Nestwärme (eBook)
288 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26357-4 (ISBN)
Der vielfach ausgezeichnete Naturschützer Ernst Paul Dörfler hat ein berührendes Buch über das geheime Leben der Vögel geschrieben, die oft friedvoller und achtsamer miteinander umgehen als wir Menschen.
Ernst Paul Dörfler, geboren 1950 in Kemberg bei Lutherstadt Wittenberg, ist promovierter Ökochemiker. Sein Buch Zurück zur Natur? (1986) wurde zum Kultbuch der ostdeutschen Umweltbewegung. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den EuroNatur-Preis der Stiftung Europäisches Naturerbe. 2019 erschien sein Buch Nestwärme bei Hanser, 2021 Aufs Land. Er lebt und arbeitet in Steckby.
Was Vögel können (und wir nicht)
Das Fliegen ist ein uralter Traum des Menschen. Mit aufwendiger Technik und hohem Einsatz an Fremdenergie ist es ihm gelungen, die besungene »Freiheit über den Wolken« zu erlangen. Vögel haben sich diesen Traum schon längst erfüllt. Sie sind uns in dieser Disziplin haushoch überlegen. Wie haben sie es geschafft, aus eigener Kraft fliegen zu können, ganz ohne Absturzgefahr?
Das Vogelskelett ist äußerst leicht und in sich beweglich, ganz besonders der Halswirbelbereich. Die Knochen und selbst der Schnabel sind innen hohl, oft gefüllt mit den Ausstülpungen der Luftsäcke, die mit den Lungen in Verbindung stehen. Die Luftsäcke sorgen für Leichtigkeit und Kühlung zugleich und machen den Druckausgleich in dünner Höhenluft möglich. Die relativ kleinen Lungen arbeiten zehnmal effektiver als bei gleichgroßen Säugetieren, sodass auch in größerer Höhe noch genug Sauerstoff aus der Atmosphäre entnommen werden kann. Das eigentliche Gewicht eines Vogels machen die Flug- und Beinmuskeln aus, es sind die arbeitenden Körperteile. Vor allem die Flugmuskeln weisen einen hocheffizienten Stoffwechsel auf, denn während des Fliegens muss der Vogel 15-mal mehr Kalorien verbrennen als im Ruhezustand. Mit ihren Flügeln bilden die Vögel Tragflächen, die in einer bestimmten Winkelhaltung und durch Ablenkung des Luftstroms den eigentlichen Flug ermöglichen.
Guinnessbuch der Flugrekorde
Das Fliegenkönnen hat viele Vorteile. Es ist eine geniale Erfindung, um Feinden zu entkommen. Vor allem Bodenfeinde haben das Nachsehen, wenn die angepeilte Beute flugs entschwinden kann. Umgekehrt können Flieger auf kürzestem Wege — auf dem Luftweg eben — zu ihrem Ziel gelangen, sei es um Beute zu machen oder um einen sicheren Rast- oder Ruheplatz aufzusuchen. Es ist unstrittig die Domäne der Vögel. Keine andere Tiergruppe — von Fledermäusen abgesehen — hat das Fliegen zu einer derartigen Perfektion entwickelt. Das schnellste Lebewesen der Erde gehört dem Vogelreich an. Champion ist der Wanderfalke, der sich einem Düsenjäger gleich mit angelegten Flügeln und bis zu gemessenen 332 km/h auf seine Beute stürzt. Knapp dahinter schafft es der Steinadler mit 320 km/h im Steilflug. Diese Werte werden auf ähnliche Weise ermittelt wie im Straßenverkehr: mit Radarfallen. Die höchsten Geschwindigkeiten werden entweder bei der Jagd oder auf der Flucht erzielt.
