Der Weg aus dem Nichts (eBook)

Die Autobiographie

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-562022-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Weg aus dem Nichts -  Bubi Scholz
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Der erfolgreiche Berliner Boxer Gustav »Bubi« Scholz war in den fünfziger und sechziger Jahren Inbegriff für den Wiederaufstieg Deutschlands aus dem Nichts. Geboren im Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg, aufgewachsen in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs, boxte er sich buchstäblich nach oben. Nach dem Ende seiner Karriere allerdings führte sein Lebensweg ebenso schnell wieder nach unten. Alkoholprobleme und die Unfähigkeit mit der Popularität fertigzuwerden, endeten in der öffentlich sichtbaren Katastrophe: 1984 erschoß Gustav Scholz seine Frau und mußte für 6 Jahre ins Gefängnis. Sein 1980 erstmals erschienener, hier unverändert vorgelegter Lebensbericht »Der Weg aus dem Nichts« ist ein bis heute höchst lesenswertes Zeitdokument. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Bubi Scholz wurde 1930 im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg geboren. Er starb 2000.

Bubi Scholz wurde 1930 im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg geboren. Er starb 2000.

1.


Als die Scheinwerfer mich packten, die vier bleichen Lichtfinger aus dem im Dunkel mehr erahnten Massiv der Tribüne des Berliner Olympiastadions, ließ ich automatisch den Kopf etwas nach vorn fallen und begann mit einer Art reduziertem Schattenboxen. Tänzelnd, mit dem Oberkörper pendelnd und angedeutete rechte und linke Haken schlagend nähere ich mich dem Ring. Das hält die Kampfmaschine auf Touren, läßt das Blut zirkulieren und die Zuschauer wohlig aufseufzen! Gleich, ein paar Minuten noch, dann geht’s los.

Mir ist das, wenn man heraus war aus der Zelle, wie ich die Kabine in der letzten Stunde vor dem Fight immer empfunden und genannt habe, immer wie der Beginn der Show vorgekommen, dieser erste Blickkontakt mit dem vollen Haus oder dem überfüllten Stadion. In Film- und Fernseh-Studios ist das genauso, wenn es endlich »Achtung, Aufnahme!« heißt.

Nur, daß vor den Kameras das Drehbuch festliegt: da ist man der Gute oder der Böse, die Schöne oder die Intrigante. Beim Boxen dagegen hat man noch eine Minute oder weniger zum Ring, und keiner weiß so richtig: bist du Held, oder bist du Opfer, gehst du diese albernen paar Meter zurück als Star mit der sonnigen Zukunft oder als Arbeitsloser? An die Trage, die da in der Nähe für den Berufsunfall bereit steht, gar nicht zu denken.

Reiß dich zusammen, Bubi, zuviel Phantasie schadet in diesem Geschäft! Das belastet nur.

Die vier Scheinwerfer, die mich grell beleuchten, haben am anderen Ende des Stadion-Dachs vier Brüder. Die treiben das Spiel mit Charles Humez, dem französischen Mittelgewichts-Europameister, mit dem ich gleich um den Titel boxen werde. Was der wohl denkt? Einmal hat er ja schon die Entscheidung der Punktrichter gegen mich bekommen. Meine einzige Niederlage … Naja, in Paris.

Je näher wir an den Ring kommen, desto näher rückt der Konvoi meiner vier Begleiter an mich heran: mein Trainer Lado Taubeneck, der wache Freddy Teichmann, mein Chauffeur, Telefonist, Sparringspartner, eben Mädchen für alles in den letzten Wochen, Manager Fritz Gretzschel und der in Paris lebende Emigrant Max Stadtlander, Gretzschels Interessenvertreter. Sie agieren, obwohl sie viel kurzatmiger sein müßten als ich, wie emsige Geleitschiffe, die einen Schirm bilden. Schade, daß sie mich beim Rendezvous mit Monsieur Humez nicht auch so hingebungsvoll schützen können.

