns zu Gruppen zusammenzuschließen. Dabei können wir unsere Individualität aufgeben und derart im Kollektiv aufgehen, dass wir Dinge tun, die allem Anschein nach unseren persönlichen Interessen zuwiderlaufen und uns unter normalen Umständen entsetzen würden.

Dass wir uns gegenüber Angehörigen unserer eigenen Gruppen großzügig verhalten können, verleiht uns eine grundlegende Fähigkeit: Wir können uns alle als Angehörige ein und derselben Gruppe begreifen, im Extremfall der gesamten Menschheit. Wir können das Stammesdenken der kleinen Gruppen hinter uns lassen und unser Herz für größere Gruppen entdecken. Da ich die Werte meiner Mutter kenne und weiß, dass sie sich ihr Leben lang für die Menschlichkeit einsetzte, kann ich ihren Ausruf nur so verstehen: Sie wollte die Menge zur Nachsicht auffordern. Nicht alle Amerikaner waren böse Menschen, einige waren auch unschuldige Kinder, so wie ihre beiden geliebten Söhne.

Einige Jahre später, ich muss etwa 15 gewesen sein, wurde ich Zeuge einer weiteren explosiven Menschenmenge. Diesmal fuhr ich mit meinem Großvater, der wie ich Nicholas Christakis hieß, nach Kreta. Mein Großvater war Sozialist, und wir besuchten eine Wahlveranstaltung, auf der Andreas Papandreou, Führer der Allgriechischen Sozialistischen Bewegung, die Menge in einen nationalistischen Rausch versetzte. In Filmen hatte ich bereits gesehen, wie Hitler und Mussolini die Massen aufpeitschten, und ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können. Wir standen ganz hinten, wo wir sicher waren, doch selbst dort konnte ich diese Macht spüren. Mein Großvater nahm mich beiseite und erklärte mir, dass viele politische Führer den Gemeinschaftssinn und den Fremdenhass der Menschen gleichzeitig für ihre Zwecke ausnutzten. Er erklärte mir das Wort »Demagoge«. Das Erlebnis wühlte mich auf, und ich erinnere mich bis heute an das verwirrende Gefühl des Unrechts, das die rasende Menge in mir weckte.

In seinem Klassiker Zeichen und Wunder: Aus den Annalen des Wahns (Originaltitel: Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds) schrieb der schottische Journalist Charles Mackay 1841: »Menschen verlieren den Verstand in Massen, doch sie gewinnen ihn nur langsam und einer nach dem anderen zurück.«[1] In der Masse handeln wir oft gedankenlos – wir brüllen Beleidigungen, zerstören fremdes Eigentum, werfen Steine und bedrohen andere Menschen. Das liegt unter anderem an einem Phänomen, das Psychologen als »Deindividuation« bezeichnen: Je stärker wir uns mit der Gruppe identifizieren, umso mehr büßen wir unsere Selbstwahrnehmung und das Gefühl für das eigene Handeln ein. In solchen Situationen tun wir Dinge, die uns allein nicht einmal in den Sinn kämen. Wir rotten uns zu einem Mob zusammen, schalten unser Denken aus, verlieren unseren moralischen Kompass und greifen zu Schwarzweißmustern, die Gemeinsamkeiten mit dem vermeintlichen Feind nicht zulassen.

Auch wenn ich persönlich eher negative Erfahrungen mit Massen gemacht habe, können sie durchaus auch Gutes bewirken. Gewaltlose Menschenmengen können eine Gefahr für Diktatoren darstellen – wie 1974 in Griechenland, 1989 in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens, 2010 in Tunesien während des Arabischen Frühlings und 2016 in Simbabwe bei den Demonstrationen gegen Robert Mugabe. Die Mächtigen fürchten Massen besonders dann, wenn sie organisch entstehen, ohne eine Organisation im Hintergrund, wie dies so häufig geschieht. Wenn die Regierenden in den vergangenen Jahren immer wieder versucht haben, den Zugang zum Internet einzuschränken, dann vor allem um zu verhindern, dass sich die Menschen dort organisieren.

Ein gutes Beispiel sind die berühmten Bürgerrechtsproteste in den Vereinigten Staaten, vom Marsch auf Washington im Jahr 1963 (wo Martin Luther King seine berühmte Rede »I have a dream« hielt) bis zur Demonstration von Pettus Bridge im Jahr 1965 (während der die Polizei von Alabama brutal auf Afroamerikaner einknüppelte, die das Wahlrecht einforderten). Wenn besorgte und benachteiligte Menschen zu einer größeren Gruppe verschmelzen, dann bekräftigt sie dies in ihren Überzeugungen, und sie demonstrieren gleichzeitig gegenüber Außenstehenden eine Macht, die dieselbe Zahl von Einzelpersonen nicht hätte.

Was auch immer man davon halten mag, es ist für uns Menschen derart natürlich, uns zu größeren Gruppen zusammenzuschließen, dass es sogar zu einem politischen Grundrecht geworden ist. So ist es zum Beispiel im ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten verankert, der »das Recht des Volkes, sich friedlich zu versammeln und von der Regierung die Beseitigung von Missständen zu fordern«, garantiert. Die meisten Länder der Welt schreiben heute die Versammlungsfreiheit in ihren Verfassungen fest, Bangladesch und Indien genauso wie Deutschland, Österreich und die Schweiz.[2] Unsere Neigung, uns zu Gruppen zusammenzuschließen und gezielt Freunde und Partner zu suchen, gehört genauso zum universellen Erbe der Menschheit wie unser Mitgefühl.

Gegenseitiges Verständnis

Die Vereinigten Staaten von heute – und nicht nur sie – sind eine gespaltene Gesellschaft – links und rechts, Stadt und Land, Religiöse und Nicht-Religiöse, Inländer und...

Erscheint lt. Verlag 27.11.2019
Übersetzer Jürgen Neubauer
Zusatzinfo 8 Seiten Tafelteil mit 16 farbigen Abbildungen; 34 s/w Abbildungen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Das Gute • Evolution • Evolutionsbiologie • Genetik • Gesellschaft • Hans Rosling • Kommunikation • Kooperation • natürliche auslese • Netzwerk-Wissenschaften • Neurowissenschaften • positiver Ansatz • Soziale Fähigkeiten • Sozialwissenschaften • Steven Pinker • Zusammenhalt
ISBN-10 3-10-402747-1 / 3104027471
ISBN-13 978-3-10-402747-0 / 9783104027470
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