Mein Weg durch die Wälder (eBook)

Was mich Pilze über das Leben lehrten
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2019 | 1. Auflage
336 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-23213-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Weg durch die Wälder -  Long Litt Woon
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Mit 19 zog Long Litt Woon als Austauschstudentin von Malaysia nach Norwegen. Kurz nach ihrer Ankunft begegnet sie dort der Liebe ihres Lebens, Eiolf Olsen. Als sie nach 32 gemeinsamen Jahren ihren Ehemann und Seelenverwandten völlig unerwartet durch plötzliches Herzversagen verliert, bricht ihre Welt zusammen. Nur mühsam findet sie aus ihrer Erstarrung. Als sie sich zu einem Pilzkurs für Anfänger anmeldet, ahnt sie noch nicht, dass dies einen Wendepunkt für sie bedeutet: ihre Reise in die wundersame Welt der Pilze ist nicht nur eine Reise in ihre eigene Seelenlandschaft, es ist auch der Beginn eines neuen Lebens voller Erfüllung, zu dem ihr die Pilze den Weg gewiesen haben.

Long Litt Woon, geboren 1958 in Malaysia, ist Anthropologin und zertifizierte Pilzexpertin. Als Austauschstudentin kam sie nach Norwegen, wo sie ihren späteren langjährigen Ehemann Eiolf Olsen kennenlernte. Sie arbeitete für das norwegische Ministerium für Entwicklungshilfe und für die Europäische Kommission, von 2003 bis 2005 leitete sie Norwegens Zentrum für Gleichstellung. Wenn sie nicht unterwegs ist, um auf der ganzen Welt nach Pilzen zu suchen, berät sie Unternehmen und Behörden in Sachen Gleichstellung und Diversity. Long Litt Woon lebt in Oslo.

Dies ist die Geschichte einer Reise, die ihren Anfang nahm, als mein Leben aus den Fugen geriet: Eines Tages fuhr Eiolf zur Arbeit und kam nicht mehr zurück. Er kam nie wieder zurück. In diesem Moment verschwand das Leben, das ich gekannt hatte. Meine Welt war für immer verändert.

Ich war am Boden zerstört. Das Einzige, was mir von Eiolf blieb, war der Schmerz über seinen Verlust. Dieser Schmerz zerriss mich innerlich, aber ich wollte ihn nicht mit Medikamenten dämpfen. Ich wollte ihn ungefiltert spüren, roh. Er war die Bestätigung dafür, dass Eiolf gelebt hatte, dass er mein Mann gewesen war. Und deshalb wollte ich nicht, dass auch der Schmerz verschwand.

Ich befand mich im freien Fall. Ich, die immer alles unter Kontrolle gehabt hatte und mein Leben im Griff. Plötzlich fehlte eine Himmelsrichtung. Ich war in unbekanntes Terrain versetzt worden; auf unfreiwilliger Wanderschaft in einem fremden Land. Die Sicht war schlecht, und ich hatte weder Karte noch Kompass. Was war oben, was unten? Aus welcher Ecke sollte ich losgehen? Wohin meine Füße setzen?

Alles war einfach nur schwer.

Durch einen Zufall fand ich ausgerechnet dort Antworten, wo ich sie am wenigsten vermutet hatte.

Es nieselte, und die alten Blätter, die im Botanischen Garten in Oslo von den großen, ehrwürdigen Bäumen auf den Boden gesunken waren, zerfielen bereits. Die Sommerwärme war eindeutig vorbei, und die kalte Jahreszeit hielt wieder Einzug in unser Leben. Jemand hatte mich auf einen Kurs aufmerksam gemacht, und ich hatte mich angemeldet, ohne viel darüber nachzudenken. Eiolf und ich hatten so etwas schon immer einmal machen wollen, waren aber irgendwie doch nie dazu gekommen. Deshalb begab ich mich an diesem dunklen Herbstabend ohne große Erwartungen auf den Weg in den Keller des Naturhistorischen Museums.

Ich musste vorsichtig gehen; nach Eiolfs Beerdigung hatte ich es geschafft, mir auch noch den Knöchel zu brechen, und eine ganze Weile wurde ich die Angst vor einem neuerlichen Sturz nicht mehr los. Man hatte mir erzählt, es würde lange dauern, bis ein gebrochener Knöchel zusammenwächst, aber niemand konnte mir sagen, ob ein gebrochenes Herz je wieder heilt.

Die Trauer mahlt langsam und nimmt die Zeit in Anspruch, die sie braucht.

Sie verläuft unregelmäßig, bewegt sich ruckartig und in unvorhersehbare Richtungen.

