Das Ende des Alterns (eBook)
528 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8479-7 (ISBN)
Prof. Dr. David A. Sinclair arbeitet seit 1999 an der Harvard Medical School in Boston. Dort ist er Professor am Department of Genetics und Mitbegründer des Paul F. Glenn Center for the Biology of Aging. Geboren in Australien, promovierte er zunächst in molekularer Genetik an der New South Wales University in Sydney, und wechselte dann zum MIT. Seine Arbeit sorgte immer wieder für großes mediales Aufsehen. Laut Time gehört er zu den 100 einflussreichsten Personen weltweit. HBO hat eine Dokumenta
EINLEITUNG
DAS GEBET EINER GROSSMUTTER
Ich bin am Waldrand aufgewachsen. Mein Hinterhof war – bildlich gesprochen – ein Wald von vierzig Hektar. In Wirklichkeit war er viel größer. Er nahm, so weit meine jungen Augen sehen konnten, kein Ende, und ich wurde nie müde, ihn zu erkunden. Ich wanderte und wanderte, blieb stehen, um die Vögel zu beobachten, die Insekten, die Reptilien. Ich nahm Dinge auseinander. Ich zerrieb die Erde zwischen den Fingern, lauschte auf die Geräusche der Wildnis und versuchte, ihre Herkunft zu ergründen.
Und ich spielte. Aus Stöcken machte ich Schwerter, aus Steinen baute ich Burgen. Ich kletterte auf Bäume, schaukelte auf Ästen, ließ die Beine in tiefe Abgründe hängen und sprang von Stellen, von denen ich vermutlich nicht hätte springen sollen. Ich stellte mir vor, ich sei ein Astronaut auf einem weit entfernten Planeten. Ich tat, als sei ich ein Jäger auf Safari. Ich erhob die Stimme für die Tiere, als wären sie das Publikum in einem Opernhaus.
»Cuuuey!«, kollerte ich, was in der Sprache des Garigal-Volkes, das die Gegend ursprünglich bewohnt hatte, so viel wie »Komm her!« bedeutet.
Natürlich war ich mit alledem nicht der Einzige. In den nördlichen Außenbezirken von Sydney gab es eine Menge Kinder, die meine Liebe zu Abenteuern, Entdeckungen und Fantasie teilten. Bei Kindern rechnen wir damit. Wir wollen, dass sie auf diese Weise spielen.
Aber irgendwann sind sie natürlich für so etwas »zu alt«. Dann wollen wir, dass sie in die Schule gehen. Später wollen wir, dass sie arbeiten gehen. Dass sie einen Partner finden, Geld sparen, ein Haus kaufen.
Denn Sie wissen ja, die Uhr tickt.
Die Erste, die mir sagte, dass es so nicht sein muss, war meine Großmutter. Oder vermutlich sagte sie es mir nicht, sondern sie zeigte es mir.
Meine Oma war in Ungarn aufgewachsen. Im Sommer war sie im kühlen Wasser des Plattensees geschwommen und an seinem Nordufer von einem Urlaubshotel aus, in dem Schauspieler, Maler und Dichter abstiegen, im Gebirge gewandert. In den Wintermonaten hatte sie in einem Hotel in den Bergen von Buda gearbeitet, bevor die Nazis das Haus übernahmen und zur zentralen Kommandostelle der SS machten.
Zehn Jahre nach dem Krieg, in der Anfangszeit der sowjetischen Besetzung, schlossen die Kommunisten nach und nach die Grenzen. Als ihre Mutter versuchte, illegal nach Österreich zu reisen, wurde sie erwischt, inhaftiert und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Kurz danach starb sie. Während des Ungarnaufstandes von 1956 schrieb und verbreitete meine Großmutter in den Straßen von Budapest kommunistenfeindliche Flugblätter. Nachdem die Revolution niedergeschlagen war, nahmen die Sowjets Zehntausende von Dissidenten fest, und meine Großmutter flüchtete mit ihrem Sohn – meinem Vater – nach Australien; weiter, so ihre Überlegung, konnte sie sich nicht von Europa entfernen.
Meine Oma setzte nie wieder einen Fuß auf europäischen Boden, aber sie hatte Ungarn in jeder Hinsicht mitgebracht. Wie man mir erzählte, war sie in Australien eine der ersten Frauen, die einen Bikini trug, und wurde deshalb des Bondi-Strandes verwiesen. Jahrelang lebte sie ganz allein in Neuguinea, das noch heute eine der ursprünglichsten Regionen der Erde ist.