Während ich mechanisch den Kreislauf auf Touren halte – rechte Haken, zweimal, kurz die Linke hinterher –, steigt mir scharfer Eukalyptus-Duft in die Nase. Schweiß und Massagealkohol, die unverkennbare Duft-Komposition, parfum boxeur oder wie das heißen mag, wenn sie mich verstehen, Monsieur Humez. Aber um mein Französisch geht’s ja nicht heute abend. Da würde ich lieber nicht in den Ring steigen, Monsieur. Man muß wissen, wann man aufgibt. 30000 sind an diesem 4. Oktober 1958 ins Olympia-Stadion gekommen, und es ist phantastisch, wenn man im Zotteltrab auf so eine Riesen-Masse Mensch zuläuft. Das murmelt und raunt und wird immer stärker, als ob man in tiefer Nacht auf das Meer zugeht: erst ist es nur ein einziger Geräuschbrei, dann hört man die Brandung heraus, und zuletzt jede Welle, wie sie an den Sand klatscht. Und dann hat man nasse Füße und weiß: Hallo, das ist es.

Jetzt habe ich, zwischen Gretzschels Bauch und Taubenecks Tasche mit den Sekundanten-Utensilien, doch einen Bekannten entdeckt: Wolfgang Müller steht da, der mit Neuss, dem anderen Wolfgang, dem Mann mit der Pauke, gerade den Riesenerfolg mit dem Wirtshaus im Spessart hat, ein Film, der in allen Kinos läuft. Er steht da mit einem Kollegen, an den Namen kann ich mich nicht erinnern, aber er hat auch eines dieser Schauspieler-Gesichter, die zivil ohne Schminke irgendwie nackt aussehen.

Im Vorbeitänzeln klopfe ich ihm auf die Schulter und flachse ihn an: »Heute abend wird mal nicht vom Theater gequatscht, das Thema ist Boxen!« Wolfgangs unvergleichliche Komödianten-Visage, die mit den nach der Pointe abrupt hochgezogenen Augenbrauen zum Ausrufezeichen werden kann – Begriffen!? Dann klatscht gefälligst! –, gerät aus den Fugen. Jetzt sieht er aus wie ein leibhaftiges Fragezeichen der Ratlosigkeit. Noch Jahre später nannte er mich den Boxer mit der größten Chuzpe.

Neben mir murmelt Gretzschel etwas, was ich nicht verstehe. »Lausekopp!« wird’s wohl gewesen sein, oder vielleicht »Abgebrühtes Frettchen!« Manager-Jargon, den ich seit Jahren kenne.

Die Regie scheint zu klappen. Wir kommen an den ersten Reihen vorbei, 30 oder 40 Meter vor Charles Humez, wie es sich gehört: er ist der Gast, er ist mit 31 drei Jahre älter als ich, und er ist schließlich – noch! – der Titelverteidiger, der Ranghöhere. Nix faux pas, Monsieur, nix in Berlin. Na ja, Französisch. Geboxt wird wenigstens international, und da, Pardon, Monsieur, bin ich perfekt!

Als ich die erste Stufe zum Ring hinaufklettere, gibt es den vorprogrammierten Beifalls-Sturm (wenn ich nicht selbst schreiben müßte, würde ich Orkan sagen). Keiner sitzt auf seinen Händen, als ich, zweifarbiger rundlicher Teddybär in grünen Trainingshosen und blauem, vom Stallgefährten Uli Nitschke noch schnell ausgeliehenen Bademantel über dem eigenen weißen, in die Ringmitte steppe und mit meiner Vorstellung beginne.

30 Sekunden später ist Humez da, und der Applaus bekommt nun Akzent: schließlich ist Berlin alliiert besetzt, und wer von der französischen Garnison nicht gerade Dienst schiebt, will den Löwen von Flandern erleben. Am liebsten, wie er im Ring den Bubi aus Berlin zerreißt.

Ich gehe hinüber in die Ecke von Charles Humez und lächele ihn an. Hinter ihm stehen Marcel Petit, sein Trainer, und der Korse Philippe Filippi. Das ist sein Manager, von dem man an der Gerüchtebörse des internationalen Boxens tolle Dinge flüstert über seine Beziehungen zu geheimen Unterwelt-Organisationen. Filippi und Petit haben Mienen aufgesetzt, die man eigentlich für die Beerdigung eines ehrenwert-lästigen Konkurrenten reservieren sollte. Humez ist infiziert von dieser Stimmung.

Erst als ich, und ich strapaziere jetzt zum letzten Male mein nur in homöopathischen Dosen vorhandenes Französisch, zu Humez »Merde!« sage, was in diesem Falle nicht »Scheiße!«, sondern »Viel Glück!« oder »Toitoi!« bedeutet, reißt sein kantiges Gesicht mit den blauschwarzen Bartstoppeln zu einem Lächeln auf. Den Zahnschutz hat er noch nicht im Mund, und ich sehe die breite Lücke, wo mindestens zwei Zähne fehlen. Er sieht so friedlich aus wie ein altgedienter Pirat unmittelbar vor dem Enterkommando.

