Heidegger und der Nationalsozialismus (eBook)

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2017 | 1. Auflage
440 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561794-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Heidegger und der Nationalsozialismus -  Victor Farías
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Das Buch von Farías ist »explosiv« nicht durch Polemik, sondern kraft der Fakten und Informationen, die es versammelt. Es argumentiert mit Daten und Dokumenten. Es verbreitet nicht Verdächtigungen, sondern rückt Ereignisse und Sachverhalte ins Licht. In strenger Chronologie folgt der Autor dem Lebenslauf und der akademischen Laufbahn von Heidegger und bezeichnet ihre direkten oder indirekten Berührungen mit den tagespolitischen und hochschulpolitischen Herrschaftspraktiken des NS-Regimes. Das so entfaltete Archivmaterial schärft die Aufmerksamkeit nicht nur für den »Fall Heidegger«, sondern auch für die Rolle des Intellektuellen im Gemeinwesen gestern, heute und morgen. Es stellt, wieder einmal, die Verführbarkeit des Denkens durch die Macht vor Augen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Victor Farías, 1940 in Santiago de Chile geboren, studierte Philosophie und Germanistik an der katholischen Universität von Chile. In den sechziger Jahren ging er nach Freiburg und schloß sich dort dem Kreis um Martin Heidegger an. Ab 1974 lehrte und forschte er am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.

Victor Farías, 1940 in Santiago de Chile geboren, studierte Philosophie und Germanistik an der katholischen Universität von Chile. In den sechziger Jahren ging er nach Freiburg und schloß sich dort dem Kreis um Martin Heidegger an. Ab 1974 lehrte und forschte er am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.

Jürgen Habermas

Heidegger – Werk und Weltanschauung


I.


In seiner vorzüglich kommentierten Bibliographie zu Heideggers Schriften leitet W. Franzen den Abschnitt »Heidegger und der Nationalsozialismus« mit den Worten ein: »Inzwischen gibt es auch in der Bundesrepublik eine ganze Reihe von einschlägigen Beiträgen zum ›Fall Heidegger‹ […] Eine wirklich offene und unverkrampfte Diskussion hat aber bis heute, zumal im ›Lager‹ der Heidegger-Schule selbst, kaum stattgefunden.« Das war 1976.[1] Diese Situation hat sich geändert. Unter anderem gaben die 1983 (zusammen mit der wieder aufgelegten Rektoratsrede) veröffentlichten Notizen, in denen Heidegger aus der Sicht von 1945 sein politisches Verhalten von 1933/34 rechtfertigt, einen Anstoß zur erneuten Diskussion.[2] Vor allem Arbeiten des Freiburger Historikers Hugo Ott[3] und des Heidegger seit Jahrzehnten nahestehenden Philosophen Otto Pöggeler[4], aber auch Löwiths (im Jahre 1940 aufgezeichneter) Bericht über eine Begegnung mit Heidegger in Rom während des Jahres 1936[5] brachten neue Tatsachen ans Licht. Zudem gestattet die inzwischen fortschreitende Gesamtausgabe der Heideggerschen Schriften bessere Einblicke in die immer noch nicht vollständig publizierten Vorlesungen und Niederschriften aus den dreißiger und vierziger Jahren.[6] Gleichwohl bedurfte es der Anstrengungen eines chilenischen Kollegen, damit auf dem Umwege einer Übersetzung aus dem Spanischen (und mit Rückgriff auf die französische Ausgabe) nun auch bei uns eine politische Biographie Heideggers greifbar ist. Die Verfremdung durch den Blick eines Ausländers ist wohl die angemessene Antwort auf die von Franzen hierzulande beobachtete Verkrampfung. Die dadurch erklärbare Distanz mag meinen Versuch rechtfertigen, diese Arbeit, die für sich selbst sprechen muß, auf den aktuellen deutschen Kontext zu beziehen.