Hätte mir jemand gesagt, dass die Pilze mein Rettungsanker sein, dass sie mich wieder auf die Beine bringen und auf den Weg des Lebens zurückführen würden, ich hätte die Augen verdreht. Was haben Pilze und Trauer miteinander zu tun?

Doch dort draußen, in den weiten Wäldern auf den moosbewachsenen Böden, stolperte ich schließlich über das, was ich suchte. Meine Entdeckungsreise durch die Pilzlandschaft wurde gleichzeitig zu einer Wanderung durch meine innere Landschaft, via interna. Und während die äußere Reise viel Zeit brauchte, war die innere noch dazu turbulent und herausfordernd. Für mich bestand kein Zweifel, dass mich die Entdeckung des Pilzreiches immer weiter aus dem Tunnel der Trauer führte. Sie linderte meinen Schmerz und wurde mein Weg aus der Dunkelheit. Sie verhalf mir zu ungewöhnlichen Perspektiven und brachte mich Stück für Stück zu einem neuen Standpunkt. Erst im Nachhinein erkannte ich, dass die Pilze für mich zu einer Rettung in der Not wurden und scheinbar so entfernte Themen wie Pilze und Trauer zusammenhingen. Davon handelt dieses Buch.

Deshalb muss ich mit einem Anfängerkurs zum Thema Pilze anfangen.

Pilze für Anfänger


Für den Kurs hatten sich zahlreiche Teilnehmer angemeldet. Einige erlebten ihre erste Jugend, andere ihren zweiten Frühling. Sie kamen aus unterschiedlichen Gegenden der Stadt. Oslo West und Oslo Ost teilten offenbar dasselbe Interesse. Als Sozialanthropologin finde ich das spannend. Normalerweise kann man bestimmte Gesellschaftsschichten mit bestimmten Sportarten oder Hobbys in Verbindung bringen. Man braucht keine Anthropologin zu sein, um festzustellen, das dies auch in Norwegen der Fall ist, obwohl die Norweger so stolz auf ihre angeblich egalitäre Gesellschaft sind. Wenn die Norweger ein Profilbild von ihrer Nation erstellen müssten, würden sie ein Foto von ihrem König wählen, auf dem er gerade am Automaten ein Ticket für die Holmenkollenbahn kauft. Und obwohl vermutlich tatsächlich nur wenige andere Regenten den öffentlichen Nahverkehr nutzen, sollte man sich auch vor Augen führen, dass die Bahn trotzdem nicht das bevorzugte Fortbewegungsmittel des norwegischen Königshauses ist.

Die Szene der Pilzfreunde hatte dagegen etwas Klassenloses an sich, das mir sofort gefiel. Obwohl ich ihr inzwischen schon eine ganze Weile angehöre, weiß ich immer noch nicht, was die Leute, denen ich dort begegne, im normalen Leben machen. Die Gespräche über Pilze nehmen sämtlichen Raum ein, für Nebensächlichkeiten wie Politik oder Religion bleibt da kein Platz. Das heißt aber nicht, dass es in der Pilzgemeinschaft keine Hierarchien gäbe. Und noch dazu gibt es auch in diesem Milieu Helden und Schurken, ungeschriebene Gesetze und Konflikte und nicht zuletzt große Gefühle. Wie alle anderen Gruppen sind auch die Pilzfreunde ein Mikrokosmos der Gesellschaft, was mir anfangs allerdings gar nicht auffiel.

Pilze sind faszinierend und zugleich furchteinflößend: Sie locken mit lukullischen Genüssen, doch im Hintergrund schwelt stets auch die Gefahr des tödlichen Gifts. Noch dazu wachsen manche Arten in sogenannten Hexenringen, und einige haben sogar halluzinogene Eigenschaften. Wenn man in historischen Quellen nachforscht, wird deutlich, dass sich der Mensch schon immer über Pilze gewundert hat – die weder Wurzeln noch sichtbare Samen haben, sondern plötzlich einfach so auftauchen, häufig nach heftigen Regenfällen oder Gewittern, wie eine Personifizierung unbändiger Naturgewalten. Namen wie »Hexenei« oder »Satans-Röhrling« deuten ebenfalls darauf hin, dass man die Pilze für etwas Furchterregendes, Heidnisches und Magisches hielt.