Um seine tägliche Nahrung zu erlangen, ist der Wanderfalke auf fliegende Beute wie Tauben oder Amseln aus. Er hat die Technik des Sturzflugs perfektioniert. Dabei helfen ihm seine gedrungene, stromlinienförmige Körperform, sein stabiles Knochenskelett und seine sehr harten Federn. Hat er eine passende Beute von oben aus der Luft erspäht, schießt er mit ein paar kräftigen Flügelschlägen und dann eng an seinen Körper gepressten Flügeln wie ein Pfeil in die Tiefe. Raffiniert nutzt er die Erdanziehung, die seinen Körper immer mehr beschleunigt. Kurz vor der flüchtenden Beute bremst der Falke mit den Flügeln ab, streckt seine Fänge nach vorn und greift den anvisierten Vogel in der Luft. Im normalen, horizontalen Streckenflug erreicht der Wanderfalke bis zu 100 km/h. Er ist an seinen langen, spitzen Flügeln und dem kurzen Schwanz zu erkennen. Als deutliches Merkmal sticht auch der breite, schwarze Bartstreif hervor.
Zum absoluten Rekordhalter im Dauerflug hat sich der Mauersegler hochgearbeitet. Wenn ein junger Mauersegler sein Nest verlässt, bleibt er für über 20 Monate ununterbrochen in der Luft. In dieser Zeit erlebt er »Afrika von oben«, bis er geschlechtsreif ist und eine Bruthöhle in unseren Breiten aufsucht. Als Felsenbrüter fühlt er sich auch in Städten zu Hause, jagt mit typischem Geschrei durch die Häuserschluchten und bringt es dort auf eine Spitzengeschwindigkeit von 200 km/h. Während seines Lebens legt ein Mauersegler eine Flugstrecke zurück, die fünfmal bis zum Mond und zurück reicht. Die Weltrekordler im Langstreckenflug sind die taubengroßen Küstenseeschwalben. Sie pendeln jährlich zwischen der Nordpol- und der Südpolregion — das sind 30.000 Kilometer für den Hin- und Rückflug. Damit sind sie die Zugvögel mit dem längsten Zugweg überhaupt. Diese Vögel verbringen ihr Leben fast ausschließlich unter der Sonne. Ohne zu stören, können wir den Küstenseeschwalben an der Nordsee nahekommen, an einem ihrer Brutplätze am Eider-Sperrwerk in Nordfriesland. Hier ziehen mehrere hundert Brutpaare direkt neben dem Parkplatz ihren Nachwuchs groß. Mit ihren schwarzen Kappen und den knallroten Schnäbeln bieten sie ein freundliches Bild. Vorsicht ist aber geboten: Wird eine Mindestdistanz unterschritten, kann es blutende Wunden am Kopf geben.
Der erfolgreichste Nonstop-Flieger ist die windschnittige Pfuhlschnepfe, die von Alaska bis Neuseeland nachweislich ohne Zwischenlandung 11.000 Kilometer zurücklegt. Acht Tage und acht Nächte dauert die Reise. Vögel überfliegen höchste Gebirgszüge. Die Alpen sind für viele Zugvögel kein Hindernis, selbst die Himalaja-Gebirgskette wird in einer Höhe von über 8000 Metern von Gänsen überwunden. Dies entspricht der Flughöhe von Passagiermaschinen. Geier bringen es sogar auf über 10.000 Meter Höhe.
Eulen hingegen sind unübertroffene Experten im lautlosen Flug. Sie fliegen durch die nächtliche Stille, ohne dass man ein Fluggeräusch zu Gehör bekommt. Flugzeugingenieure könnten ebenso neidisch werden wie durch Lärm geplagte Anwohner von Flughäfen. Der Grund für den lautlosen Flug ist die Konstruktionsweise der Tragflächen. Die Flügeldecke ist samtartig-flaumig, die Hinterseite der Flügel stark ausgefranst, dadurch entstehen beim Fliegen kaum Wirbel. Der Schall wird komplett geschluckt, sodass wir ebenso vom plötzlichen Auftauchen der Eule überrascht sind wie eine Maus, die zur Beute wird.