Ich gehe zurück in meine Ecke, zu Taubeneck, dem Chefsekundanten, und Freddy Teichmann, dem zweiten Mann. Ich setze mich auf meinen Schemel, lehne den Oberkörper gegen die in der Ringecke gespannte Matte und stelle die Beine entspannt vor mich. Das ist Routine, das hilft der Blutzirkulation. Freddy Teichmann lockert den breiten Hosenbund: das lenkt ab, ist gut für die Psyche. Es atmet sich leichter. Tausendfach geübte, mechanische Handgriffe sind das. Taubeneck geht in die Ringmitte, wo der italienische Ringrichter Tinelli auch Petit zum Auslosen der Handschuhe – wie es die Regeln der Europäischen Box-Union vorschreiben – hinbeordert hat.

Tinelli ist schön. Er ist vielleicht 40, der Typ des Roman Lover, braungebrannt, mit pechschwarzen Haaren und vollen Lippen.

Er ist so umwerfend, daß ich mich frage, warum sie ihn nicht längst in die römischen Filmstudios geholt haben, damit sich die Lollo und die Loren um ihn reißen. Ein großer Italiener. Er überragt uns fast um Haupteslänge.

Dann sehe ich wieder hinunter, in die Menschenmenge, die da um den Ring sitzt. Berlins Regierender, der hieß damals noch Willy Brandt, ist da. Die Prominenz des Boxens, die Aktuellen und die Ehemaligen wie Gustav Eder, Walter Neusel und natürlich der Größte von allen, Max Schmeling.

Meine Freunde aus der Zelluloid-Branche: Wolfgang Müller habe ich schon gesagt, sein Partner Neuss, der Regisseur Alfred Weidenmann, Canaris hat er gedreht und den Bundesfilm-Preis bekommen, Wolfgang Preiss, Harald Juhnke, O.E. Hasse, Uschi Lingen, Kurt Meisel. – Freunde, Bekannte und Prominente, zu deren Premieren ich gegangen war und die nun zu meiner Gala gekommen sind. Natürlich kann ich sie nicht alle sehen. Es interessiert mich auch in dieser Phase nicht. Aber die Presse war voll davon, wer, mit wem und wie gekleidet am Ring sein würde.

Irgendwo sitzt Curd Jürgens und wirft diese Blicke aus blauen Augen, Lassos für Frauenherzen, diskret in die Nachbarschaft. Diskret, weil seine junge Frau Simone Bicheron sich an ihn schmiegt, vielleicht zum ersten Mal nicht in Harmonie mit Curd – schließlich ist sie Französin und Humez Franzose.

Die Hauptkämpfer stehen immer im Blickpunkt. Aber vor so einem großen, einem so entscheidenden Kampf schauen die Tausende besonders fasziniert auf die Akteure im Ring, und da ist sicherlich viel Rätselhaftes und auch falsch Hinein-Interpretiertes, was die letzten Minuten vor dem ersten Gong angeht. Da sitzt ein Humez, da sitzt ein Scholz, umsorgt werden sie wie die Neugeborenen, da wird hantiert und geflüstert in der Ecke und vermutet rund um den Ring. Aber was passiert eigentlich in diesen letzten Sekunden?

Da passiert nichts, worüber man sich den Kopf zerbrechen oder wozu man die Phantasie bemühen müßte. Alles ist sichtbar: Hände werden bandagiert mit Mullbinden und die werden wiederum sorgsam mit Leukoplast befestigt, Handschuhe werden übergestreift und ordentlich verschnürt. Ordentlich, das...

Erscheint lt. Verlag 23.2.2018
Übersetzer Wolfgang Fricke
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Alkoholismus • Amerika • Auto • Autobiografie • Berlin • Boxen • Boxer • Brauerei • Bubi Scholz • Charles Humez • Deutschland • Europameisterschaft • Fritz Gretzschel • Gefängnis • Gustav Scholz • Helga Druck • Kampf • Lado Taubeneck • New York • Olympia • Paris • Personenregister • Peter Müller • Polizei • Prenzlauer Berg • Sachbuch • USA • Wiederaufbau • Zigarette • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-562022-2 / 3105620222
ISBN-13 978-3-10-562022-9 / 9783105620229
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