Manche Menschen beschäftigen sich mit Pilzen, weil sie von deren Aufgabe als Müllabfuhr des Ökosystems fasziniert sind. Andere interessieren sich für ihre heilenden Wirkstoffe; so setzt man etwa in der Krebsforschung große Hoffnungen in Pilze. Der norwegische Beitrag zur Medizin ist der Hardangervidda-Pilz, Tolypocladium inflatum, der inzwischen unentbehrliche Dienste bei der Organtransplantation leistet. Wer ein natürliches Aphrodisiakum sucht, kann sich die Gemeine Stinkmorchel, Phallus impudicus, einverleiben, oder die Himbeerrote Hundsrute, Mutinus ravenélii, im Norwegischen auch »Pfaffenschwanz« genannt. Kunsthandwerker finden in Pilzen eine spannende Alternative zur Färbung von Wolle, Leinen und Seide. Und für Naturfotografen sind sie ein wildes Spektakel, denn es gibt sie nicht nur in braun oder weiß, sondern in allen denkbaren und undenkbaren Farben und Formen, mollig oder schlank, lieblich und grazil, durchscheinend und empfindlich oder so spektakulär und bizarr, als stammten sie von einem fremden Planeten. Manche Pilze leuchten sogar phosphoreszierend und erhellen den Wald, wenn die Dunkelheit hereinbricht.

Die meisten Menschen aber möchten mehr über die Suche von wildwachsenden Pilzen im Wald erfahren, weil sie diese gern essen. Trotz unermüdlicher Versuche ist es nach wie vor nicht gelungen, die begehrtesten Speisepilze zu züchten. Sie zeigen, dass der Mensch nicht alles beherrschen kann in unserer durchorganisierten Welt. Pilze haben etwas Willkürliches, Unbezähmbares an sich. »Kann man den essen?«, lautet die häufigste Frage derer, die sich mit Pilzen nicht auskennen.

Der altmodische Name des Kursveranstalters, »Pilz- und Nutzpflanzenverein Oslo und Umgebung«, weckte meine Neugier. Er klang wie ein Pendant zum »Sanitätsverein Norwegischer Frauen«. Was waren das für Leute, die sich mit Pilzen und Nutzpflanzen beschäftigten? Um ehrlich zu sein, war ich mir auch nicht ganz sicher, was man unter dem zweiten Begriff verstehen sollte. Und, wenn man dem Gedanken weiter nachging: Was waren dann unnütze Pflanzen? Nennt man sie Nutzlospflanzen? Ich wagte es nicht, diese Frage vor der versammelten Mannschaft zu stellen.

Der Kursleiter trug ein Messer in einer Lederscheide, die an seinem Gürtel befestigt war, und eine kleine Handlupe an einer Schnur um den Hals: die Grundausstattung eines seriösen Pilzsammlers, aber das wusste ich damals noch nicht. Stil rangiert nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste. Wenn man in den Wald auf die Suche geht, muss die Kleidung praktisch und funktionell sein. Darum sehen Pilzesammler auf den ersten Blick bisweilen aus wie von einem anderen Stern, von Kopf bis Fuß in wasserfeste Montur gehüllt und dick eingeschmiert mit Lotionen gegen Mücken, Zecken und Bremsen.

»Was sind eigentlich Pilze?«, fragte der Lehrer uns. Viele schwiegen beschämt und versuchten, seinem Blick auszuweichen. Ich auch. Lag es denn nicht auf der Hand, was ein Pilz ist? Doch er war auf eine wissenschaftliche Antwort aus, und ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte, danach zu suchen.



Eine Auswahl norwegischer Pilzarten

Was viele, so auch ich, mit Pilzen verbinden, nennt man in der Mykologie »Großpilze«. Die meisten Pilzarten sind viel kleiner, oft mikroskopisch klein. Häufig werde ich gefragt, wie viele Pilzarten es eigentlich gibt, aber das Pilzuniversum ist so groß, dass man diese Frage nicht mit Sicherheit beantworten kann. Wie viele von ihnen bisher tatsächlich entdeckt und wissenschaftlich beschrieben wurden, ist unter Forschern umstritten. In Norwegen hat das Naturhistorische Museum an der Universität Oslo versucht, einen Überblick über...

Erscheint lt. Verlag 12.8.2019
Übersetzer Ursel Allenstein
Zusatzinfo durchgehend illustriert
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Stien tilbake til livet. Om sopp og sorg
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Sachbuch/Ratgeber Sport
Technik
Schlagworte eBooks • Gastland Norwegen • Krisenbewältigung • Lebenshilfe • Lebenskrise • Memoir • Mykologie • Norwegen • Outdoor • Peter Wohlleben • Pilze Buch • Pilzkunde • Resilienz • Sport • Trauerbewältigung • Waldbaden
ISBN-10 3-641-23213-9 / 3641232139
ISBN-13 978-3-641-23213-9 / 9783641232139
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