Der Duft der Verführung (eBook)

Das unbewusste Riechen und die Macht der Lockstoffe

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
284 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561984-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Duft der Verführung -  Lyall Watson
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Warum entscheiden oft Sekunden darüber, dass wir manche Menschen unwiderstehlich finden und andere nicht riechen können? Warum erinnert uns der Duft eines bestimmten Parfums an eine verflossene Liebe? Und warum haben wir für manche Dinge buchstäblich den richtigen Riecher, eine Art »sechsten Sinn«? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Lyall Watson, geboren 1939 in Südafrika, promovierte an der Universität von London in Biologie. Er war u.a. Direktor des Zoos von Johannesburg, Filmautor bei der BBC und Leiter zahlreicher Expeditionen. Watson starb 2008.

Lyall Watson, geboren 1939 in Südafrika, promovierte an der Universität von London in Biologie. Er war u.a. Direktor des Zoos von Johannesburg, Filmautor bei der BBC und Leiter zahlreicher Expeditionen. Watson starb 2008.

Teil Eins System in die Dinge bringen


Die hochgestellten
Ziffern verweisen auf
die Bibliographie

Riechen ist unser vergessener Sinn. Es gibt keine allgemein akzeptierten Messwerte seiner Eigenarten, keine Gesellschaft, die ihn angemessen würdigt, und keine Wörter, die ihn beschreiben, abgesehen von jenen, die wir uns von unserem alles beherrschenden Sehsinn borgen.

Riechen ist unser verführerischster und provokativster Sinn. Er bestimmt jeden Bereich unseres Lebens mit und stellt das mächtigste aller Verbindungsglieder zu unseren weit zurückliegenden Ursprüngen her. Doch dieser Sinn ist ebenso stumm, wie fast vollständige Sprachlosigkeit ihm gegenüber herrscht. Er trotzt allen Beschreibungen und Überprüfungen und fordert damit unsere Phantasie heraus. Dass er nicht völlig sprachlos geblieben ist, verdanken wir einigen wenigen aufopfernden Versuchen, an ihm festzuhalten. Und die begannen mit der Arbeit eines sehr auf Ordnung bedachten Schweden.

Carl von Linné (17071778) war der Große Indexator. Er hatte an der Universität von Uppsala Medizin studiert, obwohl sein Herz schon immer der Botanik gehörte. Seine Naturforschungen, die er mit einer Studie über alle Blütenpflanzen Lapplands begann, beendete er 1737 mit Hilfe eines revolutionären neuen Begriffsbestimmungsund Beschreibungsschemas für jede nur denkbare Spezies. Und während der folgenden zwanzig Jahre, bis zur Veröffentlichung seiner Systema naturae, in dem er alles verzeichnete, was ihm unter die Augen kam, erweiterte er seine Naturgeschichte derart, dass er damit ein für alle Mal unser Denken über die Welt um uns veränderte.114

Den Dingen einen Namen zu geben verleiht uns Macht über sie – die Macht, sie aus der Natur auszugliedern. Diese Separation ist zwar künstlich, aber außerordentlich nützlich, denn sie erlaubt es uns zum Beispiel, für einen Augenblick den Baum zu vergessen und uns stattdessen auf die Komposition und Koexistenz des Waldes zu konzentrieren. Namensgebung ist ein erster entscheidender Schritt, um die Ökologie zu begreifen. Linné wandte diese Kunst in seinem Eifer, die gesamte lebende Existenz zu katalogisieren, sogar auf die unfassbare Welt der Gerüche, Düfte und des Gestanks an. Es gibt, so entschied er, sieben Geruchshauptklassen, vom Wohlgeruch bis hin zum Gestank, von solchen, die »nicht nur unseren Nerven, sondern dem Leben im Allgemeinen freundlich gesonnen sind«, bis hin zu solchen, die »alles Lebendige abstoßen«.115