Obwohl meine Großmutter von aschkenasischen Juden abstammte und selbst eine protestantische Erziehung genossen hatte, war sie ein sehr säkularer Charakter. Die Entsprechung zum Vaterunser war bei uns das Gedicht »Jetzt sind wir sechs« des englischen Dichters Alexander Milne. Es endet mit den Worten1:
Doch nun bin ich sechs
und bin schlau – unbeschreiblich.
Und sechs find ich prima.
Ich glaube, sechs bleib ich.
Das Gedicht las sie meinem Bruder und mir immer und immer wieder vor. Sechs Jahre, so sagte sie uns, sei das allerbeste Alter, und sie gab sich alle Mühe, auch ihr eigenes Leben im Geist und mit dem Staunen eines sechsjährigen Kindes zu führen.
Auch als wir noch ganz klein waren, wollte meine Großmutter nicht, dass wir sie »Großmutter« nennen. Auch den ungarischen Begriff »nagymama« und andere liebevolle Benennungen wie »Oma« oder »Nana« mochte sie nicht.
Für uns Jungen und alle anderen war sie einfach »Vera«.
Vera brachte mir das Autofahren bei, wobei ich über alle Spuren schlingerte und ausscherte und auf jede Musik »tanzte«, die gerade im Autoradio lief. Sie brachte mir bei, meine Jugend zu genießen, das Gefühl des Jungseins auszukosten. Erwachsene, so sagte sie, würden die Dinge immer ruinieren. Werde nicht erwachsen, sagte sie. Werde nie erwachsen.
Bis weit über ihr sechzigstes und sogar siebzigstes Lebensjahr hinaus war sie das, was man »im Herzen jung geblieben« nennt. Mit Freunden und Familie trank sie Wein. Sie liebte gutes Essen, erzählte großartige Geschichten, half den Armen, Kranken und weniger Begünstigten. Sie tat, als würde sie Symphonien dirigieren, und lachte bis spät in die Nacht. Nach praktisch allen Maßstäben führte sie »ein gutes Leben«.
Und doch tickte die Uhr.
Mit Mitte achtzig war Vera nur noch ein Schatten ihres früheren Ichs, und die letzten zehn Jahre ihres Lebens mitanzusehen war schwer. Sie war gebrechlich und krank. Immer noch hatte sie so viel Weisheit, dass sie darauf bestand, ich solle meine Verlobte Sandra heiraten, aber die Musik machte ihr keine Freude mehr, und sie stand kaum noch aus ihrem Sessel auf – die Lebenslust, die sie ausgezeichnet hatte, war verschwunden.
Als es zu Ende ging, hatte sie die Hoffnung aufgegeben. »So geht das eben«, sagte sie zu mir.
Sie starb mit 92 Jahren. Nach allem, was man uns über solche Dinge beigebracht hat, war es ein gutes, langes Leben. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker gelangte ich zu der Überzeugung, dass der Mensch, der sie eigentlich gewesen war, uns schon viele Jahre zuvor verlassen hatte.
Das Altwerden mag für viele Leser scheinbar in weiter Ferne liegen, aber jeder von uns wird das Ende seines Lebens erleben. Nachdem wir unseren letzten Atemzug getan haben, werden unsere Zellen nach Sauerstoff schreien, Giftstoffe werden sich anreichern, die chemische Energie wird erschöpft sein, und die Zellstrukturen werden zerfallen. Wenige Minuten später sind alle Bildung, all unsere Weisheit und alle Erinnerungen, die wir geschätzt haben, und unser gesamtes zukünftiges Potenzial unwiederbringlich ausgelöscht.
Das erlebte ich hautnah mit, als meine Mutter Diana starb. Mein Vater, mein Bruder und ich waren bei ihr. Glücklicherweise war es ein schneller Tod, verursacht durch eine Flüssigkeitsansammlung in ihrem noch verbliebenen Lungenflügel. Kurz zuvor hatten wir noch gemeinsam über den Nachruf gelacht, den ich auf dem Flug von den Vereinigten Staaten nach Australien geschrieben hatte, und dann wand sie sich plötzlich in ihrem Bett, schnappte nach Luft, die den Sauerstoffbedarf ihres Körpers nicht mehr befriedigen konnte, und starrte uns mit Verzweiflung in den Augen an.