Aus der Sicht eines zeitgenössischen deutschen Lesers ist vorweg eine Überlegung wichtig. Die Aufklärung über das politische Verhalten Martin Heideggers kann und darf nicht den Zwecken einer pauschalen Herabsetzung dienen. Als eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte unterliegt Heidegger dem Urteil des Historikers wie jeder andere. Auch in diesem Buch kommen Handlungen und Verhaltensweisen zur Sprache, die eine distanzierte Einschätzung des Charakters nahelegen. Aber als Nachgeborene, die nicht wissen können, wie sie sich unter Bedingungen der politischen Diktatur verhalten hätten, tun wir gut daran, uns in der moralischen Bewertung von Handlungen und Unterlassungen während der Nazi-Zeit zurückzuhalten. Karl Jaspers, der Freund und Generationsgenosse, war in einer anderen Position. In einem Gutachten, um das ihn der ›politische Bereinigungsausschuß‹ der Freiburger Universität Ende 1945 gebeten hatte, urteilt er über Heideggers ›Denkungsart‹: sie erscheine ihm »ihrem Wesen nach unfrei, diktatorisch, communikationslos«.[7] Dieses Urteil ist für Jaspers selbst nicht weniger charakteristisch als für Heidegger. Jaspers läßt sich bei solchen Urteilen, wie man an seinem Buch über Schelling nachprüfen kann, von der strengen Maxime leiten, daß sich der Wahrheitsgehalt einer philosophischen Lehre in Mentalität und Lebenszuschnitt des Philosophen spiegeln müsse. Diese rigorose Auffassung der Einheit von Werk und Person scheint mir der Autonomie des Gedankens und erst recht seiner Wirkungsgeschichte nicht gerecht zu werden.[8] Damit leugne ich keineswegs jeden internen Zusammenhang zwischen dem philosophischen Werk und seinem biographischen Entstehungskontext – auch nicht das Maß an Verantwortung, das ein Autor trägt, der zu seinen Lebzeiten auf nicht-intendierte Folgen seiner Äußerungen immerhin reagieren kann.

Heideggers Werk hat sich aber längst von seiner Person gelöst. Mit Recht beginnt Herbert Schnädelbach seine Darstellung der Philosophie in Deutschland mit dem Hinweis, daß »unser heutiges Philosophieren maßgeblich von den Impulsen bestimmt [ist], die damals von Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1921), Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) und Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) ausgingen«[9]. Mit Sein und Zeit hatte sich Heidegger gleichsam über Nacht als ein Denker von Rang zur Geltung gebracht. Auch fernerstehende Kollegen wie Georg Misch erkannten sofort den »langen Atem« und das »handwerkliche Können« eines richtungweisenden Philosophen. Tatsächlich hat Heidegger auf originelle Weise die konkurrierenden Denkbewegungen der Diltheyschen Hermeneutik und der Husserlschen Phänomenologie derart ein- und umgeschmolzen, daß er die pragmatistischen Motive eines Max Scheler aufnehmen und in eine historisierende Überwindung der Subjektphilosophie einbringen konnte.[10] Dieser neue Einsatz des Denkens war um so verblüffender, als er zu erlauben schien, die klassischen Fragestellungen der Aristotelischen Metaphysik mit den virulenten Motiven der Kierkegaardschen Existenzdialektik zu besetzen. Noch von heute her gesehen bildet dieser neue Anfang den wohl tiefsten Einschnitt in der deutschen Philosophie seit Hegel.

Während die in Sein und Zeit durchgeführte Detranszendentalisierung des weltkonstituierenden Ich ohne Beispiel war, bildete die später einsetzende, an Nietzsche anknüpfende Vernunftkritik das schon eher zu erwartende idealistische Gegenstück zu einer materialistischen, zwar noch Hegel verhafteten, aber Marx mit Weber produktiv verbindenden Kritik der verdinglichenden oder instrumentellen Vernunft. Den Reichtum an Einzelanalysen, die unter anderem die ontologischen Prämissen neuzeitlichen Denkens freigelegt haben, hat Heidegger mit der Einengung des Blicks auf die Dimension einer im ganzen unbedenklich stilisierten Geschichte der Metaphysik bezahlt. Diese Abstraktion von gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen hatte Folgen für Heideggers sozialwissenschaftlich ungefilterten Zugriff auf kursierende Zeitdeutungen. Je mehr die reale Geschichte hinter der »Geschichtlichkeit« verschwand, um so leichter konnte sich Heidegger auf einen naivprätentiösen Gebrauch von ad hoc aufgegriffenen Gegenwartsdiagnosen einlassen.