1752 veröffentlichte Linné sein Werk Odores medicamentorum. Im Verlauf der folgenden zweieinhalb Jahrhunderte gab es Dutzende Versuche, dieses System aus den Blickwinkeln der Psychologie, Chemie, Physiologie oder Riechstoffkunde weiterzuentwickeln. Einige dieser weiterführenden Untersuchungen erwiesen sich zwar für die Chemiker der Kosmetik- und Parfumindustrie von Nutzen, doch selbst die ausgeklügeltsten neuen Taxonomien sind letzten Endes nicht zufrieden stellend und widersprüchlich, da sie zum einen alle an der Zufälligkeit scheitern, die den meisten Gerüchen anhaftet, und zum anderen der Tatsache unterliegen, dass es jeder Sprache dieser Welt an einem spezifischen Vokabular für den Akt des Riechens mangelt.115

Es gibt weder semantische Traditionen noch kritische Forschungen über Ursprung und Funktion all der Begriffe, die Sprachen für die Beschreibung von Gerüchen verwenden. Und in keiner Kultur sind Lernprozesse feststellbar die unmittelbar vom Geruchssinn geprägt wären. So muss auch ich ständig, Geruch für Geruch, auf die Klassifikationen jenes Mannes zurückgreifen, den der Romancier John Fowles einmal »den großen Lagerverwalter der Natur« nannte.57 Sie sind in der Tat nicht nur hilfreich, sondern ergeben auch überraschend tief greifenden Sinn, folgt man dem Duftspiel der Fragrantes (wohlriechend), Hircinos (aufreizend), Ambrosiacos (verführerisch), Tetros (faulig), Nauseosos (Ekel erregend), Aromaticos (duftend) und Alliaceos (knoblauchartig).

 

Linné war sehr viel mehr als nur ein Ordnungsfanatiker. Er war ein meisterhafter Organisator, der Lebendiges in all seiner Unbändigkeit und Erscheinungsform sortierte und systematisierte. Mit seiner wunderbaren Intuition erfand er Namen und erschuf Muster, die im Prinzip bis heute ihre Gültigkeit behalten haben und dazu beitragen, Zusammenhänge und Verwandtschaften dort zu verdeutlichen, wo sie auf den ersten Blick niemand vermuten würde. Er bereicherte unsere Sicht mit Einsicht und ermöglichte uns spannende Einblicke in den Göttlichen Plan. Und nicht zu vergessen: Er war es auch, der unseren Platz in der Natur bestimmte und uns als sapient einordnete, also zu Lebewesen erklärte, die zwar nicht gerade weise, aber – angemessen bescheiden – »vernunftbegabt« sind und daher vielleicht einmal zur Weisheit gelangen könnten.

Für die Ongee auf den Andamanen, einer Inselgruppe im Bengalischen Meerbusen, ist der Geruchssinn nichts Eigenständiges, sondern ein fundamentales kosmisches Prinzip und Urquell jeder individuellen Identität. Ihm ist das Entstehen wie das Vergehen von Leben zu verdanken. Wenn die Ongee – oder auch die modernen Japaner – »ich« meinen, legen sie den Zeigefinger auf die Nasenspitze. Denn dort wohnt der Geist, und ist dieser zu groß oder klein, kann das zu Problemen führen. Gesund ist der Mensch, der seinen eigenen Geruch »gebändigt« hat, wohingegen der vollständige Verlust des Eigengeruchs zum Tode führen kann.29

Die Vorstellungen von Leben und Atmen, Seele und Geruch sind in vielen Kulturen untrennbar miteinander verwoben. Einige Mexikaner glauben noch heute, dass der Atemgeruch eines Mannes mehr zu seiner Zeugungsfähigkeit beiträgt als sein Samen. Und auf den Andamanen kommunizieren die Menschen sogar unmittelbar über Gerüche, eine Tradition, die sie »mineyalange« nennen, was wörtlich »sich erinnern« heißt.

Nichts prägt sich mehr ins Gedächtnis ein als Gerüche. Man kann fragen, wen man will, wer sich an das Haus seiner Kindheit oder an einen Jugendfreund erinnern soll, wird nur vage Details vor Augen haben. Doch der kleinste Hauch irgendeines vertrauten Dufts genügt und schon fließen die Erinnerungen, und zwar nicht peu ä peu, sondern als etwas Ganzheitliches mit allen Aspekten. Auf wundersame Weise tauchen sämtliche Gerüche der einstigen Erlebniswelt geradezu explosionsartig wieder auf, so wie Diane Ackerman einmal schrieb: »Eine komplexe Vision schießt aus dem Unterholz hervor.«1