Ich beugte mich über sie und flüsterte ihr ins Ohr, sie sei die beste Mama, die ich mir hätte wünschen können. Während weniger Minuten starben ihre Nervenzellen ab und löschten nicht nur die Erinnerung an die letzten Worte aus, die ich zu ihr gesprochen hatte, sondern alle Erinnerungen. Ich weiß, dass manche Menschen friedlich einschlafen. Meiner Mutter erging es nicht so. In diesen Augenblicken war sie nicht mehr der Mensch, der mich großgezogen hatte, sondern sie verwandelte sich in eine zuckende, würgende Zellmasse und kämpfte um den letzten Rest der Energie, die auf der atomaren Ebene ihres Daseins erzeugt wurde.
Ich konnte nur denken: »Wie es ist, wenn man stirbt, sagt dir niemand. Warum sagt es dir niemand?«
Nur wenige Menschen haben den Tod so eingehend studiert wie der Holocaust-Dokumentarfilmer Claude Lanzmann. Und sein Urteil – oder eigentlich seine Warnung – ist beängstigend. »Jeder Tod ist gewaltsam«, sagte er 2010. »Einen natürlichen Tod gibt es nicht, ganz im Gegensatz zu dem Bild, das wir gern zeichnen – der Vater, der in aller Stille und umgeben von seinen Angehörigen im Schlaf stirbt. Daran glaube ich nicht.«2
Kinder erkennen zwar vielleicht nicht den gewaltsamen Aspekt des Todes, aber die Tragödie begreifen sie schon erstaunlich früh. Mit vier oder fünf Jahren wissen Kinder, dass der Tod stattfindet und dass er unwiderruflich ist.3 Für sie ist das ein erschreckender Gedanke, ein Wirklichkeit gewordener Albtraum.
Zu Beruhigung denken die meisten Kinder anfangs, bestimmte Menschengruppen – Eltern, Lehrer und sie selbst – seien vor dem Tod geschützt. Zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr begreifen aber alle Kinder, dass der Tod etwas Allgemeingültiges ist. Jeder Angehörige wird sterben. Jedes Haustier. Jede Pflanze. Alle, die sie lieben. Und auch sie selbst. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich das zum ersten Mal verstand. Ebenso weiß ich genau, wie Alex, unser ältestes Kind, es gelernt hat.
»Papa, du wirst nicht immer da sein?«
»Leider nein«, sagte ich und legte Alex den Arm um die Schulter.
Ein paar Tage lang weinte Alex immer wieder, hörte aber irgendwann damit auf und stellte mir nie mehr die gleiche Frage. Auch ich erwähnte das Thema nicht mehr.
Es dauert nicht lange, dann hat sich der tragische Gedanke tief in die Winkel unseres Unterbewusstseins eingegraben. Fragt man Kinder, ob sie sich wegen des Todes Sorgen machen, erklären sie in der Regel, sie würden nicht daran denken. Fragt man sie dann, was sie darüber denken, antworten sie, es sei nicht von Bedeutung, denn es werde...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2019 |
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Übersetzer | Dr. Sebastian Vogel |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | ›Lifespan. The Revolutionary Science of Why We Age – and Why We Don’t Have To‹ |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | aging reversed • Altern • Alternsforschung • Altersforschung • Alterung • Alzheimer • Anti Aging • Biologie • Biowissenschaft • Chromosom • chromosome • CRISPR • Demenz • Diabetes • die jungbrunnen-formel • DNA • Epigenetik • Epigenom • Essay & Sachbuch • eukaryote • Evolution • Ewige Jugend • Fachbücher Genetik • Gene • Genetic • Genetics • Genetik • Genom • Geriatrics • Gesund leben • Harvard Medical School • Hundertfünfzig werden • Hybridization • Krebs • Langlebigkeit • Lebensdauer • Lebenserwartung • Lebenswissenschaft • Lifespan • Lifespan deutsch • Medizin der Zukunft • Menschheitstraum • nicotinamide mononucleotide • NMN • Organismen • pop science • Reproductive • Resveratrol • reverse aging • RNA • Sirtuine • sven voelpel • tedmed • TED talk • Unsterblichkeit |
ISBN-10 | 3-8321-8479-1 / 3832184791 |
ISBN-13 | 978-3-8321-8479-7 / 9783832184797 |
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