Mit seiner detranszendentalisierenden und seiner metaphysikkritischen Denkbewegung hat Heidegger, dessen Werk gewiß kritisiert, dessen Stellung aber während der dreißiger und vierziger Jahre unangefochten blieb, an deutschen Universitäten eine ununterbrochene Wirkung ausgeübt. Diese schulbildende Wirkung reicht bis in die späten sechziger Jahre. Ihr Gewicht ist gut dokumentiert in einem Sammelband mit »Perspektiven zur Deutung seines Werkes«, den O. Pöggeler zu Heideggers 80. Geburtstag ediert hat.[11] Während der lange anhaltenden Latenzperiode der Bundesrepublik bis zum Beginn der sechziger Jahre behielt die Heidegger-Schule eine beherrschende Stellung; daß dann auch die analytische Sprachphilosophie (mit Wittgenstein, Carnap und Popper) und der westliche Marxismus (mit Horkheimer, Adorno und Bloch) an deutschen Universitäten wieder Fuß faßten, bedeutete nur eine verspätete Normalisierung der Verhältnisse.

Noch bedeutsamer als der akademische Einfluß auf mehrere Generationen von Schülern ist die inspirierende Ausstrahlung von Heideggers Werk auf selbständige Geister, die einzelne Motive herausgreifen und in eigenen Zusammenhängen systematisch fruchtbar machen. Der frühe Heidegger hat in dieser Art zunächst auf die Existenzphilosophie und phänomenologische Anthropologie von Sartre und Merleau-Ponty eingewirkt. In Deutschland gilt ähnliches für die philosophische Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer. Produktive Fortbildungen hat es auch in meiner Generation gegeben, beispielsweise bei Karl-Otto Apel, Michael Theunissen und Ernst Tugendhat.[12] Heideggers Vernunftkritik ist stärker in Frankreich und in den USA aufgenommen worden, so von Jacques Derrida, Richard Rorty und Hubert Dreyfuß.

Das fragwürdige politische Verhalten eines Autors wirft auf sein Werk gewiß einen Schatten. Aber das Heideggersche Werk, vor allem Sein und Zeit, hat einen so eminenten Stellenwert im philosophischen Denken unseres Jahrhunderts, daß die Vermutung abwegig ist, die Substanz dieses Werkes könne durch politische Bewertungen von Heideggers faschistischem Engagement mehr als fünf Jahrzehnte danach diskreditiert werden.

Welches Interesse kann dann aber, abgesehen vom historisch distanzierten des Wissenschaftsbetriebs, eine Beschäftigung mit Heideggers politischer Vergangenheit heute, und zwar hier in der Bundesrepublik, beanspruchen? Ich denke, daß diese Dinge unser Interesse vor allem unter zwei Gesichtspunkten verdienen. Zum einen ist Heideggers Einstellung nach1945 zu seiner eigenen Vergangenheit exemplarisch für eine Geisteshaltung, die die Geschichte der Bundesrepublik nachhaltig, bis weit in die sechziger Jahre hinein geprägt hat. Deren mentalitätsbildende Kraft reicht sogar, wie der sogenannte Historikerstreit zeigt, bis in unsere Tage.[13] Um das Symptomatische an dem verweigerten Sinneswandel, an der beharrlichen Praxis der Verleugnung ablesen zu können[14], muß man sich darüber informieren, was Heidegger bis zu seinem Tode verdrängt, beschönigt und verfälscht hat. Zum anderen...

Erscheint lt. Verlag 30.6.2017
Übersetzer Klaus Laermann
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Atheismus • Metaphysik • Nationalsozialismus • Phänomenologie • Philosophie • Rassismus • Sachbuch • Schwarzwald
ISBN-10 3-10-561794-9 / 3105617949
ISBN-13 978-3-10-561794-6 / 9783105617946
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