Ganz genauso geschieht es. Vielleicht, weil der Geruchssinn der Einzige ist, den man nicht abstellen kann. Man kann die Augen schließen, sich die Ohren zuhalten oder sich davon abhalten, etwas zu berühren oder zu kosten. Doch wir riechen ständig und mit jedem Atemzug, zwanzigtausendmal am Tag. Und wenn ich mit meinen Vermutungen über das Jacobson-Organ richtig liege, dann werden diese Informationen nicht in der grauen Masse des bewussten Gehirns gespeichert, denn das ist viel zu beschäftigt mit den Dingen des Augenblicks, sondern im Langzeitgedächtnis, in jenen Hirnregionen also, die mehr von Sensibilitäten als reinen Empfindungen gespeist werden – und es besteht in der Tat ein großer Unterschied zwischen Empfindungsvermögen und Sensibilität. Da sich nun meine Überlegungen über die Existenz eines sechsten Sinnes auf mehrere Möglichkeiten von olfaktorischer Erfahrung erstrecken, sollte ich aber erst einmal etwas über die grundlegenden Funktionsweisen des Geruchssinns sagen.

 

Nasen sind auffällig. Sie sind der Mittelpunkt unseres Gesichts, ragen in die Welt hinaus und ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Wir gehen immer der Nase nach, stecken sie in anderer Leute Angelegenheiten und laufen ständig Gefahr, auf sie zu fallen.

Wir atmen durch die Nase und wärmen darin die eingehende Luft. Doch für diesen Vorgang hätte jede Art von simpler Öffnung genügt. Stattdessen haben wir ein hervorstechendes Profil, eine Art Dach, das von einem ausgesprochen zweckdienlichen Knorpel gestützt wird. Es hält den Regen ab, leitet beim Schwimmen das Wasser um und verleiht unserer Sprache Resonanz. Funktionell betrachtet ähnelt die Nase am ehesten einer Gebläsehaube, vergleichbar einem Luftansaugstutzen, wie er auf Bootsdecks zu finden ist. Sie ragt über den direkt am Gesicht herrschenden Geruchswirrwarr hinaus und vermeidet somit beim Erschnuppern von Informationen den Eigengeruch. Wer Wache stehen und Gefahr wittern soll – für gewöhnlich Männer –, braucht folglich auch eine deutlich größere Nasenstruktur.

Im Inneren sind unsere Nasen jedoch alle gleich. Alle führen in zwei durch das Septum getrennte Hohlräume, überraschend große Gewölbe, die im Schädel beinahe ebenso viel Platz beanspruchen wie unser berühmt großes Gehirn. Ein Großteil davon dient als eine Art Airconditioner, der von dünnen, spiralförmigen Knochen in drei horizontale Kammern unterteilt wird und von Gewebe umhüllt ist, das sich je nach Motiv und Anlass ausdehnt oder zusammenzieht. Der Luftstrom durch das rechte und linke Nasenloch, zwei eher alternierende als parallele Passagen, in denen ständig turbulente Bedingungen herrschen, ist also selten gleich. Aber das hat vielleicht einen guten Grund.

Hoch oben an der Decke der beiden oberen Kammern, in etwa auf Höhe der Augenbrauen, befindet sich jeweils eine Spalte mit gelblichem Gewebe. Jedes davon ist nur einen Quadratzentimeter groß. Zusammengeschoben würden sie auf eine Briefmarke passen, dennoch sind beide mit Millionen von fadenartigen Sinneszellen ausgestattet. Und genau dort werden Gerüche aufgegriffen.

Dass...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2018
Übersetzer Yvonne Badal
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft Bewerbung / Karriere
Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Aasblume • Aeroplankton • Afrika • Ambrosia • Bibliographie • Carl von Linné • Eigengeruch • Frankreich • Geruch • Gerüche • Geruchsgruppe • Geruchssinn • Gestank • Harry Wiener • Helen Keller • Lockstoffe • London • Madagaskar • New York • Parfum • Pharmabetrieb • Pheromon • Riechen • Riechepithel • Robert Johnson • Sachbuch • Säugetier • Taxonomie • Watson Lyall • Wohlgeruch
ISBN-10 3-10-561984-4 / 3105619844
ISBN-13 978-3-10-561984-1 / 9783105619841
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