Menschen wie Vögel nehmen ihre Umwelt über Sinnesreize wahr. Von verschiedenen Organen aufgenommen, werden diese Impulse an das Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet, um Reaktionen auszulösen. Wer von beiden hat die besseren Sinne — Mensch oder Vogel?
Augen mit eingebautem Fernglas
Das Sehen gilt als unsere wichtigste Sinnesleistung, von der unser Überleben ganz entscheidend abhängt. Gleiches gilt für Vögel. Doch je mehr wir über deren Sehvermögen erfahren, umso deutlicher wird, dass eigentlich wir Menschen die »blinden Hühner« sind. Nicht zufällig spricht man vom »wachsamen Adlerauge« und vom »Falkenblick«. Diese Greifvögel haben in ihrem Auge ein »eingebautes Fernglas«. Das Auflösungsvermögen ihrer Netzhaut ist drei- bis viermal größer als beim Menschen und erlaubt eine deutlich schärfere Wahrnehmung. Zusätzlich verfügt die Netzhaut der Vögel über »Sehgruben« mit besonders vielen Sehzellen, die das Auflösungsvermögen nochmals auf das Achtfache verdoppeln. Vom Wanderfalken weiß man, dass er auf eine Entfernung von drei Kilometern seine Beutetiere scharf im Blick haben kann. Der Bienenfresser erkennt eine Biene immerhin schon auf 60 Meter. Der Scharfsehbereich, der beim Menschen mit 2,5 Grad angegeben wird, liegt bei Vögeln bei respektablen 20 Grad. Auch vermögen die Vögel mehr Bilder pro Sekunde wahrzunehmen. Möglich macht es ein zusätzlicher Rezeptor, der speziell Bewegungen registriert und uns Menschen fehlt. Eine besondere Herausforderung ist das Sehen unter Wasser. Wie lösen Wasservögel dieses Problem? Schwäne und Enten beispielsweise haben eine lichtdurchlässige Nickhaut unter dem Augenlid. Diese Haut schließt sich unter Wasser von unten nach oben, schützt die Hornhaut des Auges und sorgt für einen klaren Blick.
Viele Vogelarten können mit einer perfekten Rundumsicht von 360 Grad aufwarten. Es sind jene Arten, die unter einem hohen Verfolgungsdruck durch Raubtiere stehen. Schnepfen gehören zu diesen sogenannten Fluchtvögeln. Ohne ihren Kopf bewegen zu müssen, haben sie ihre Umgebung wie eine 360-Grad-Kamera ständig im Blick und können so die Annäherung von Feinden frühzeitig erkennen. Möglich ist diese Fähigkeit durch die seitliche Anordnung der Augen. Fast genauso umsichtig sind die Singvögel, sie haben immerhin ohne Kopfdrehung ein Gesichtsfeld von über 300 Grad zur Verfügung. Anders die gefiederten Jäger, sie haben ihre Augen nicht seitlich, sondern in mittiger Anordnung und verfügen dadurch über ein gutes räumliches Sehen. Dazu gehören die Eulen mit ihrem starren Blick. Sie erweitern ihren eingeschränkten Sehwinkel durch Drehbewegungen des Kopfes, mit denen sie 270 Grad abdecken können. Hilfreich ist dabei die extrem flexible...
Erscheint lt. Verlag | 28.1.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | Albatrosse • Amseln • Artenschutz • Artensterben • Artenvielfalt • Birding • Das geheime Leben der Bäume • Dörfler • Drossel • Eichelnhäher • Elstern • Enten • Federn • Finken • Gänse • Garten • Gefühle • Glück • Kraniche • Natur • Naturschutz • Rotkelchen • Singvogel • Soziale Fähigkeiten • Sterben • Umweltschutz • Vögel • Vogelbeobachtung • Wald • Wohlleben |
ISBN-10 | 3-446-26357-8 / 3446263578 |
ISBN-13 | 978-3-446-26357-4 / 9783446263574 |
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